35.
Der Hochzeitsgast:
Enges weißes Hemd (Debenhams)
Schwarz-weißes Bustier (dito)
Kopfschmuck aus weißen Federn (dito)
Weiße Schuhe (Next)
Geschätzte Gesamtkosten: 160 £
Dinah hatte versucht, sie zu überreden. Fern hatte sie unterstützt. Selbst Owen war einer Meinung mit ihnen, aber Lana war’s dann, die Annie und Ed schließlich überredete, ihre Sachen zu packen und loszufahren.
»Wenn ihr euer besonderes Urlaubswochenende jetzt wegen mir ausfallen lasst, habe ich ein schlechtes Gewissen«, beteuerte sie. »Fahrt nur! Mir fehlt nichts. Mir fehlt absolut nichts, und ich werde Dinah aufs Wort gehorchen. Ihr fahrt jetzt los, oder ich werde mir das nie verzeihen!«
»Aber es ist schon fast neun Uhr abends!«, gab Annie zu bedenken.
»Ihr verpasst das Abendessen, aber wenn ihr aufwacht, gibt es Frühstück im Bett«, lockte Dinah.
Also hatten Annie und Ed schließlich doch eingewilligt und krochen jetzt den immer noch vom Freitagabendverkehr verstopften M25 entlang. Hinten im Jeep war ihr Gepäck untergebracht, plus Dave, der ausnahmsweise mal auf einem Kauknochen kaute.
Annie saß am Steuer und lenkte den Jeep mit Charme, aber auch rastlos und entschlossen, sich immer wieder ein paar kostbare Meter vorzudrängeln. Ed saß auf dem Beifahrersitz und stellte aus Tausenden von auserlesenen Songs auf seinem iPod die Begleitmusik zusammen.
Nachdem sie die Fahrt nun endlich angetreten hatten, machte sich angemessene Begeisterung breit. In den zweieinhalb Jahren ihres Zusammenseins war es das erste Mal, dass es ihnen gelang, allein zu zweit zu verreisen. Und um ein Haar wäre es nicht dazu gekommen.
Als Annie schalten musste, streifte Ed ihre Hand. »Ich liebe dich«, sagte er beiläufig, »auch wenn dein Fahrstil mich in Angst und Schrecken versetzt.«
»Ich liebe dich auch«, gab sie zurück und löste den Blick flüchtig von der Straße vor ihr, »auch wenn du einen abartigen Musikgeschmack hast.«
»Habe ich nicht!«, wehrte er sich. »Ich versuche lediglich, eine Disco-Queen musikalisch weiterzubilden!«
Das war seine Lieblingsbeleidigung, wenn es um Annies Musikvorlieben ging. Sie selbst war die Erste, die zugab, dass ihr Musikgeschmack dem einer tuntigen männlichen Diva sehr nahekam.
»Connor ist schuld«, verteidigte sie sich. »Ich war zu oft mit ihm im Heaven. Du weißt schon, dieser schwule Nachtclub«, fügte sie erklärend hinzu.
»Was hattest du denn davon?«, wunderte Ed sich.
»Ach, ich habe mich nur umgesehen«, antwortete sie und zog eine Braue hoch. »Ich befand mich in der Rekonvaleszenz, brauchte nicht anzufassen oder angefasst zu werden.«
»Aber jetzt ist das alles anders«, meinte er und streichelte die Innenseite ihres Handgelenks.
»Ja«, versicherte sie, als ob er die Bestätigung gebraucht hätte.
Der Jeep hatte den M25 endlich hinter sich; Annie steuerte ihn über die Auffahrt zum M40. Die Autobahn vor ihnen war bedeutend weniger befahren; die breiten Fahrspuren luden dazu ein, hochzuschalten und Gas zu geben.
Sie wechselte auf die Überholspur und hörte das durchdringende Aufjaulen des Motors beim Beschleunigen.
Ed wechselte entsprechend die Musik, und als die Tachonadel sich einhundertzwanzig Stundenkilometern näherte, dröhnte grobsinnlicher Rock ’n’ Roll aus den Lautsprechern.
»Das ist toll!«, schrie Annie, um die Musik zu übertönen.
Sie wandte den Kopf und sah urplötzlich Überraschung in seiner Miene.
»Was ist los?«, rief sie, den Blick wieder auf die Straße vor sich gerichtet. Was hatte er gesehen und sie nicht? Instinktiv trat sie auf die Bremse.
»Annie, geh vom Gas! Zieh links rüber!«, wies er sie eindringlich an und zeigte nach vorn.
Sie bremste und wechselte stark beunruhigt auf die mittlere Spur. »Was ist los?«, wiederholte sie.
