40.

Amelias Arbeitskleidung:

Grauseidenes schulterfreies Kleid (Milly)

Hellblaue hochhackige Riemchensandalen (Topshop)

Bunte Ketten (Accessorize)

Bluetooth-Freisprech-Headset (Nokia)

 

Geschätzte Gesamtkosten: 385 £

»Annie Valentine?«

Annie starrte auf die Seite in ihrer »A bis Z«-Karte von London und sah sich dann nach einem Straßenschild um.

Perry Street! Da war sie ja – ihr Ziel! Soho war ein verflixtes Labyrinth. Trotz der Karte hatte sie jetzt bereits zehn Minuten nach dieser Straße gesucht, doch ein rascher Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es nicht schlimm war, sie würde ihren Termin mit Tamsin Hinkley um 10:30 Uhr trotzdem pünktlich wahrnehmen können.

Sie schritt forsch den Bürgersteig entlang und achtete sorgfältig auf die Hausnummern, um bloß nicht die 117 zu übersehen. Die Straße war eine von der schmaleren Sorte und führte zu der prachtvollen offenen Fläche des Soho Square. Die Gebäude an der Perry Street waren schmalbrüstig und alt, aber hübsch renoviert und in IT-, Grafiker- und Spezialeffekte-Büros umgewandelt, in Teenie-Cafés und attraktive Friseursalons.

Es handelte sich um einen geschäftigen, hektischen Teil von London, jeder Quadratmeter vibrierte vor Leben. Jede einzelne der zwei oder drei Etagen eines jeden Gebäudes beherbergte ein teures Büro oder eine Luxuswohnung.

89 … 93 … Je näher sie kam, desto heftiger begann Annies Herz vor Angst zu pochen. Noch hatte sie Tamsin nie persönlich gesprochen. Als sie am Montagmorgen endlich den Mut aufgebracht hatte anzurufen, meldete sich eine zwitschernde Sekretärin und informierte sie, dass Tamsin »sie gern kennenlernen« würde, und wäre 10:30 Uhr am Dienstag genehm?

Von Bob wusste sie, dass Tamsin für zwei Koch-Shows auf Channel 4 verantwortlich zeichnete, und Connor hatte versprochen, ein bisschen zu recherchieren, aber er hatte noch nichts herausgebracht, vielleicht weil er sich erst einmal wieder in die Londoner Szene einfinden musste.

Nummer 113 … Annies Handy klingelte.

Sie kramte es aus ihrer Tasche und sah, dass der Anruf von Dinah kam.

»Hi – ist alles in Ordnung?«, fragte Annie.

»Mir geht’s gut. Bist du schon dort?«

»Beinahe«, antwortete Annie und blieb kurz stehen, um sich auf das Gespräch konzentrieren zu können.

»Ich wollte dir nur viel Glück wünschen«, sagte Dinah. »Hau sie aus den Socken und so weiter, aber bleib cool! Wenn es nicht das Richtige für dich ist, servier sie ab!«

»Servier sie ab?«, musste Annie nachfragen. »Siehst du zu viele Gangsterfilme? Geht’s dir gut?«, erkundigte sie sich noch einmal.

»Heute ist der Ultraschall-Termin nach der sechsten Woche, ich bin so nervös, dass mir wahrhaftig schon schlecht geworden ist.«

»Vielleicht gab es ja einen anderen Grund dafür. Vielleicht ist es ein sehr gutes Zeichen.«

»Vielleicht …«, räumte Dinah skeptisch ein. »Was hast du an?«, hakte sie nach, um das Thema zu wechseln.

Annie brannte darauf, es ihr zu erzählen, denn es handelte sich um ein sehr, sehr gutes Outfit. Sie hatte Stunden gebraucht, um es zusammenzustellen, aber es sah eindeutig nicht so aus, als hätte sie sich übermäßig bemüht. Sich perfekt anzuziehen, das war im Grunde die einzige Vorbereitung auf das Gespräch, die Annie getroffen hatte. Na ja, Connor hatte ihr einen Vortrag darüber gehalten, »wie man mit Filmgesellschafts-Fuzzis quatscht«. So drückte zumindest er sich aus.

