22.
Die Oxfam-Dame:
Orangefarbener Kleiderrock aus Wildleder (Oxfam, Camden)
Blaue Bluse (Oxfam, Highgate)
Blaue Strumpfhose (M&S)
Braune Westernstiefel (Camden Market)
Geschätzte Gesamtkosten: 74 £
»Möchten Sie unseren Prospekt mitnehmen?«
Bisher hatte Annie beinahe schon vier Stunden ihres kostbaren Sonnabendvormittags mit der Lokalisierung ihrer verschwundenen Sachen zugebracht.
Ed hatte auf der Suche nach den hochgeschätzten Stücken, die bei der großen Benefizentrümpelung versehentlich unter die Räder gekommen waren, zahlreiche Telefongespräche mit Lehrern, der Schule, sogar mit dem Hausmeister geführt.
Hunderte von Säcken mit ausgemusterter Kleidung, Bettzeug, Büchern und Spielsachen hatte die Schülerschaft von St. Vincent’s zusammengetragen. Alles war in der Sporthalle der Schule eingelagert und wurde jetzt sortiert und an die einschlägigen Wohltätigkeitsvereine weitergereicht.
»Die Kleidung geht zum größten Teil an Oxfam«, hatte Ed Annie berichten können. »Die Zweigstelle in Nord-London hat eine Lieferung von der Schule bekommen; vielleicht sollten wir dort anfangen. Ich telefoniere weiter und gebe dir Bescheid, wenn ich irgendetwas Brauchbares in Erfahrung bringe.«
Kaum hatte Annie diese Worte vernommen, sprang sie auch schon in ihren Jeep und raste zu dem Laden, bevor die Frühaufsteher mit den Adleraugen unter den Schnäppchenkäufern mit einem ihrer erlesensten Teile den Laden verlassen konnten.
Leider konnte die Frau hinter dem Verkaufstresen keine ihrer Fragen beantworten, doch als sie Annies Aufregung bemerkte, entschloss sie sich, jemanden anzurufen, der am Tag zuvor Dienst gehabt hatte, und zu hören, ob diejenige Näheres wusste.
Annie sah sich im Laden um und zuckte zusammen, als sie einen ihrer geblümten Paul-Smith-Röcke auf einer Stange entdeckte.
Sie stürzte hin und überprüfte die Größe. Ja! Es war ihrer. Eindeutig!
Hastig warf sie den Rock auf den Tresen.
»Das ist meiner!«, informierte sie die Verkäuferin.
Die Entdeckung des Rocks stimmte sie hoffnungsfroh, doch ihre unermüdliche Durchsuchung der anderen Kleiderständer führte zu keinem Ergebnis.
»Möchten Sie nachschauen, ob Ihre Säcke vielleicht noch im Hinterzimmer stehen?«, bot die Frau an.
Annie wurde in den hinteren Teil des Ladens geführt, wo sie auf Anhieb erkannte, dass kein lebensrettender Stapel von prallen Wäschesäcken mit ihren geliebten Siebensachen vorhanden war. Die Frau zeigte auf den riesigen Altkleiderberg und erklärte hilfreich: »Nun, wenn die Säcke schon ausgepackt sind, liegen die Sachen dort zum Sortieren bereit. Tut mir leid, wir hinken zurzeit ein bisschen hinterher; wir sind unterbelegt.«
Annie betrachtete den Haufen. Ihn zu durchsuchen würde den ganzen Vormittag in Anspruch nehmen. Hierher kam die zum Tode verurteilte Kleidung. Von ihren Sachen konnte doch wohl nichts auf dieser Müllhalde gelandet sein?
»Okay«, stimmte sie zögerlich zu, doch kaum hatte sie nach dem ersten schrumpeligen, formlosen und fleckigen Zara-Top gegriffen, klingelte das Ladentelefon.
Die Verkäuferin kam zurück und verkündete: »Gute Nachrichten! Janice, die gestern gearbeitet hat, sagt, dass nur Ihr Rock hier ausgepackt wurde. Als sie sah, wie hübsch die Sachen sind, haben sie alles zu Oxfam Style gebracht – das ist eine Art Oxfam-Edelshop in Camden.«
Annie schnappte sich ihren Rock vom Tresen und raste zur Tür.