Dann sah sie es.
Von Eds Ecke der Frontscheibe aus breiteten sich wie ein riesiges Spinnennetz silbrige Risse aus. Rasend schnell drohten sie die gesamte Scheibe zu überziehen. In ein, zwei Sekunden würde Annie nichts mehr sehen, und dann würde womöglich die ganze Windschutzscheibe in sich und über sie beide zusammenfallen.
»SCHEISSE!«, brüllte sie, unüberhörbar von Angst gepackt.
»Lenk auf den Standstreifen! Die linke Spur ist frei«, forderte Ed sie auf und drehte sich zum Heckfenster um, um sicherzugehen, dass sie kein anderes Fahrzeug streifte.
Annie schaltete die Warnblinkleuchte ein, trat auf die Bremse, schaltete herunter und wechselte auf die linke Spur, dann auf den Standstreifen. In dem Moment, als das Spinnennetz vor ihren Augen auftauchte und silberne Funken und Splitter ihre Sicht behinderten und die Straße verschwinden ließen, trat sie auf die Bremse.
Als der Jeep schließlich stand, bestand die Frontscheibe aus einem Mosaik kleiner undurchsichtiger Glasstückchen, und abgesehen von dem grellen Licht vorbeifahrender Autos, war nichts mehr zu erkennen.
Einen Moment lang saßen sie in fassungslosem Schweigen da und spürten das Hämmern ihrer Herzen.
»Verdammt«, brachte Annie schließlich heraus, »das war knapp!«
Sie sahen einander an, und die Erleichterung nahm den Druck von ihrer Brust.
Annie wusste nicht recht, ob sie lachen oder weinen sollte.
»Gut gemacht!«, sagte Ed leise. »Du warst großartig.«
Sie neigte sich ihm zu, und sie umarmten sich über die Handbremse hinweg.
»Ich nehme an, du bist nicht dazu gekommen, den Knacks in der Frontscheibe reparieren zu lassen?«, fragte Ed dann.
»Nein.«
Eng aneinandergeschmiegt lachten sie vor Erleichterung.
»Hast du deine Mitgliedschaft im Automobilclub verlängert?«, erkundigte Annie sich als Nächstes.
»Ach du Scheiße!«, flüsterte Ed.
Nach einer langen Wartezeit und zahlreichen Anrufen kam ein Mann im gelben Kombi. Er erklärte, dass er sie aufgrund der späten Stunde und des schwergewichtigen Fahrzeugs nur zur nächsten Stadt mit Autoglas-Reparatur-Service abschleppen konnte.
»Die helfen Ihnen morgen früh«, sagte er.
»Morgen früh?«, keuchte Annie. »Wir können nicht bis morgen früh warten. Wir haben ein Hotelzimmer gebucht … in den Cotswolds.«
Der Fahrer hatte gelacht. Er hatte sie tatsächlich ausgelacht!
Annie hatte sich gerade erst halbwegs damit abgefunden, dass sie ihr Fünf-Gänge-Menü im Lullworth verpasst hatten, aber die Vorstellung, auf die ganze Nacht verzichten zu müssen … Sie hatte die Website des Hotels aufgesucht, hatte den Ausblick vom Balkon ihres Zimmers gesehen! Was auch immer Bryan, Dinahs Mann, für dieses Hotel getan hatte, es wurde ihm ordentlich vergütet. In ihrem Zimmer stand ein weißes Himmelbett, Emperor Size … und dazu gehörte ein Bad in weißem Marmor mit Dampfdusche!
In knapp einer Stunde brach Eds Geburtstag an, und sie standen immer noch auf dem Seitenstreifen meilenweit vom Lullworth Hotel entfernt und warteten darauf, dass der Abschleppdienst sie nach Reading brachte.
Es war fast Mitternacht, als sie auf den Parkplatz vom King’s Head fuhren. Annie hatte das Gefühl, dass diese Unterkunft nicht annähernd so luxuriös wie das Lullworth war. Es handelte sich um eine laute unpersönliche Bar mit Gästezimmern im Obergeschoss. Ein paar Frauen in engen Kleidern und Federkopfschmuck drängten sich rauchend auf dem Parkplatz zusammen.
Ed warf sich seine Reisetasche über die Schulter, griff mit der Linken nach Annies Gepäck und mit der anderen nach ihrer Hand und Daves Leine.
»Komm!« Auf dem Weg zur Rezeption grinste er sie an. »Was ist aus deiner Abenteuerlust geworden? Bilde dir einfach ein, wir wären zusammen durchgebrannt«, fügte er im Flüsterton hinzu, »wir haben eine Affäre, und unsere Partner wissen nichts davon.«
»Aber du musstest deinen Hund mitnehmen. Genau«, murrte Annie.
