37

»SIE SITZEN IN den Bäumen!«

Schwarze Pfeile zischten durch die Takelage der Schwarzer Stachel und bohrten sich mit lautem Knall in die Planken. Andere brachen und prallten mit einem hellen Klacken von den zusätzlichen Planken ab. Das heulende Gebrüll der Rakkes erhob sich um sie herum. Andere, fremdartige Schreie mischten sich in die Kakophonie.

»Regimentssergeant, die Kanonen gehören dir!«, brüllte Konowa. Er kroch nach vorne und schob seinen Kopf vorsichtig über den Rand des Fasses mit, wie er vermutete, eingelegten Gurken. Sarka Har standen vereinzelt auf den Felsen. Hier auf dem blanken Gestein fanden sie nur wenig Halt, aber sie hatten sich durch ihre langen Wurzeln miteinander verbunden und stabilisierten sich gegenseitig. Von beiden Seiten des Flussufers strömten Rakkes auf das Schiff zu, liefen auf die Flussbänke und warfen Felsbrocken. Weiter hinten entdeckte Konowa die dunklen, undeutlichen Gestalten ihrer perversen Dunkelelfen. »Wir sind da, dank meiner Eltern«, sagte er und nahm sich vor, sich bei seinem Vater zu bedanken, wenn das alles hier vorbei war.

Er fragte sich gerade, was wohl mit Yimt passiert war, als er die Stimme des Zwergs hörte, die sich über den Lärm erhob. »Das ist für Ally! Feuer!«

Immerhin löste sich die Schwarzer Stachel nicht auf, jedenfalls nicht gänzlich. Die Salve aus über sechzig Kanonen erschütterte jedoch das, was von dem Schiff noch übrig war, bis in die letzten Spanten. Gewaltige Eichensparren zerknickten wie Reisig. Ganze Abschnitte des Decks brachen zusammen, und der Besanmast splitterte von unten bis zur Spitze, bevor er umfiel.

Die Wirkung dieser Salve am Ufer war auf eine Distanz von zweihundert Metern vernichtend. Ein tödlicher Sturm fegte über die Felsen und mähte wie mit einer Million Sicheln alles nieder, was sich dort befand. Dunkelelfen, Rakkes und Sarka Har verschwanden einfach in einem Nebel aus pulverisiertem Holz, Knochen, Haut und Blut. Konowa versuchte aufzustehen, aber einen Moment lang verweigerten seine Beine ihm den Dienst. Das Klingeln in seinen Ohren war so laut, dass es sich wie ein einziger, lang gezogener Heulton anhörte. Als er schließlich sein Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden hatte, stand er auf und hustete wegen der dichten Rauchwolke, die jetzt die Schwarzer Stachel einhüllte. Als sie sich schließlich auflöste, sah Konowa einfach Unglaubliches. Selbst die Felsen hatten Narben von der Kanonade der Schwarzer Stachel davongetragen. Alles war zerborsten und narbig.

»Ich hätte gern noch ein paar Kanonen mehr gehabt, aber unter dem Strich würde ich sagen, es hat funktioniert«, erklärte Yimt, der zum Bug schlenderte. »Glaubst du, dass Ally das gesehen hat?«

Konowa blickte auf den Zwerg hinab. »Er hat es gesehen, es gefühlt, und ganz bestimmt hat er es gehört.«

Yimt strahlte, dass seine metallenen Zähne glänzten. »Ja, das glaube ich auch.«

Korporal Feylan kam zum Bug gelaufen. »Colonel! Das Schiff beginnt zu treiben.«

Konowa brauchte einen Moment, bis er begriff, was das bedeutete. Dann dämmerte es ihm. »Alle runter vom Schiff! Wir haben unsere freie Fahrt gehabt, aber hier ist die Reise zu Ende. Die Schwarzer Stachel treibt jetzt den Fluss wieder hinunter.«

Hastig wurden Planken über die Steuerbordseite geschoben, die jetzt kaum noch zwei Meter vom Flussufer entfernt war. Einige Männer sprangen vom Schiff hinunter ins Wasser, aber die meisten warteten ab, bis sie an der Reihe waren, und gingen dann über die Planken an Land. Konowa beobachtete die Prozession und bemerkte, dass das Schiff immer schneller rückwärts trieb. Das Ende der Laufplanken kratzte auf den Felsen.

»Es tut mir leid um Ihr Schiff«, sagte Konowa zu Kapitän Ervod.

»Sie hat uns gute Dienste geleistet. Ich werde …«

Die Schwarzer Stachel ruckte heftig, neigte sich nach Steuerbord und beendete die Lobrede des Kapitäns. Der Mann stolperte, fiel von der Laufplanke und landete im Wasser direkt am Flussufer, wo seine Matrosen ihn herausfischten. Konowa rannte über die Laufplanke und stolperte die letzten Meter, bis er unsanft auf den Felsen landete. Als er zurückblickte, bemerkte er voller Entsetzen, dass sein Vater immer noch auf dem Schiff war. Der alte Elf stand vor dem schimmernden Abbild seines Ryk Faur.

»Vater! Runter vom Schiff!«

Jurwan streckte die Hand aus, tätschelte die Borke des Baumes, drehte sich dann um und ging langsam über das Deck und die Laufplanke, als wäre sein Leben nicht in ernster Gefahr. Ein Schatten zuckte über Konowa hinweg, und er blickte hoch. Tyul sprang anmutig von dem Baum herab und landete elegant auf den Felsen, so leicht wie ein, nun, wie ein Blatt. Das Bildnis der Wolfseiche flackerte einmal auf und verschwand.

