23.

Elena bei ihrer Ankunft:

Knallenge Jeans (Primark)

Schwarz-weißer ausgeschnittener Pulli (Marktstand)

Stilettos (Marktstand)

Halskette mit goldenem Glücksbringer (Exfreund)

 

Geschätzte Gesamtkosten: 35 £

»Davon hast du doch reichlich, oder?«

Svetlana sah das Mädchen lange Zeit nur erschüttert an. Sie forschte gründlich in ihrem Gesicht, bemerkte die Form der Nase, den entschlossenen Mund und die gläserne Klarheit der Augen und wusste, dass das Mädchen die Wahrheit sagte.

Nicht alle Züge entsprachen den ihren; einige waren unmissverständlich auf Elenas Vater zurückzuführen.

»Du musst später noch einmal herkommen«, bat Svetlana ihre Tochter als Erstes auf Ukrainisch.

»Nein«, widersprach Elena kühl und verschränkte die Arme vor der Brust, »bis dahin hast du einen Wachmann geholt oder die Polizei.«

»Nein«, setzte Svetlana an. »Im Augenblick befindet sich jemand hier im Haus – ein Gast. Ich muss allein mit dir sprechen.«

»Dann warte ich vor deiner Tür«, erwiderte Elena grimmig.

»Nein!« Svetlana fühlte Panik aufsteigen. Harry durfte dieses Mädchen nicht sehen. Harry sollte nichts von ihr erfahren. Igor auch nicht. Auf gar keinen Fall Igor!

Bei dem Gedanken an die Vereinbarungen, die sie hatte unterzeichnen müssen, um die Scheidung, ihre Jungen, ihr Haus und ihre Abfindung zu bekommen, wurde Svetlana übel. Sie hatte geschworen: keine Skandale in der Zukunft und keine Geheimnisse in der Vergangenheit. Sie hatte es versprochen! Sie musste Harry aus dem Haus und sich Elena so weit wie möglich vom Hals schaffen, bevor es zu einer schrecklichen Katastrophe kam.

»Maria nimmt dich mit in die Küche«, sagte Svetlana schnell entschlossen. »Geh bitte leise nach unten und warte dort auf mich!«

Unverhofft trat ein Lächeln auf Elenas Gesicht. Sie griff sich ihre zwei Koffer, schleppte sie durch die Haustür und folgte Maria ins Untergeschoss.

 

»Was war denn los?«, wollte Harry wissen, als Svetlana ins Wohnzimmer zurückkam.

»Ein zum Äußersten entschlossenes ukrainisches Mädchen auf Jobsuche«, erkläre Svetlana so beiläufig wie möglich. »Hab ich beschlossen, Maria soll ihr Tasse Kaffee geben und Bewerbung ansehen.«

»Sind alle ukrainischen Mädchen zum Äußersten entschlossen?«, fragte Harry.

»Alle, die es bis hierher geschafft haben«, bestätigte Svetlana mit einem kehligen Lachen.

»Mein liebes, geliebtes Mädchen …«, begann Harry, »bitte sag, dass du mich heiratest!« Die Bitte brannte ihm seit seinem Eintreffen in Svetlanas Haus auf den Nägeln.

Er legte seinen Arm um sie, und sie blickte in seine freundlichen Augen. Bei Harry fühlte sie sich geborgen.

Svetlanas Leben hatte aus einem einzigen langen Kampf mit mächtigen, anmaßenden Persönlichkeiten bestanden, und wenn Harry sie so ansah, erinnerte sie sich, warum sie überhaupt so fest zur Heirat mit ihm entschlossen gewesen war. Als Igor ihr alles, ihre Kinder eingeschlossen, hatte wegnehmen wollen, war Harry ihre Rettung gewesen. Er hatte vor Gericht für sie gekämpft.

»Offen und ehrlich«, so hatte er den Sieg bezeichnet.

Und als er sich in sie verliebt hatte, war er der erste Mann in ihrem Leben gewesen, der Rücksicht auf ihre Wünsche nahm.