»Erzähl ihnen, dass du dich als Markenzeichen etablieren willst, so was lieben sie …« Viel mehr hatte sie sich von seinen Ratschlägen nicht behalten.

»Mein Outfit ist großartig«, berichtete sie Dinah. »Mantel, Kleid, tolle Stiefel, tolle Tasche, Halstuch. Das rockt. Aber ich muss jetzt Schluss machen.«

»Viel, viel Glück!«

»Dir auch.«

Als Annie gerade ihr Handy wieder einsteckte, trat ein paar Meter vor ihr eine Frau aus einer Tür. Annie sah nur flüchtig ihr Profil, bevor die Frau sich umdrehte und sich raschen Schritts in die andere Richtung entfernte. Doch das Haar, die hochhackigen Stiefel und die enge Hose – es war unverkennbar Miss Marlise!

Annie ging weiter. Ein paar Sekunden lang versuchte sie sich einzureden, es wäre reiner Zufall, doch dann war sie am Ziel. An der Tür, aus der Miss Marlise gekommen war: Nummer 117.

Auf diese Weise also hatte Bob von Tamsin Hinkleys Interesse an einer Umstyling-Show erfahren … du liebe Zeit!

Annie streckte einen Finger mit manikürtem, in ganz hellem Pink lackiertem Nagel aus und drückte den Klingelknopf.

Sie atmete langsam aus und setzte ein liebenswürdiges, einladendes Lächeln auf, doch vor Nervosität war ihr ganz flau im Magen. Miss Marlise! Diese verflixte Miss Marlise! Sie würde den Job bekommen. Sie war die Berühmte. Sie hatte den Namen!

Annie hätte am liebsten kehrtgemacht, um wegzulaufen. Aber sie dachte an Dinah, an Ed und Connor. Was würden sie von ihr erwarten? Wenn Lana jetzt hier stünde und klingelte, würde Annie ihr nicht empfehlen, den Kopf hoch zu tragen und ihr Bestes zu geben?

Was war das Schlimmste, das ihr hier passieren könnte? Nichts. Ihr würde es nicht schlechter gehen als zu dem Zeitpunkt, bevor sie geklingelt hatte. Das Beste, was passieren könnte, war, dass Tamsin sie mochte und zum Star ihrer eigenen Serie machte … und selbst wenn sie auf Kanal 1026 laufen sollte, wäre es doch ein Anfang. Wieder mal ein neuer Anfang …

Annie lächelte noch angestrengter, als eine Stimme über die Sprechanlage krächzte: »Was kann ich für Sie tun?«

»Hier ist Annie Valentine«, stellte sie sich vor. Der Summer ertönte, das Schloss sprang auf.

Sie folgte dem Wegweiser, stieg eine schmale schwindsüchtige Treppe hinauf und gelangte in ein kleines leuchtend weißes Büro. Dort saß ein Mädchen mit kurzem, flippigem blonden Haarschnitt auf einem hohen Hocker mit Laufrollen vor einem Schreibtisch, der eine wie die Staffelei eines Künstlers geneigte Arbeitsfläche besaß. Sie trug ein weißes Headset.

»Annie Valentine?« Das Mädchen stand auf, kam auf Annie zu und schüttelte ihr die Hand. »Hi. Ich bin Amelia. Tamsin müsste jeden Augenblick kommen … ah, da ist sie ja!« Annie blieb nicht einmal Zeit, um durchzuatmen und ihre wachsende Angst niederzukämpfen.

»Annie, hi!«, rief einen warme wohltönende Stimme von der Bürotür her.

Annie drehte sich um und sah eine der eindrucksvollsten Vierzigerinnen, die sie seit langer Zeit wahrgenommen hatte, mit ausgestreckter Hand auf sie zukommen. Tamsin hatte sehr langes karamellfarbenes Haar, glatt am Kopf, dann jedoch in weichen Locken bis über die Ellbogen hinaus fallend. Sie wirkte durchtrainiert und sportlich und konnte sich daher den pinkfarbenen seidenen Minirock und die schwarzen schenkelhohen Stiefel, die sie trug, durchaus leisten, zumal sie den körperbetonten Look mit einem locker fallenden violetten Pulli relativierte.