»Aber den müssen Sie bezahlen!«, rief die Frau hinter ihr.
Damit hatte sich der Fall. Sie musste 45 £ bezahlen, um ihren eigenen Rock zurückzubekommen. Herr im Himmel! Wenn nun all ihre anderen Sachen bereits mit Preisschildchen versehen bei Oxfam Style auf Kleiderständern hingen?
»Würden Sie mich telefonisch ankündigen?«, fragte sie noch beim Hinausgehen. »Damit Ihre Kolleginnen die Sachen, die noch nicht ausgezeichnet sind, zurückhalten?«
Doch als sie endlich in Camden ankam, fand sie nur zwei Sommertops. »Fast« alles andere war nach den Worten der Verkäuferin bereits verkauft.
Jetzt sah es so aus, als wäre so ziemlich alles verloren.
»Aber unter meinen Sachen waren auch Prada-Sandaletten! Sie haben meine Prada-Sandaletten bei Oxfam Style verkauft?«
»Hm ja.« Die Verkäuferin wurde ein bisschen nervös. »Ich glaube, sie sind für dreißig Pfund rausgegangen.«
Annie hatten vor Staunen die Worte gefehlt.
Dreißig Pfund! Die Schuhe waren nur drei Mal getragen! Irgendjemand hatte hier das Geschäft seines Lebens gemacht!
»Sie haben uns viel Geld eingebracht, wenn auch unbeabsichtigt«, fuhr das ernste junge Mädchen hinter dem Tresen fort. »Möchten Sie unseren Prospekt mitnehmen? Dann wissen Sie wenigstens, wohin das Geld fließt. Vielleicht fühlen Sie sich dann ein bisschen besser.«
Das Mädchen hatte ganz lieb und unbedarft gelächelt und gesagt: »Es geht doch nur um Klamotten – nicht um Leben oder Tod.«
Sie hatte wirklich nichts begriffen.
»Ich habe früher bei The Store gearbeitet«, versuchte Annie zu erklären. »Ich hatte einen phantastischen Personalrabatt und konnte mir daher viele schöne Sachen kaufen. Aber jetzt arbeite ich nicht mehr dort, ich kann also nicht einfach losgehen und all diese Sachen ersetzen – nicht mal ein paar! Es waren Kostbarkeiten, alle einzigartig, Einzelstücke, etwas ganz Besonderes … und sie waren alle in meiner Größe«, sagte sie, und ihre Stimme drohte zu brechen.
»Soll ich unsere andere Filiale in Notting Hill anrufen?«, bot das Mädchen freundlich an. »Vielleicht ist einer von den Säcken dort gelandet. Und dann gibt es ja immer noch eBay«, fügte sie ein wenig zögerlich hinzu. »Gute Sachen aus unseren Läden tauchen ständig bei eBay auf, wo Leute sie für mehr Geld weiterverkaufen wollen, als sie dafür ausgegeben haben.«
»Ja«, entgegnete Annie jetzt einigermaßen bissig, »ich kenne eBay, ich werde es im Auge behalten, aber das Problem ist, dass ich kein Bestandsverzeichnis besitze, keine Liste. Ich weiß gar nicht genau, was weg ist. Das werde ich erst wissen, wenn ich mich beim Anziehen plötzlich frage, wo denn mein … Und es wird mir ganz allmählich dämmern, Stück für Stück, wie nach einem Einbruch«, schloss sie mit großem Nachdruck und sah das Mädchen böse an.
Genau so fühlte es sich tatsächlich an: wie ein Einbruchsdiebstahl.
Allerdings hatte ihr eigener Sohn die Schuld. Hätte er jetzt vor ihr gestanden, wäre es ihr sehr, sehr schwergefallen, nett zu ihm zu sein, ganz gleich, wie sehr sie ihn in Wirklichkeit liebte.
Annies Handy gab Laut. Sie nahm es zur Hand und sah, dass eine SMS von Ed eingegangen war.
»Dringend! Ruf mich an!«