»Ja«, sagte sie zuversichtlich, »lass uns heiraten, Harry!«

Unverzüglich wandten ihre Gedanken sich wieder Elena zu. Dort unten in der Küche tickte eine Zeitbombe, die jeden Augenblick hochgehen konnte. Wie sollte Harry ihr je verzeihen, dass sie ein so dunkles Geheimnis hütete, wenn so viel auf dem Spiel stand?

»Vielleicht wir sollen Hochzeit vorverlegen?«, fragte Svetlana mit ihrem reizendsten, gewinnendsten Lächeln.

»Na, na«, lachte er, »das könnte ein bisschen heikel werden. Einladungen sind verschickt, die Örtlichkeit ist im Voraus gebucht. Ich glaube nicht, dass wir die ganze Sache einfach vorziehen können.«

»Versuch es für mich, Harry!«, schmeichelte Svetlana. »Muss ich so schnell wie möglich deine Frau werden.«

Er gab ihr einen ausgiebigen, liebevollen Kuss auf den Mund und hoffte, sie könnten dort weitermachen, wo sie vor kurzer Zeit aufgehört hatten. Doch Svetlana löste sich von ihm und verkündete: »Du musst jetzt gehen, mein Liebster.« Mit einem Blick auf ihre Uhr schwindelte sie mühelos: »In Viertelstunde hab ich Friseurtermin.«

Harry lächelte nur und schüttelte den Kopf, als wollte er ihr sagen, dass jedes Haar ihres hübschen Köpfchens am richtigen Platz saß, und wieso brauchte sie dann jetzt einen Friseur?

»Wir gehen später heute Abend essen?«, fragte Svetlana. »Dann du kommst mit und bleibst über Nacht bei mir.« Begleitet wurde diese Bitte von einer Hand, die zwischen Harrys Beine glitt und verspielt zudrückte.

Nachdem sie Harry hinausgeleitet hatte, schloss Svetlana nachdrücklich die Tür hinter ihm, atmete zur Beruhigung tief durch, wappnete sich und ging zur Küche im Untergeschoss hinunter.

In dem großen gutausgestatteten Raum sah sie Elena, eine Tasse Kaffee vor sich, am Tisch sitzen, während Maria am Herd stand und in Speisen rührte, die sie für die Kinder zubereitete.

Die Frauen schwiegen, doch Svetlana konnte nicht glauben, dass Elena nicht Englisch sprach. In Osteuropa sprach jeder ein bisschen Englisch. Ohne wenigstens Grundkenntnisse dieser Sprache zu besitzen, war an Auslandsreisen nicht einmal zu denken.

»Sprichst du Englisch?«, fragte Svetlana auf Englisch.

»Ja«, lautete die Antwort, doch dann folgte auf Ukrainisch: »Aber ich würde lieber privat mit dir reden.«

»Okay«, erklärte Svetlana sich einverstanden, »komm mit, wir gehen in mein Büro.«

 

Dieser kleine Raum befand sich ebenfalls im Untergeschoss. Svetlana hatte im Grunde gar keine Verwendung für ein Büro. Sie hatte mit dem Gedanken an ein Geschäftsunternehmen gespielt, diesen aber nie recht zu Ende geführt. Trotzdem hatte sie in diesem eleganten Raum einen Schreibtisch, einen Computer, ein Pult zum Beantworten von Briefen und einen Tisch mit zwei Stühlen untergebracht. Sie wies Elena an, Platz zu nehmen.

Kaum hatte sie sich einen Stuhl zurechtgerückt, überschlugen sich in Svetlanas Kopf bereits all die Fragen, die sie an dieses Mädchen richten wollte. Wie hatte sie sie gefunden? Woher hatte sie ihre Adresse? Wo hatte sie in den letzten vier Jahren gelebt? Was wollte sie?

Und was vielleicht das Wichtigste war: Wie viel würde sie zahlen müssen, damit Elena verschwand?

Doch bevor Svetlana ein Wort sagen konnte, hob Elena den Blick und erzählte ihre Geschichte.

»Ich lebe jetzt in Kiew, ich studiere Maschinenbau an der Universität«, sagte sie, immer noch auf Ukrainisch. Maria war außer Hörweite, aber vielleicht wollte Elena einfach nur fließend Bericht erstatten können.