Am eleganten Gelenk der eleganten Hand, die ihr geboten wurde, sah Annie den pink-violetten Armreif, den sie in der vergangenen Woche bei Topshop gekauft hatte. Plötzlich fiel die Nervosität von ihr ab, ihr Lächeln wurde breiter, und zum ersten Mal, seit sie Miss Marlise gesehen hatte, schöpfte sie Hoffnung.

»Hi, Tamsin, schön, dich kennenzulernen«, sagte sie begeistert. »Diesen Armreif habe ich auch!«

»Tatsächlich? Ist Topshop nicht einfach toll? Ich kaufe dort so viel.«

»Die aktuellen kleinen Röckchen sind perfekt …«, griff Annie den Faden auf.

Tamsin nickte. »Ich habe mir schon zwei gekauft. Okay, komm mit«, forderte sie Annie auf, »lass uns plaudern! Amelia, stell bitte keine Anrufe durch!«

Auf dem kurzen Weg den Flur entlang bemerkte Annie gerahmte Fotos, Preisurkunden und Werbeseiten und wurde wieder von Ehrfurcht ergriffen. Da war Tamsin, wie sie von einer Schar berühmter Fernsehgesichter umarmt, geküsst und beglückwünscht wurde. Da war eine Titelstory über eine von Tamsins neuen Sendungen … du liebe Zeit, da hatte sie Regie geführt?

Tamsin sah sich nach Annie um.

»Oh, Verzeihung!«, sagte sie. »Das ist meine Angeberwand, lass dich davon nicht abschrecken. So bin ich eigentlich gar nicht.«

»Nein … hm … sehr eindrucksvoll«, brachte Annie hervor.

»Hübsche Stiefel«, bemerkte Tamsin, als sie ihre Bürotür öffnete und Annie eintreten ließ. »Ich glaube nicht, dass die von Topshop sind.«

»Nein«, bestätigte Annie.

»Sag’s mir nicht«, verlangte Tamsin, »sonst will ich gleich hin und Geld zum Fenster rauswerfen!«

Tamsin hatte ein sehr hübsches Büro mit weißgestrichenem Holzfußboden, pinkfarbenen Wänden, einem weißen Sofa, einem weißen Schreibtisch und zwei von diesen hochwertigen Esszimmerstühlen aus Plexiglas. Ein weißes Bücherregal mit DVDs, etikettierten Schachteln und weißen Ablageboxen nahm eine ganze Wand ein. Ein richtiges Girlie-Zimmer, dachte Annie unwillkürlich. Es roch sogar parfümiert. Wenn sie normal hätte aus- und einatmen können, hätte sie den Duft als Gardenie und Jasmin identifiziert, doch jetzt hatte die Nervosität sie wieder im Griff.

»Bob war so nett und hat mir ein Demoband mit Ausschnitten von der Serie geschickt, die du mit Donnie Finnigan gedreht hast«, begann Tamsin, nachdem sie Annie einen der »Geister«-Stühle zugewiesen und selbst auf dem zweiten Platz genommen hatte. »Du warst gut«, fuhr sie fort, »bist gut mit den Frauen umgegangen und hast ihnen die Befangenheit vor der Kamera genommen. Du machst den Eindruck, als hättest du echt Spaß an der Sache.«

»Ja«, bekräftigte Annie.

»Das Mädchen mit dem kurzen Haar, das sich dir gegenüber geoutet hat, finde ich ganz toll! Tina? Das ist phantastisches Fernsehen!«, erklärte Tamsin begeistert.

»Tatsächlich? Ja!«, stimmte Annie zu. »Sie hat mir eine Dankeschön-Karte geschickt und geschrieben, ich hätte ihr Leben verändert.«

»Aber du arbeitest nicht mehr mit in der Serie?« Tamsin neigte ihren Kopf. Sie fixierte Annie mit kühlen grauen Augen und wartete unübersehbar auf eine nähere Erklärung.

