37.
Uri will Eindruck schinden:
Anzug von der Stange (Ausverkauf bei Gieves & Hawkes)
Seidenhemd (dito)
Schwarze Schuhe (Ausverkauf bei Prada)
Rolex aus Stahl (eBay)
Geschätzte Gesamtkosten: 700 £
»Etwas wie dich findet man nur ein Mal im Leben.«
»Madame, pour votre plaisir aujourd’hui nous avons …«
Svetlana lauschte den Ergüssen des französischen Obers über die komplizierte und wunderbare Auswahl an Speisen auf der Tageskarte. Ihr Französisch reichte aus, um zu verstehen, dass alles unvergesslich einzigartig und köstlich war.
Aber schließlich befand sie sich ja auch im Maison Beaumonde, einem der berühmtesten und gefeiertsten Restaurants im Norden Frankreichs.
»Lass uns irgendwo zu Mittag essen, wo es phantastisch ist und wo du noch nie gespeist hast«, hatte Uri vorgeschlagen. Und dann hatte er sie zu ihrer Überraschung zum Hubschrauberlandeplatz im Westen Londons gefahren und sie persönlich (»Ich musste meinen Piloten entlassen, Krrreditkrrrrise«) in seinem Privathubschrauber über den Ärmelkanal in die Normandie geflogen, wo sie auf dem Grundstück des Restaurants landeten.
Die Belegschaft nahm es entschieden lässiger hin, als Svetlana erwartet hatte, doch das lag vielleicht daran, dass hier trotz des Wirtschaftsabschwungs an jedem Wochenende mehrere Hubschrauber landeten.
Svetlana dankte dem Ober mit einem Lächeln und senkte den Blick wieder auf die wunderschön handgeschriebenen Seiten der Speisenkarte. Sie sollte wirklich einmal etwas Neues wählen. Gerade hier sollte sie abenteuerlustig sein und etwas anderes probieren. Aber im Ernst, welchen Sinn hatte es, mit einem Mann wie Uri zu speisen, wenn man nicht den edelsten Champagner trank, unverschämte Mengen Kaviar und als nächsten Gang Hummer bestellte?
Dies bildete natürlich die teuersten Posten auf der Karte, und im Maison Beaumonde waren die Preise noch astronomischer als alles bisher Gesehene.
Also bestellte sie, und Uri lachte leise.
»Wieder das Gleiche«, neckte er sie und griff nach ihrer Hand.
»Meeresfrüchte sind so gut für den Teint«, erwiderte sie, »und für die Figur.«
»Das sehe ich«, schnurrte er.
Svetlana ließ das Händchenhalten zu und sah Uri lange und abschätzend an.
Er war noch jung. Jünger als Igor, jünger als Harry … möglicherweise sogar jünger als sie. Das war es, was sie überraschte. Sie hatte nicht mehr damit gerechnet, einen reichen Galan unter sechzig zu finden. Reiche Männer mochten ausnahmslos viel jüngere Frauen, Trophäenfrauen. Diese Bezeichnung gefiel ihr: Sie war gern die glänzende, geschätzte Trophäe in der Vitrine, oft herausgenommen, nur um sie vorzuzeigen.
Doch Uri hatte ihr anvertraut, dass er kein Interesse an irgendeiner »Identikit-Frau« hätte. Er interessierte sich für sie. Was hatte er im Hubschrauber gesagt? »Du bist wie ein einzigartiger makelloser Diamant, Svetlana. Dein Alter und die Tatsache, dass andere dich bereits genossen haben, können deinen Wert nicht mindern. Etwas wie dich findet man nur ein Mal im Leben.«
Süß, oder?
Besonders süß war Uri eigentlich nicht. Er war jung, sein Haar noch dunkel, und er sah so fit aus, doch sein Gesicht erinnerte Svetlana an das eines Hundes. Er hatte schmale Lippen und hungrige Augen.
»… dass andere dich genossen haben …« Während er ihre Hand in seiner hielt, überlegte sie, wie ungewöhnlich seine Vorlieben im Bett sein mochten. Sie sollte wirklich versuchen, eine frühere Geliebte aufzuspüren und es herauszufinden. Aber er war reich … Sie hatte ihn gegoogelt, und offenbar wusste niemand Genaueres. Harry war wohlhabend, doch Uri war reich. Superreich.
