36.
Caths fünftes neues Outfit:
Anthrazitfarbener knielanger Rock (Hobbs)
Jadegrün und schwarz gemusterte Strickjacke (MaxMara)
Hohe schwarze Lacklederstiefel (Russell & Bromley)
Schwarze engmaschige Netzstrumpfhose (Pretty Polly)
Geschätzte Gesamtkosten: 380 £
»Ich habe über tausend Pfund ausgegeben!«
Oh ja … Wir waren zu Eds Geburtstag im Lullworth Hotel. Es war einfach hinreißend!«, zwitscherte Annie über die Freisprechanlage einer ihrer früheren Einkaufsberatungs-Klientinnen ins Ohr.
Es entsprach sogar der Wahrheit. Als sie es endlich doch noch bis zum Lullworth Hotel geschafft hatten, verbrachten sie dort eine herrliche, unvergessliche Nacht. Andererseits aber, das musste Annie zugeben, war die Nacht in Reading eindeutig auch unvergesslich.
Sie war in ihrem inzwischen reparierten Jeep unterwegs und versuchte, ihr freiberufliches Einkaufsberatungs- und eBay-Unternehmen wieder in Gang zu bekommen. Tja, zu The Store konnte sie nicht zurück, jedenfalls jetzt noch nicht. Und möglicherweise waren auch noch andere Gelegenheiten in Betracht zu ziehen. Sie hatte über Verkäuferinnen, die sie bei Harvey Nichols und Selfridge’s kannte, verbreiten lassen, dass sie eventuell Jobangeboten gegenüber aufgeschlossen wäre. Wenn es sich denn um die richtigen Angebote handelte.
Manchmal, wenn ihr Handy klingelte und sie die Nummer nicht auf Anhieb erkannte, schoss ihr durch den Kopf, Ralph, Connors Agent, könnte anrufen und ihr aus heiterem Himmel eine verblüffende neue Chance anbieten.
Doch im Grunde schalt sie sich selbst wegen dieser Hoffnungen. Wann sprangen verblüffende Gelegenheiten einen denn jemals aus heiterem Himmel an? Alles, was Annie und die, die ihr am nächsten standen, je erreicht hatten, waren Früchte endloser harter Arbeit.
Deshalb achtete sie jetzt darauf, immer gut beschäftigt zu sein. Sie telefonierte, besuchte, beschwatzte all die Frauen, die sie früher angezogen hatte, damit sie ihre Dienste wieder in Anspruch nahmen. Außerdem hielt sie gezielt Ausschau nach neuen Klientinnen. Der Einkaufstag mit Cath war ausgesprochen gut gelaufen, und Cath hatte versprochen, ihr ein paar Mitglieder des Gartenvereins zu vermitteln.
»Hast du nach deinem Fernsehauftritt Kontakt zu irgendwelchen attraktiven Männern gefunden?«, hatte Annie sie gefragt.
»Zu Fremden nicht unbedingt«, antwortete Cath schüchtern. Doch sie ließ sich nicht dazu verleiten, irgendetwas preiszugeben.
»Wenn wir uns das nächste Mal sehen«, zog Annie sie auf, »quetsche ich alles aus dir raus.«
»Das nächste Mal? Ich habe über tausend Pfund ausgegeben!«
»Ja, allmählich hast du den Bogen raus«, meinte Annie.
Sie hatte außerdem ihr eBay-Geschäft wiederbelebt und mit allem, was sie in die Finger bekommen konnte, ausstaffiert: Kleider, Schuhe und Taschen aus ihren eigenen Beständen, aus Benefizläden und den Kleiderschränken von Klientinnen; und, das Wichtigste: Sie war im Begriff, den Kontakt zu dem Schuhmacher aus Hongkong, Timi Woo, wiederherzustellen.
Im vergangenen Jahr hatte sie seine Schuhe importiert und wirklich erfolgreich bei eBay verkauft. Und vielleicht sollte sie die Frau wieder einmal aufsuchen, die Schuhe für House of Fraser gekauft hatte.
Ihre Fernsehkatastrophe würde Annie überwinden. Musste sie überwinden. Eds Ersparnisse waren aufgebraucht. Die Hypothek für diesen Monat musste bezahlt werden, die laufenden Kosten, das Schulgeld. Es war völlig sinnlos, zu Hause zu sitzen und sich den Kopf zu zerbrechen. Am besten stieg sie gleich in den Jeep, telefonierte und leierte ihren Laden wieder an. Und schlug sich jeden, aber auch jeden Gedanken an eine kleine Vorschau auf die neue Vivienne-Westwood-Kollektion gleich aus dem Kopf – und zwar bis in den hintersten Winkel ihres geistigen Sibiriens.
Mit einem Blick auf die Uhr sah Annie, dass es kurz nach 13:00 Uhr war, und sie dachte an Bob. Er hatte immer gern um Punkt 13:00 Uhr Mittagspause gemacht, ansonsten hatte er sich in den Schmollwinkel zurückgezogen und angefangen, über »dieses Mickymaus-Projekt« zu lästern.
Vielleicht lohnte es sich, ihn anzurufen und nach dem Dreharbeiten-Tratsch seit ihrem Ausscheiden auszufragen. Außerdem hoffte sie, durch ihn möglichst viel über Svetlana herauszubringen. Seit Ed Elena an ihrer Haustür abgeliefert hatte, ließ sie nicht mehr von sich hören. Annie fürchtete, dass ihre Freundschaft mit dem Glamour-Girl deswegen zu Ende war.