Annie zermarterte sich das Hirn nach Connors Rat zu diesem Punkt. Irgendetwas über künstlerische Differenzen, kreative Kräfte, unterschiedliche Ethos, oder müsste es Ethen heißen?

»Finn fand Tinas Umstyling schrecklich; er hat die Episode rausgeworfen. Außerdem hatte er kein Geld, und ich war die Moderatorin, die keinen wasserdichten Vertrag hatte, was ihm sehr gelegen kam.« Wie sie Tamsin bisher erlebt hatte, entschied Annie, dass sie ein Mensch war, der die Wahrheit vertrug, der sie sogar zu schätzen wusste.

»Wie gut lief die Show?«, wollte Tamsin nun wissen.

Das war der nächste Hammer. Hätte Annie nicht gewusst, dass Miss Marlise vor etwa zehn Minuten erst auf diesem Stuhl gesessen und die gleiche Frage gestellt bekommen hatte, hätte sie vielleicht diplomatisch geantwortet: »Ich fand die erste Episode ganz gut« – und es dabei belassen.

So aber musste sie ausführlicher werden.

»Ich glaube, sie lief gar nicht gut«, begann Annie. »Die ganze Idee war einfach …« In Gedanken an Reste von Connors Vortrag hielt sie inne.

»Dumm?«, schlug Tamsin vor.

»Ja«, stimmte Annie erleichtert zu, »wir sollten diese Frauen in einer halben Stunde in völlig andere Menschen verwandeln. So ist das Leben nicht, auch nicht im Fernsehen! Und als ich jemanden völlig umgewandelt hatte, passte es ihnen nicht, und was die rechthaberische Miss Marlise betrifft – die aus Der Lehrling, du weißt schon –, die brachte die Frauen immer zum Weinen.«

Das war jetzt zickig und überflüssig, doch Annie hatte sich nicht bremsen können. Plötzlich überkam sie kalte Wut auf Finn und seine albernen Wonder Women. Sie hatte ihren gutbezahlten Job von neun Jahren für diese Show aufgegeben. Sie hatten sie am schlechtesten bezahlt und sie ohne Grund gefeuert. Und was Miss Marlise anging: Die hatte alles getan, um bei jeder Gelegenheit an Annies Stuhl zu sägen, und sie hatte sich ein Loch in den Bauch gefreut, als Annie gehen musste … Tja, jetzt war Annie an der Reihe, ihr in den Hintern zu treten!

Annie vermutete zunächst einmal, dass es phantastisch sein würde, mit Tamsin zusammenzuarbeiten, und verflucht wollte sie sein, wenn sie zuließ, dass die hinterhältige Miss Marlise ihr zuvorkam!

Tamsin sah sie verwundert an.

Oh nein! Sie hatte es vergeigt. So etwas tat man offenbar nicht in der Fernsehwelt. Man musste behaupten, jeder wäre »wunderbar«, es wäre »eine Freude, mit ihm zu arbeiten«, man musste beteuern, einander in ewiger Freundschaft verbunden zu sein und es nicht erwarten zu können, wieder zusammenzuarbeiten.

»Die rechthaberische Miss Marlise?«, wiederholte Tamsin.

»Verzeihung, das war ein bisschen grob«, entschuldigte Annie sich.

»Sie scheint sehr ehrgeizig zu sein, diese Miss Marlise«, fuhr Tamsin fort.

»Ja – gelinde gesagt«, brachte Annie hervor.

»Gut. Also, ich will dir sagen, was ich mir vorstelle und was mir an deinem Demoband gefallen hat.«

Und Tamsin setzte zu ihrem Verkaufsgespräch an.

Man hatte ihr eine halbstündige Show auf Channel 4 angeboten. Channel 4!, sagte Annie zu sich selbst. Also hatte Bob recht gehabt. Dieses Mal ging es um richtiges Fernsehen! Tamsin wollte eine gehaltvolle, rasante, schwungvolle halbe Stunde.