Schon dieser eine einsame Gedanke an Harry gab Svetlana ein merkwürdiges Gefühl. Er hatte die Hochzeit abgesagt! So etwas war ihr noch nie passiert. Ja, in der Vergangenheit hatten Männer die Ehe mit ihr aufgelöst. Aber niemand hatte jemals eine Hochzeit abgesagt!
Nachdem er, als Elena zurückgebracht worden war, aus dem Haus gestürmt war, folgte über mehrere Tage hinweg eine Reihe nervenaufreibender Telefongespräche. Svetlana hatte Harry angerufen. Er rief sie an. Sie telefonierte zurück. Und noch einmal. Und dann noch einmal, um ganz sicher zu sein. Doch was Harry anging, war es vorbei, und es würde ihr nicht gelingen, ihn wieder zu ködern, ganz gleich, was sie anstellte.
»Du hast mich belogen!«, hatte er so oft wiederholt. »Du hast mich als deinen Anwalt belogen. Wenn Igor jemals von diesem Mädchen erfährt, hat er Gründe, dich wieder vor Gericht zu zerren. Er könnte dir alles wegnehmen.« – Letzteres war es, was Svetlana umhaute.
»Du hast mich als den Mann, den du angeblich liebst, belogen, als den Mann, den du heiraten willst!« – Das war es, was Harry umhaute.
Jetzt hatten sie seit fünf ganzen Tagen nicht mehr miteinander gesprochen.
Svetlana konnte sich noch nicht daran gewöhnen. Sie hatte Uris Einladung angenommen, weil sie heute beschäftigt sein wollte, während die Jungen bei ihrem Vater waren.
Und Elena! Elena hielt sich immer noch in ihrem Haus auf, benutzte ihr Telefon, verzehrte ihre Lebensmittel, erteilte ihrem Mädchen Anweisungen! Schlimmer noch: Sie drohte, sich an die Presse oder an Igor zu wenden, falls Svetlana sie nicht bei sich wohnen lassen wollte. Svetlana war wütend auf sie. Sie kochte innerlich. Mehr als ein Mal war ihr der Gedanke gekommen, einen ihrer geheimsten, düstersten ukrainischen Kontakte auszugraben und das Problem Elena »lösen« zu lassen.
»Encore du champagne, madame?« Der Weinkellner stand neben ihr. Svetlana wusste, dass es ihr drittes Glas war, und der Kaviar war noch nicht einmal serviert worden … aber: »Ja, danke«, stimmte sie zu.
Wenn sie sich Harry aus dem Kopf schlagen und Uri in die Arme werfen wollte, brauchte sie noch ein, zwei Gläser.
Kurz vor elf Uhr am Sonnabendvormittag bog Harry in Svetlanas Straße ein. Nach einer neuerlichen schlaflosen Nacht und mehreren Stunden zielloser Wanderungen durch seine Wohnung in Kensington hatte er beschlossen, persönlich nach Mayfair zu fahren, sich zu entschuldigen und zu betteln, dass Svetlana ihn zurückkommen ließ.
Er hatte einen schrecklichen, hässlichen Fehler begangen.
Welcher Wahnsinn war über ihn gekommen?
Er musste sie zurückgewinnen und heiraten. Er konnte nur hoffen, dass er nicht zu lange gezögert hatte. Fünf Tage waren vergangen, und war ihm nicht früher schon so oft aufgefallen, wie Männer Svetlana wie Wölfe umkreisten und heißhungrig auf eine Gelegenheit lauerten?
Natürlich hatte sie ihm nichts von diesem Mädchen aus der Ukraine erzählt! Womöglich stellte sich heraus, dass das Ganze ein Schwindel war. Svetlana war flatterhaft, unsicher und völlig gestresst, redete Harry sich ein. Das Mädchen war zweifellos gekommen, um Geld zu fordern, und wenn Igor davon erfuhr, würde er es als Vorwand benutzen, um seiner Exfrau alles nehmen zu können.
Wie hatte Harry so mitleidlos sein können? Wie konnte er sich von ihr abwenden, statt ihr zur Hilfe zu eilen?
Und er konnte ihr helfen. Er war ihr Scheidungsanwalt. Er war derjenige, der die Regeln, die unter seiner Beteiligung aufgestellt wurden, in Kraft treten ließ. Er war derjenige, der eine einstweilige Verfügung erwirken konnte, um Elena den Kontakt mit ihrer Mutter oder jegliche Äußerung zu dem Fall der Presse gegenüber zu untersagen.