Die Tür öffnete sich zu einer Lobby mit glänzenden vergilbten Prägetapeten und gelbem Teppichboden von der hässlichsten Sorte.
Als sie sich eingetragen und den Schlüssel erhalten hatten, führte man sie eine braun-gelbe Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.
Ed öffnete die Tür, tastete nach dem Schalter und machte Licht, nur um das grässlichste Hotelzimmer dem Blick freizugeben, das Annie je gesehen hatte. Es wies den gleichen braun-gelb gemusterten Teppichboden auf wie der Flur, die Wände waren vor Jahren mit cremefarbenem und braunem Blümchenmuster tapeziert worden, und das kleine schwindsüchtig aussehende Doppelbett zierte eine orangefarbene Candlewick-Tagesdecke.
Es roch nach Rauch und Schweiß.
»Oh nein!«, stöhnte Annie auf und stellte sich die grausigen klammen Polyesterlaken unter der Tagesdecke vor. »Das kann ich nicht! Ich kann hier nicht schlafen, Schätzchen. Ich glaube, ich schlafe lieber im Jeep.«
»Annie«, Ed legte den Arm um ihre Taille, »alles wird gut!«
Er ging zum Bett und schaltete die Nachttischlampe ein, eine kleine Lampe mit orangefarbenen Fransen. Dann kam er zurück und löschte das Deckenlicht, so dass das Zimmer wenigstens nicht mehr so grell ausgeleuchtet war.
Obwohl Annie noch immer restlos unüberzeugt an der Tür stand, streckte Ed sich auf dem Bett aus – woraufhin es beängstigend wippte und knarrte – und verkündete grinsend: »Ich habe eine Flasche Sekt in meiner Tasche. Ich bin hier mit der Frau, die ich liebe.«
»Und mit deinem Hund.«
»Die Situation ist überaus erotisch«, schnurrte er.
Schließlich ging sie in Gedanken an das weiße Himmelbett, die wunderschönen Fenster mit den sich blähenden weißen Vorhängen, das Marmorbad mit der Dampfdusche doch quer durch das Zimmer auf ihn zu.
Es war nun mal so schrecklich enttäuschend.
Ed streckte eine Hand nach ihr aus und zog Annie zu sich aufs Bett. Die Matratze senkte sich, knarrte und wackelte so sehr, dass Annie glaubte, sie würde unter ihr einbrechen.
Sie zog die Tagesdecke zurück und fragte: »Sind die Laken sauber?«
»Nicht mehr lange«, erwiderte Ed anzüglich.
Er nahm sie in die Arme und suchte ihren Mund.
Miniurlaub, sagte sie zu sich selbst, als sie seinen Kuss schmeckte. Ich habe Miniurlaub und werde ihn genießen … Ed genießen. Ich werde es genießen, ihn ganz für mich allein zu haben.
Sie schlug die Augen auf und sah Dave, der – die Pfoten auf der Tagesdecke – mit schiefgelegtem Kopf zu ihnen aufblickte.
»Ed!«
Am nächsten Morgen brauchte Annie lange, um aufzuwachen. Mit geschlossenen Augen lag sie da, als sie langsam wieder zu Bewusstsein kam, und stellte fest, dass sie nackt war. Sie lag auf der Seite; Eds Arm ruhte schwer auf ihr, seine haarige Brust war an ihren Rücken geschmiegt und seine Beine mit ihren verschlungen.
Sie fühlte sich warm und klebrig an. Als sie die Augen aufschlug, waren ihre Lider schwer und die Augäpfel wie ausgetrocknet.
Die braun-weißen Blumen, die vor ihren Augen schwammen, verursachten ihr unvermittelt Panik, bevor sie sich wieder orientieren konnte.
Sie befanden sich in diesem Zimmer. Oh, sie waren in diesem Zimmer! Von heftiger Erregung überkommen, erinnerte sie sich an die vergangene Nacht.
Oh! Die vergangene Nacht.
Oh – mein – Gott! Letzte Nacht!
Es hatte Champagner gegeben. In Kelche geschenkt. Dann über nackte Körper gegossen. Über Brüste und in Nabel, um dort abgeschleckt auf aufgesaugt zu werden. Kühle prickelnde Bläschen, die an den empfindlichsten und geschwollensten Stellen schäumten, perlten und platzten. Geräuschvoll hatten sie dieses Bett benutzt und missbraucht, hatten in ihrem hektischen Wunsch, einander bis zur Neige zu genießen, das Kopfbrett skrupellos gegen die Wand knallen lassen.