»Eine Art Frauenzeitschrift-Show«, erklärte sie lebhaft gestikulierend, »mit vielen Tipps, aber vergnüglich! Nicht diesen grimmigen Wir-können-was-aus-dir-machen-Mist. Wir geben uns frech, verraten, wo es den tollen Topshop-Armreif und das Partykleid gibt, welche Gesichtscremes für einen Zehner genauso gut sind wie die für hundert Pfund, was es wo zu kaufen gibt, zum Beispiel in …«

»Den Pound Stores«, fiel Annie ihr ins Wort, »und wovon man die Finger lassen sollte.«

»Genau! Welche Schuhe aus dem Supermarkt …«

»Gut sind und welche voll daneben sind«, vervollständigte Annie erneut. Denn sie verstand, verstand voll und ganz.

»Ja! Etwas in dieser Art gibt es zurzeit nicht im Fernsehen. Ja, ein Umstyling-Element wird auch enthalten sein; du sprichst eine Frau auf der Straße an, gehst mit ihr in einen Laden und hilfst ihr, ein tolles neues Outfit zusammenzustellen, aber nicht für eine Verabredung.« Tamsin verzog das Gesicht. »Das ist dermaßen sexistisch und herablassend. Falls jemand lernen muss, was man zu einer Verabredung anzieht …«

»Dann ist es der Mann, zum Kuckuck!«, beendete Annie den Satz.

»Genau.«

»Das hört sich großartig an!« Annie lächelte. »Es geht darum, was man zum Vorstellungsgespräch anzieht, beim Treffen mit der Schwiegermutter …«

»Ja!«, unterbrach Tamsin sie. »Was man zum Termin mit dem Krebsarzt anzieht, was man …«

»In den Wehen trägt?«, schlug Annie vor.

»Phantastisch! Als ich Myrtel bekam, habe ich sechs Stunden lang nur weite Hosen und die TENS-Maschine getragen und sah aus wie irgendwas hinter den Kulissen von MTV.« Tamsin drehte das kleine gerahmte Foto auf ihrem Schreibtisch zu Annie um. Es war ein Schnappschuss jüngeren Datums und zeigte Tamsin mit drei Kindern, die genauso auffallend hübsch waren wie sie. Eine Tochter im Teenie-Alter mit dem gleichen langen Haar, ein Junge in Owens Alter und auf ihrem Schoß ein etwa acht Monate altes Baby mit goldenem Haar.

»Du hast ein Baby?«, fragte Annie erstaunt.

»Ja, mit zweiundvierzig überkam es mich noch mal … und ich hatte Glück«, ergänzte sie. »Dieses Mal ist es toll. Wohlgemerkt, ich bin dreifache Mutter. Für sämtliche Film- und Fernsehakademien in England möchte ich nicht noch einmal erstmalig Mutter sein. Das war doch schlimmer als …«

»Teenager zu sein?«, schlug Annie vor.

»Genau, Gott sei Dank fürs Älterwerden! Wie alt sind deine Kinder?«

»Sechzehn und elf«, erwiderte Annie.

»Willst du noch eins? Ist schon in Ordnung, du kannst es mir sagen«, fügte Tamsin hinzu. »Schwangere Moderatorinnen jagen mir keinen heiligen Schrecken ein, im Gegensatz zu einigen männlichen Produzenten, die ich dir nennen könnte. Einen heiligen Schrecken jagen mir vielmehr botoxunterspritzte berufsjugendliche Moderatorinnen ein.«

»Ich glaube nicht«, antwortete Annie auf die Babyfrage, fühlte sich dann jedoch gedrängt zuzugeben: »Aber mein Partner wünscht sich verzweifelt ein Kind. Ich glaube allerdings nicht, dass ich das alles noch einmal durchstehen kann.«

»Was denn? Die Schwangerschaft? Die Geburt? Die Babyzeit? Den Schlafmangel? Das alles ist schrecklich, aber es lohnt sich.«

Annie überlegte kurz. Nichts davon traf es. Es war … es war schwer zu verstehen, woher ihr Widerstand kam … und noch schwerer, ihn in Worte zu fassen.