»Wieso hast du Geld zum Studieren?«, fragte Svetlana sofort.

»Ich bin intelligent«, erwiderte Elena, »ich bekomme ein Stipendium. Und ich habe einen kleinen Job. Ich arbeite im Staatsarchiv und helfe den Leuten, mehr über ihre Familien herauszufinden.«

Sie wartete, bis diese Information bei Svetlana eingesickert war.

Auf diese Weise hatte sie ihre Mutter gefunden, die glaubte, sie hätte ihre Spuren gründlich verwischt, die Mutter, die dachte, sie würde nie wieder von diesem Mädchen hören, außer sie selbst entschloss sich, Kontakt aufzunehmen.

»Ich habe sämtliche Originalpapiere gefunden und Kontakt mit anderen Verwandten herstellen können, die keine so große Angst hatten, mir zu sagen, wer meine Eltern sind und warum sie nichts mit mir zu tun haben wollen.«

Elena legte eine Pause ein und versenkte den Blick ihrer klaren grauen Augen intensiv in die klaren grauen Augen ihrer Mutter.

»Die berühmte Ex-Mrs. Igor Wisneski hat schon in jungen Jahren bedeutende Männer fasziniert, wie?«, fragte Elena.

»Ich habe dafür bezahlt, dass du bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr gut versorgt wurdest«, gab Svetlana leise zurück. »Dein Vater hat nichts bezahlt, und es war schwierig, deinen Betreuern das Geld zukommen zu lassen, ohne dass jemand aufmerksam wurde.«

Elena lachte nur darüber. »Fünfzig Pfund monatlich! Du meinst, das sei viel Geld? Wahrscheinlich gibst du das für … für … deine Fingernägel aus!«, rief sie.

Also, das war unheimlich. Svetlana hatte die fünfzig Pfund im Monat tatsächlich immer unter »Maniküre« verbucht und die Nagelpflege ganz heimlich selbst übernommen. Es wäre gelogen zu behaupten, sie hätte nie an dieses Mädchen gedacht. Jedes Mal, wenn sie das Geld überwies, hatte Svetlana sich gefragt, wie es ihm wohl ginge. Und die gleiche Frage stellte sie sich, wann immer sie Mädchen in Elenas Alter sah. Elenas Geburtstag hatte sich schmerzhaft in ihr Herz gebrannt, und alljährlich hatte sie sich an diesem Tag bewusst gemacht, dass ihr unbekanntes Kind ein Jahr älter geworden war.

Svetlana sah genau hin und konnte nicht abstreiten, dass es gewissermaßen aufregend war, diese Person kennenzulernen. Als sie Elenas Gesicht betrachtete, las sie in den Zügen die Geschichte ihrer früheren Fehler.

»Warum bist du nach London gekommen?«, wollte sie wissen. »Was willst du von mir? Geht es nur um Geld?«

»Davon hast du doch reichlich, oder?« Elena schaute sich verachtungsvoll im Zimmer um.

»Ich habe hart dafür gearbeitet«, verteidigte Svetlana sich.

Elena lachte auf, bevor sie ausrief: »Indem du dir reiche Ehemänner geangelt hast?«

Svetlana reagierte mit einem verkrampften Lächeln. Elena hatte offenbar keine Ahnung, was eine Ehe mit einem reichen Mann mit sich brachte. »Glaub mir, ich habe sehr, sehr hart für all das hier gearbeitet.«

»Ha!«, kam die angewiderte Antwort. »Und wie viele Schönheitsoperationen hattest du, um mit fünfundvierzig noch so gut auszusehen?«

»Ah!« Svetlana schnappte so heftig nach Luft, als wäre sie in eiskaltes Wasser eingetaucht, und setzte automatisch zu ihrer üblichen Verteidigungsrede an: »Ich bin erst …« Doch dann entsann sie sich, dass es sinnlos war, dieses Mädchen anzulügen. Elena wusste Bescheid. Elena hatte ihre eigene Geburtsurkunde gesehen, Elena hatte vermutlich auch Svetlanas gesehen.