Annie strich langsam mit der Hand über ihre Brust und schmiegte sich rücklings noch enger an Ed. Sie würde ihn wecken, überlegte sie, schob die Finger zwischen ihre Beine und streichelte sich dort, bis es sie wieder nach Eds Berührung verlangte.
Ihr Diaphragma war an Ort und Stelle, sie könnte sich einfach umdrehen, sich an ihn drücken, und sie könnten wieder von vorn anfangen.
Ihr Diaphragma? Die weiße Gummischeibe, die verhinderte, dass sie dahin kam, wo Ed sie haben wollte?
Jetzt fuhr sie ruckartig hoch und riss die Augen auf.
Und jetzt konnte sie das hässliche Zimmer richtig sehen. Ihre Kleider lagen in einem Haufen auf dem Boden, und dort drüben stand ihre Reisetasche. Darin befand sich ihr Waschbeutel, in ihrem Waschbeutel steckte ihr Diaphragma-Behälter, und in ihrem Diaphragma-Behälter war … das Diaphragma.
Er hatte sie überredet. Vielleicht hatte sie sich selbst überredet. Wie auch immer … hier, im kalten Tageslicht, verstand sie, dass es Wahnsinn war. Und sie würden es bestimmt nicht noch einmal tun!
Der Hund! Wo war der verflixte Hund?
Ihr Blick wanderte über den Teppich, und sie entdeckte Dave zusammengerollt auf dem Kaschmirpullover, den sie Ed zu Weihnachten geschenkt hatte. Bevor sie ihm befehlen konnte aufzustehen, sah sie das unverkennbare kleine Häufchen bei der Tür. Es war ein Kringel von Daves kleinen Würstchen.
Das war zu viel. Diesen dummen kleinen felligen Flachwichser ertrug sie nicht länger. Für diesen blöden Hund gab es keine andere Bezeichnung. Er war hässlich, taub und inkontinent! Und noch mehr Scheiße ließ sie sich nicht bieten. An metaphorischer Scheiße hatte sie gerade genug im Leben. Da hatte sie keine Lust, sich die Hände an dem echten Dreck schmutzig zu machen!
»Ed!«, rief sie drängend und rüttelte ihn wach. »Dave hat auf den Teppich gekackt. Ed!«, zischte sie. »Aufwachen! Ich will mich nicht darum kümmern!« Damit warf sie die Bettdecke von sich und ihm, stand auf und ging ins Bad.
Während sie die Toilette benutzte, überdachte sie die Verhütungssituation. Seit ihrer letzten Regel waren zwei Tage vergangen, also konnte sie sich absolut sicher fühlen. So sicher, dass letzte Nacht in ihrem Hinterkopf der Gedanke gekreist hatte: Ich kann diese Entscheidung noch rückgängig machen.
Doch jetzt hatte sie dank Daves frühmorgendlichem Häufchen beschlossen, dass sie sich auf gar keinen Fall noch einmal auf Windeln und Kacka unter den Fingernägeln und ständig gestörter Nachtruhe einlassen würde. Jetzt überlegte sie, ob sie nicht einfach die Pille danach einwerfen sollte, um völlig sicherzugehen.
Aber wenn Ed davon erfuhr? Nicht schwanger zu werden, das war die eine Sache, eine völlig andere war es zu behaupten, man würde es versuchen, während man in Wirklichkeit Verhütungsmittel nahm.
Sie stand vor dem Spiegel und putzte sich die Zähne. Es war nichts passiert. Du liebe Zeit, sie war Ende dreißig! Sie versuchte, die Augen zusammenzukneifen. Die Botox-Wirkung ließ so rapide nach, bald würde sie wieder genauso schrumpelig aussehen wie vor ihrem Besuch bei Dr. Yaz. Und was war mit ihrem Haar? Ganz gleich, wie viel Spülung und Kuren sie hineinschmierte, es schien von Tag zu Tag buschiger und drahtiger zu werden.
Nein. Frauen, die auf die vierzig zugingen, waren nach einem einzigen Versuch zwei Tage nach ihrer Regel absolut sicher vor einer Schwangerschaft. Mit tiefem Mitgefühl dachte sie an Dinah … vielleicht sollte sie für die arme Dinah ein Baby bekommen.
Ed klopfte an die Tür zum Bad – und trat dann ein, ein verdächtiges in Toilettenpapier gewickeltes Päckchen in der Hand.
»Ich will das nur schnell runterspülen«, erklärte er.
Annie spuckte die Zahnpasta ins Waschbecken, während Ed die Hundekacke in die hässliche graue Toilettenschüssel fallen ließ.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, sagte sie.