»Ich hatte nie so viel Angst«, begann Annie jetzt versonnen, »wie in den Wochen nach Lanas und Owens Geburt. Sie waren so winzig, ich hatte so große Verantwortung, und das war noch nicht alles … Der Gang zum Standesamt, um die Geburt registrieren zu lassen, in diesem hochoffiziellen roten Buch. Es war, als hätte ich etwas in Gang gesetzt, das ich selbst nicht verstand.« Sie schluckte, doch Tamsin nickte nur knapp als Aufforderung fortzufahren. »Als die Geburten registriert waren, mit Uhrzeit und Datum und allen Einzelheiten, konnte ich nur noch daran denken, dass sie eines Tages auch in das schwarze Buch eingetragen würden, das auf dem Schreibtisch des Standesbeamten liegt.« Annies Erinnerungen an die Eintragung ihres Mannes ins Sterbebuch drängten kurz an die Oberfläche.

»Man ist so verletzlich, wenn man gerade entbunden hat«, pflichtete Tamsin ihr bei. »Ich habe ein paar verrückte Sachen gemacht, von denen ich nicht mal geträumt hätte, wenn ich mich nicht in diesem postnatalen Zustand befunden hätte. Es ist, als hätte man sich gehäutet, man ist der Welt auf eine andere Art als vorher ausgesetzt.«

»Ja, aber genauso fühlte ich mich auch, als mein Mann gestorben war … Ich habe zweieinhalbtausend Pfund für ein schwarzes Valentino-Kleid für die Beerdigung ausgegeben«, hörte Annie sich beichten. Und davon wussten auf der ganzen Welt nur zwei andere Menschen. »Ich weiß bis heute nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich war besessen von der fixen Idee, dass es mehr kosten musste als mein Hochzeitskleid und dass es umwerfend aussehen musste, nur für ihn.«

»Oh, das tut mir so leid, ja … Das habe ich in Screentalk gelesen. Roddy Valentine.« Tamsin sah sie offen an, und Annie erkannte das erschrockene Mitgefühl in ihrem Blick. »Wie furchtbar …«, fügte Tamsin hinzu.

»Ist schon gut«, sagte Annie mit einem Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Das Leben ging weiter. Wir alle haben unseren Frieden gemacht.«

»Vom Fernsehstandpunkt aus gesehen, gefällt uns das – unsensiblerweise«, entgegnete Tamsin leise. »Annie Valentine, die Nigella der Kostenbudgetierung.«

Annie lächelte und dachte an Ed.

»Ich kann dir nicht sagen, wie viele dumme Mädchen ich Tag für Tag kennenlerne, die versessen darauf sind, Fernsehmoderatorin zu werden«, fuhr Tamsin fort, »aber jemanden zu treffen, der wirklich Kontakt zu Menschen herstellen will – Kontakt zu den Menschen in der Show und zu den Zuschauern –, das ist selten. Und es ist ein Glücksfall.«

Annies Nervosität war einem benommenen, atemlosen Schwindelgefühl gewichen.

Channel 4? Nigella? Frauenzeitschrift-Show? Lustig, flippig? Tamsin sagte immer genau das Richtige und stellte sich offenbar exakt das vor, was Annie gern gemacht hätte und was sie sich von Finns Show eigentlich erhofft hatte.

»Wie bist du an Juhuu-Finn geraten?«, wollte Tamsin wissen.

»Ah ja, ich habe seine Frau bei The Store als persönliche Einkaufsberaterin betreut«, antwortete Annie.

»Der Haarschnitt?«, unterbrach Tamsin sie. »Warst du verantwortlich für den Haarschnitt?«

Annie dachte an den Tag, als Kelly-Anne mit ihren langen lackschwarzen Locken zu ihr in die persönliche Beratungssuite gekommen war, als Connor auftauchte, sich einmischte und ihr Haar sich an seinen Blazerknöpfen verfing. Und Svetlana hatte die Locken einfach abgeschnitten. Kelly-Anne wäre vor Schock fast gestorben.