Sie musste weg. Sie musste raus aus diesem Haus. Elena und alle streng gehüteten Geheimnisse aus Svetlanas Vergangenheit mussten so schnell wie möglich in Angriff genommen werden.

»Was willst du von mir?«, schrie Svetlana. »Ich hole mein Scheckheft, und wir können uns einigen.« Doch sie sagte diese Worte mit schwerem Herzen: Sie wusste, es war Erpressung, und alles würde nur noch schlimmer.

»Behalte das Geld, das du im Bett verdient hast!«, lautete Elenas verächtliche Antwort. »Ich wollte dich lediglich kennenlernen. Habe ich nicht das Recht, meine eigene Mutter kennenzulernen?«

Schweigen lag bleischwer in der Luft. Svetlana saß reglos da und blickte in Augen, die genauso ernst, intelligent und trotzig wirkten wie ihre eigenen.

Elena wollte sie kennenlernen. Das war natürlich viel, viel besser als Geld. Elena wünschte sich jemanden, der sie mit offenen Armen willkommen hieß, der sie aufnahm, der ihr zu den richtigen Beziehungen verhalf, der sie ins Herz schloss, bei dem sie für immer am richtigen Platz war, nämlich im Schoß ihrer neu gefundenen Familie.

Wenn Svetlana nein sagte, an wen würde Elena sich dann wenden?

Vielleicht an die Presse … womöglich an Harry? Oder an Igor?!

Wenn Elena so viel über sie wusste, war sie bestimmt auch schon über Svetlanas Ehemänner, die früheren und künftigen, im Bilde.

Svetlana würde zustimmen müssen … aber vorsichtig, Schritt für Schritt, indem sie Elena sich und allen anderen vom Leibe hielt, bis sie Gelegenheit hatte, die Neuigkeit zu verkünden, ihre eigene Version der Geschichte zu erzählen.

Elena musste in sicherer Verwahrung bleiben, bis Svetlana Mrs. Roscoff war. Das stand außer Frage.

»Ich brauche eine Unterkunft«, offenbarte Elena.

Sie blickte zu Svetlana auf, und einen Augenblick lang glaubte die Ältere, eine gewisse Verletzlichkeit in ihrem Gesicht zu erkennen. Vielleicht war Elena gar nicht so furchterregend und mutig, wie sie sich gab.

»Hier kannst du nicht bleiben«, ließ Svetlana sie wissen. Sie musste an ihre Söhne, an Harry und an Igors Bestimmungen und Bedingungen denken.

»Du wirst doch jemanden kennen, bei dem ich wohnen kann«, drängte Elena. »Ich besitze kein Geld, um mich auf eigene Kosten irgendwo einzumieten. Ich habe alles, was ich hatte, für die Reise zu dir ausgegeben!«

Svetlana mochte ja reich sein, aber sie dachte nicht daran, einer Tochter, die sie kaum kannte, ein Hotel oder eine hübsche Wohnung zu finanzieren. Sie brauchte eine vorübergehende Bleibe, sie brauchte eine Freundin, die ihr diesen Gefallen tat.

Das Problem war nur, dass Frauen wie Svetlana keine wirklichen Freundinnen hatten. In ihrem Kreis glamouröser Gattinnen und Scheidungswitwen fand sich keine, auf die Svetlana hätte zählen können. Ein Skandal wie dieser – Svetlana Wisneskis verheimlichtes Kind der Liebe – würde wie eine wütende Wespe durch ihre Kreise brummen, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, wäre alles ihrem künftigen Mann und ihrem früheren Mann zu Ohren gekommen, die ihr zurzeit das Leben so angenehm gestalteten.

Einen Moment lang überschlugen Svetlanas Gedanken sich, doch sie fand keine Antwort, keine mögliche Lösung.

Dann kam ihr plötzlich die eine Frau in den Sinn, die bereits einige ihrer Geheimnisse kannte.

»Ich muss telefonieren«, informierte sie Elena, verließ das Büro und machte sich auf die Suche nach ihrem Handy.

Kaum lag es in ihrer Hand, drückte sie eine Schnellwahltaste.

»Ja?!«, meldete sich eine gereizte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Annah«, begann Svetlana, »ist etwas Entsetzliches passiert.«