War es wirklich Freundschaft gewesen? Vielleicht hatte Svetlana keine Verwendung mehr für Annie. Sie brauchte sie nicht mehr zum Shoppen; zweifellos nahm sie die Dienste der neuen persönlichen Einkaufsberaterin bei The Store in Anspruch. Sie arbeitete nicht mehr mit Annie zusammen in der Show, und ihre heimliche Tochter wohnte nicht mehr bei Annie. Also bekam Annie jetzt womöglich die berühmte eiskalte Schulter der Exgattin aus Mayfair zu spüren.
Trotzdem wollte sie gern von Bob hören, wie sie alle ohne sie, Annie, zurechtkamen. Sie hoffte zu erfahren, dass die neuen Outfits der Klientinnen nicht annähernd so gut waren wie die, die sie ihnen ausgesucht hätte.
An der nächsten roten Ampel wählte sie seine Nummer und wartete, den Blick wieder auf die Straße gerichtet, auf den Klang seiner Stimme.
»Annie Valentine!«, begrüßte er sie herzlich.
»Hey, du! Vermisst du mich?«
»Natürlich!«, antwortete er und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Warte, bis du die nächsten Opfer siehst, du kugelst dich vor Lachen! Die Sendung ist absoluter Mist, sei froh, dass du raus bist! Ich würde auch gehen«, fügte er hinzu, »aber ich habe einen Vertrag für das ganze Ding, und sie müssen mich bezahlen.«
»In dieser Hinsicht habe ich wohl etwas falsch gemacht«, bemerkte Annie. »Wie geht es Marlise und Svetlana?«
»Über Miss Marlise gibt es nichts Neues, sie ist und bleibt eine blöde Kuh«, entgegnete Bob. »Svetlana dagegen, tja, sie hat anscheinend eine Menge Sorgen. Ich glaube, ihr toller Anwalt hat doch wahrhaftig die Hochzeit abgesagt. Er meint, er könne ihr nicht vertrauen und sie habe die ganze Scheidungsabfindung in Frage gestellt. Anscheinend hat sie eine verheimlichte erwachsene Tochter oder so? Die ganze Geschichte hat sie mir nicht erzählt. Ehrlich gesagt habe ich das meiste auch nur aus den Anrufen aufgeschnappt, die sie den ganzen Tag über bekommt. Sie treibt Finn in den …«
»Die Hochzeit fällt tatsächlich aus?«, vergewisserte Annie sich. Sie konnte es nicht glauben.
»Oh ja!«, bestätigte Bob.
»Nein!« Damit hatte Annie nicht ernsthaft gerechnet. Harry hatte wegen Elena mit Svetlana Schluss gemacht? Annie war fest davon ausgegangen, dass er in seiner Verliebtheit jede neue Enthüllung Svetlanas locker wegstecken würde.
Allerdings war er Anwalt, hatte einen Ruf zu erhalten, und womöglich erwies Svetlana sich als zu große Belastung. Vielleicht machte er tatsächlich einen Rückzieher.
»Oh verdammt!«, rief Annie aus. »Mit ihr wird es aber auch nie langweilig! Wie geht’s ihr? Kommt sie zurecht? Glaubt sie, dass es sich wieder einrenkt?«
»Ich weiß nicht, Kleine«, antwortete Bob. »Du kennst sie doch am besten. Frag du sie!«
»Ja …«, erwiderte Annie, aber sie war nicht so sicher. Sie würde direkt in die Schusslinie geraten, wenn sie das tat. Vielleicht sollte sie lieber noch ein paar Tage warten. Bis Elena und die Turbulenzen, die ihr überallhin folgten, sich ein wenig beruhigt hatten.
»Und was machst du so?«, wollte Bob wissen.
Annie war auf diese Frage vorbereitet. Sie musste damit fertig werden. Schrecklich viele Leute gingen davon aus, dass sie sich eine neue Karriere im Fernsehen aufbaute, und würden sie danach fragen, deshalb hatte sie eine Antwort einstudiert.
»Tja, da meine Fernsehkarriere noch nicht so richtig in Gang gekommen ist, mache ich das, was ich am besten kann: Kleidung verkaufen und Leute phantastisch aussehen lassen! Ich habe ein paar neue Eisen im Feuer«, flötete sie. Es klang ein bisschen unecht, das musste sie selbst zugeben. Egal, sie würde fleißig üben.
»Okay.« Bob wirkte nicht sehr überzeugt. »Heißt das, du wirfst das Handtuch und suchst verzweifelt nach etwas Neuem?«
»Hm … gewissermaßen.« Es erleichterte sie, sich ihm anzuvertrauen. »Aber noch atme ich, Schätzchen. Ich stehe morgens auf, ich lege mich ins Zeug. Irgendetwas wird sich finden.«
»Braves Mädchen!«, lobte er sie. »Und willst du immer noch zum Fernsehen?«
»Bisher hat es kaum Spaß gemacht«, musste sie sich eingestehen.
»Du hast die mieseste Seite kennengelernt. Und man hat dich aus großer Höhe beschissen.«
»Schätzchen, ich werde von allen Seiten beschissen«, klärte Annie ihn auf und dachte an Dave.
»Du bist gut«, fuhr Bob fort. »Du bist sogar besser als gut. Du bist ein Naturtalent. Ich werde mich mal für dich umhorchen. Okay?«
»Danke«, sagte sie, »das ist sehr lieb von dir. Und wenn du einen Rat brauchst, welche Jeans du tragen sollst oder wo du billig eine neue Lederjacke bekommst, wende dich vertrauensvoll an mich, mein Schatz!«
»Hey, ich habe auf deinen Rat gehört und meine Frau zu Mango geschickt. Ich soll dir von ihr ausrichten, dass du sie sehr glücklich gemacht hast. Als ich die Rechnung sah, war ich selbst zwar nicht so glücklich, aber …«
»Geizhals!«, scherzte Annie.