Harry fuhr hinter einer mächtigen schwarzen Limousine vor Svetlanas Haus an den Straßenrand. Der Fahrer hielt die Beifahrertür auf, und als die Haustür geöffnet wurde, rechnete Harry fest damit, im nächsten Augenblick die Liebe seines Lebens heraustreten zu sehen.
Wohin wollte sie? Wem gehörte der Wagen? Dann fiel es ihm wieder ein: Es war Sonnabend. Es war der Tag, den die Jungen bei ihrem Vater verbrachten, der häufig seinen Wagen schickte, obwohl er nur ein paar Straßen entfernt wohnte. Jetzt kamen sie: Petrov und Michael, der jüngere hinter seinem älteren Bruder. Harry lächelte ihnen unwillkürlich zu. Sie waren so klein und so ernst in ihren blauen Blazern, das dichte schwarze Haar zu Pagenfrisuren mit schwerem Pony geschnitten. Sie erinnerten Harry an seinen Jungen, Robin, der natürlich längst erwachsen war.
»Hallo!«, rief er hinüber, und beide ernsten kleinen Gesichter wandten sich ihm zu. »Fahrt ihr zu eurem Papa und macht euch einen schönen Nachmittag?«
»Wir fahren in Urlaub!«, antwortete Petrov mit aufblitzendem Lächeln. »Er nimmt uns mit zum Skifahren!«
»So, so! Wie schön! Da werdet ihr sicher viel Spaß haben, nicht wahr?«
Petrov zeigte ihm die hochgereckten Daumen.
»Ist Mummy zu Hause?«, fragte Harry.
»Nein«, antwortete Petrov. Er verschwand im Wagen, gefolgt von Michael.
Der Fahrer schloss die Tür, und weil die getönten Scheiben so dunkel waren, entzogen sich die beiden Jungen sogleich seinen Blicken. Der Fahrer ging um den Wagen herum zu seiner Tür, stieg ein und ließ den schnurrenden Rolls-Royce-Motor an.
Harry stand auf dem Gehsteig, sah ihnen nach und winkte fröhlich hinterher. Er versank in Erinnerungen an die Zeit, als Robin ein Junge gewesen, jeden Morgen im Taxi zu seiner Schule am anderen Ende der Stadt aufgebrochen war und genauso klein und ernst ausgesehen hatte wie diese beiden …
Erst als der Wagen um die Straßenecke bog und aus seinem Blickfeld verschwand, erschien es Harry merkwürdig, dass die Jungen kein Gepäck mitnahmen, wenn sie doch in Urlaub fuhren.
Und wenn sie verreisten, wäre dann nicht ihre Mutter hier, um sie zu verabschieden? Sie war ihren Söhnen gegenüber sehr fürsorglich. Eigentlich hatte sie Igor bisher nie gestattet, mit ihnen zu verreisen. Wenn es sich um ihren ersten Urlaub handelte, warum war sie dann nicht zugegen?
Sein Unbehagen wuchs, und er tastete seine Taschen nach seinem Handy ab.
Da steckte Maria den Kopf zur Haustür hinaus. »Kommen Sie herein, Mr. Harry?«, fragte sie.
»Momentchen, mein Kind … Wo ist Svetlana?«, wollte er wissen.
»Sie trifft Mann zum Mittagessen« – sie sagte es mit einem so missbilligenden Augenrollen, wie Maria glaubte, es sich erlauben zu dürfen. »Die Jungen besuchen Vater wie jedes Wochenende.«
»Aber sie sagten, sie fahren in Urlaub, zum Skilaufen?«
»Nein, nein, nein.« Das Mädchen schüttelte den Kopf.
In höchster Erregung gab Harry Svetlanas Kurzwahl, die 1, auf seinem Handy ein. Es klingelte und klingelte, mit zermürbend langen Pausen zwischen den Tönen. Die Mailbox meldete sich nicht, denn Svetlana mochte keine Nachrichten. Enttäuscht betrachtete Harry sein Handy. Er musste eine SMS senden. In zwei Wochen wurde er sechsundfünfzig, und SMS waren nicht unbedingt seine Stärke.
Er suchte die Tasten und begann mit der qualvollen Prozedur.
»Juni.«
Nein.
»Kino.«
NEIN! Zum Teufel mit der verflixten T9-Text-Eingabe, aber er hatte keine Ahnung, wie sie deaktiviert wurde.
»Jungen wenig.«
VERDAMMT!