Annie sah Tamsin an und fragte sich, ob es gut für sie sein könnte, wenn sie für das Massaker an dem langen Haar verantwortlich war. »Nicht direkt«, wich sie aus, »aber meiner Meinung nach sah es wirklich gut aus.«

»Die Frisur ist phantastisch, ich würde sie selbst gern tragen, aber …«, sie warf sich das lange Haar über die Schulter, »vielleicht nicht unbedingt jetzt schon.«

»Du hast wunderschönes Haar«, beglückwünschte Annie sie, »aber ich glaube, ich lasse meines kurz schneiden.« Sie zupfte an ihrem Pferdeschwanz.

»Prima!«, begeisterte Tamsin sich. »Aber tu es während der Show, bitte! Wenn wir anfangen, trägst du noch den Pferdeschwanz, und dann, etwa in der dritten Folge, überlassen wir dich Nicky Clarke oder so zum Schneiden.«

»Wow!« Annie spürte, wie ihre Wangen glühten. Sollte sie den Job bekommen? Würde Tamsin tatsächlich ihre Träume Wirklichkeit werden lassen?

»Okay, jetzt presche ich zu weit vor«, bremste Tamsin sich. »Wir müssen noch über Geld sprechen. Frauen müssen unbedingt über Geld sprechen, obwohl wir dazu abgerichtet werden, es nicht zu tun. Bist du die Hauptverdienerin in deiner Familie?«

Annie nickte. Nun ja, für die Vergangenheit zumindest hatte es zugetroffen.

»Ja, ich auch. Es ist so verbreitet, aber die verflixten Männer in diesem Geschäft gehen immer davon aus, dass wir für das Finanzielle einen reichen Mann zu Hause haben und unser Gehalt ein nettes ›Extra‹ ist. Wie auch immer, es werden etwa achttausend Pfund pro Folge sein.«

Bevor Annie verblüfft nach Luft schnappen konnte, fuhr Tamsin fort: »Wir besprechen die ganze Idee noch einmal in allen Einzelheiten und stellen sicher, dass wir beide richtig glücklich mit der Vorgehensweise sind. Der Vertrag umfasst sechs Folgen, und wenn die Show gut anläuft, verhandeln wir neu und verdienen alle mehr Geld. Wenn sie wirklich einschlägt, wirst du stinkreich. Solange sie läuft …«, warnte sie. »Wer ist dein Agent?«

»Hm … Ich denke, Ralph Frampton-Dwight oder jemand in seinem Büro regelt die vertragliche Seite für mich …«, stotterte Annie. Connor hatte ihr geraten, das zu sagen, aber da sie nicht mit Ralph oder einem seiner Angestellten gesprochen hatte, zögerte sie, sich auf ihn zu berufen.

Tamsin verzog das Gesicht. »Tja, das ist sehr großzügig von dir. Aber er hat diesen Handel nicht eingeleitet. Außerdem ist Ralph in meinen Augen ein Schwachkopf«, verkündete sie unverblümt. »Wenn du nicht vertraglich an ihn gebunden bist, würdest du bitte diese Frau anrufen?« Sie öffnete den orangefarbenen Terminplaner auf ihrem Schreibtisch und entnahm ihm eine Visitenkarte. »Ich sage das nicht, weil ich dich dadurch preisgünstiger bekommen würde. Jenny wird mich wahrscheinlich vielmehr extra kosten. Aber sie ist die Richtige. Und überhaupt, wir Mädels müssen zusammenhalten!« Tamsin zwinkerte ihr zu.

»Also, bevor ich zum Schluss komme«, sie blickte auf die Wanduhr hinter Annie, »weil ich, wieder mal zu Repräsentationszwecken, zum Essen ans andere Ende der Stadt muss: Ein so modebewusstes Mädel wie du will sicher wissen, wie hoch der Garderobenzuschuss für eine Moderatorin ist. Was nicht heißt, dass wir leichtfertig sind«, Tamsin zwinkerte, »oder unser Leben durch Mode bestimmen lassen oder so. Es ist lediglich Interesse.«

»Ja«, bekräftigte Annie. »Männer haben Fußball, und wir haben die Mode.«