»Jungen weg ruhe an.«
Die Botschaft würde sie wohl kaum richtig verstehen.
»Jungen entführt«, brachte er schließlich doch zustande.
Das war genug, das musste reichen.
Er schickte die Nachricht ab. Dann wartete er, draußen auf dem Gehsteig, während Maria immer noch an der Haustür stand und ihn verwundert musterte, auf Svetlanas Antwort.
Und wenn sie sich nicht meldete? Wenn Igor die Jungen außer Landes schaffte, während Svetlana mit … einem anderen Verehrer fürstlich speiste? Jetzt schon? Doch er zweifelte nicht daran, dass Frauen wie Svetlana nie lange allein blieben. Das war nun einmal so.
Harry wusste, wie schwer es war, Kinder zurückzubekommen, wenn sie sich erst einmal außer Landes befanden. Es war ein langwieriges, kostspieliges gerichtliches Verfahren, und Igor besaß reichlich Mittel, um es jahrelang hinauszuzögern.
Er begann, auf dem Gehsteig auf und ab zu laufen.
»Wo steckt sie?«, fragte er Maria. »Weißt du, in welchem Restaurant??«
Das Mädchen zuckte mit den Achseln. »Kommen Sie rein!«, drängte sie.
Doch da klingelte Harrys Handy.
»Harry? Was soll das?« Svetlanas Stimme klang verärgert. »Warum du machst dich lustig über mich? Ich habe zu tun.«
Zwischen ihnen gab es so viele Feinheiten zu klären – Tut mir leid, dass ich dich verlassen habe, willst du mich zurück? Ich will dich unbedingt zurück. Mit wem zum Teufel bist zu essen gegangen? –, doch dazu war keine Zeit.
»Ich habe gerade gesehen, wie die Jungen in Igors Wagen weggefahren sind«, fiel Harry mit der Tür ins Haus. »Sie sagten, er würde mit ihnen in Urlaub fahren, zum Skilaufen. Stimmt das?«
»Was?!«, lautete ihre verdutzte Antwort.
»Kann es sein, dass Petrov Witze gemacht hat?«, erkundigte Harry sich. »Hat er vielleicht etwas missverstanden?«
»Nein! Ist er sehr kluger Junge. Oh, Harry!«
In Svetlanas Stimme schwang eindeutig Angst mit. »Er bringt sie weg, damit er kriegt mein Haus! HARRY!«
»Ruf ihn an, sofort, und dann melde dich bei mir!«, wies Harry sie an und beendete daraufhin abrupt das Gespräch, denn er musste jetzt andere dringende Anrufe tätigen.
Das Handy ans Ohr gepresst, trat er ins Haus und begab sich in Svetlanas Salon im Erdgeschoss, denn er benötigte einen Tisch, Papier und Schreibzeug. Er musste sein Möglichstes tun, um ihr zu helfen.
Hätte jemand die Anrufserie belauscht, die nun einsetzte, wären ihm die knappen, abgehackten Instruktionen aufgefallen, mit denen Harry Roscow, Rechtsanwalt, ernsthaft zur Sache kam.
»Ronald, hallo, wie geht’s, alter Knabe? Ja … brauche einen Gefallen … mmm … noch dazu an einem Sonnabend …«
»Hallo, ja, ich habe eine gerichtliche Schutzanordnung. Fax sie an Gatwick, fax sie an Heathrow …«
»Guten Tag, können Sie mir sagen, welche Flugplätze im Großraum London von Privatjets angeflogen werden? Wer erteilt ihnen die Starterlaubnis?«
»Dann brauche ich also die BAA-Zentrale … Sie sind mir eine unglaublich große Hilfe.«
Nur ganz kurz sprach er mit Svetlana. Sie bestätigte, dass Igor sich bereits in St. Petersburg aufhielt, und nannte Harry alle Einzelheiten zu seinem Privatflugzeug, die ihr einfielen.
»Komm nach Hause!«, bat er drängend. »Wo bist du?«
»In Frankreich«, jammerte sie.
»Frankreich? Was zum Teufel … Komm einfach nach Hause!«, befahl er. Jetzt war keine Zeit für Fragen.
»Hallo, bitte die Polizei, es handelt sich um einen echten Notfall …«
»Ich warte auf die notwendigen Schriftsätze. In etwa einer Viertelstunde liegen sie vor … Aber jemand muss sie am Flugplatz in Luton vorlegen …«
Kommen wir rechtzeitig?, fragte er sich.