Einen Moment später drehte sich die Schwarzer Stachel vollständig auf die Seite, und ihre restlichen Masten zersplitterten auf den Felsen, während das Schiff vom Fluss mitgerissen wurde. Kanonen rutschten über das Deck und landeten klatschend im Wasser, dann schüttelte sich das Schiff einmal und zerbrach in mehrere Teile.

»Ein trauriges Ende für ein tapferes Mädchen«, sagte Rallie und kritzelte in ihren Papiere.

Konowa konnte nur zustimmend nicken. Er rappelte sich hoch und klopfte sich die Hose ab. Ein Soldat reichte ihm seinen Tschako, den er aufsetzte. Als er sich umsah, bemerkte er, dass die Matrosen in Gruppen zusammenstanden und ziemlich verloren wirkten. Allerdings waren sie bewaffnet. Regimentssergeant Arkhorn hatte offenbar an alles gedacht.

»Kapitän«, sagte Konowa. »Das war zwar nicht Teil des Plans, aber ich gehe davon aus, dass es nicht anders zu erwarten war. Es kommt mir zwar nicht richtig vor, Sie hier zurückzulassen, aber wenn Sie uns begleiten …«

Kapitän Ervod schüttelte den Kopf. »Wir würden Sie nur aufhalten und Ihnen im Weg stehen. Außerdem habe ich Verwundete. Wir werden uns hier so gut wie möglich verschanzen. Je nachdem, was da oben passiert, haben Sie dann hier einen Ort, an den Sie sich zurückziehen können.«

Konowa lächelte. Wenn sie einen Rückzugsort brauchen würden, könnten sie genauso gut darauf verzichten; sie würden keine Gelegenheit mehr haben, sich irgendwohin zurückzuziehen, weil sie dann tot wären. »Passen Sie auf sich auf«, sagte Konowa und salutierte.

Kapitän Ervod erwiderte den Gruß. »Möge guter Wind mit Ihnen sein.«

Das Schlagen von Schwingen ließ alle hochblicken. Konowa grinste.

»Genau das ist gerade geschehen.«

Ein riesiger Falke von der Größe eines Pferdes landete auf den Felsen in der Nähe der Gruppe. Er legte seine Fracht ab, bevor er ungeschickt zu Rallie hüpfte, die den Vogel tätschelte und zärtlich auf ihn einredete. Konowa lief zu Visyna und umarmte sie, ohne auf das Frostfeuer zu achten. Sie erwachte mit einem Schrei, und er ließ sie zögernd los, nur um im nächsten Moment von Jir umgeworfen zu werden. Der Bengar wollte sich gerne mit ihm balgen, aber Konowa konnte ihm nur ein paar spielerische Knüffe versetzen, bevor er aufstand und Jir mit einer Handbewegung bedeutete, von ihm abzulassen. Konowa konnte sich zwar nicht vorstellen, wie und wo Visyna, Jir und der Leichnam seiner Mutter von dem Riesenfalken eingesammelt worden waren, aber das war ihm im Augenblick auch ziemlich gleichgültig.

Stille breitete sich aus, als Jurwan zu Chayiis Leiche trat. Konowa folgte ihm und kniete neben seinem Vater nieder. »Es tut mir leid. Ich habe das Gefühl, als hätte ich …«

Jurwan hob eine Hand. »Sie war stolz auf dich. Immer. Sie mag nicht mit dem Pfad einverstanden gewesen sein, den du eingeschlagen hast, und auch nicht damit, dass ich geholfen habe, dich auf diesen Pfad zu führen, aber sie hat das Gute in dir nie angezweifelt. Das musst du wissen. Und halte dich daran.«

Konowa begriff, dass er genau das tat. »Wir müssen gehen, Vater. Sie wird wissen, dass wir hier sind.«

Jurwan stand auf und drehte sich zu ihm herum. »Ja, du musst gehen. Ich jedoch werde hier bei deiner Mutter bleiben.«

Konowa öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch dann verstand er. »Gewiss. Du hast schon einmal ihren Berg erklommen. Besser, du bleibst hier und hilfst den Matrosen. Jetzt bin ich an der Reihe.«

Jurwan nickte. Er streckte die Hand aus und legte sie auf die Brust über Konowas Herz. Seine Handfläche ruhte auf der schwarzen Eichel.

»Wenn all das vorbei ist, willst du sie vielleicht einpflanzen.«

Konowa nahm sanft die Hand seines Vaters von seiner Brust. »Sie ist böse. Sieh, was sie dir angetan hat. Und stell dir vor, was sie als Baum bewirken könnte.«

Jurwan nickte. »Vielleicht. Vielleicht hat aber auch ihre Nähe zu deinem Herzen die Eichel im Laufe der Zeit mehr verändert, als sie dich verändert hat.«

»Ich muss jetzt gehen, Vater«, sagte Konowa und trat zurück. Er hob eine Hand und wusste, dass Regimentssergeant Arkhorn auf diese Geste hin die Truppen in Bewegung setzen würde. »Bleib hier, bleib in Deckung und … ich liebe dich.«

»Viel Glück, mein Sohn«, antwortete Jurwan.

Konowa sah ihn noch einmal an, dann drehte er sich um und setzte sich in Richtung Bergspitze in Bewegung. Er ging langsamer, damit Visyna mit ihm mithalten konnte. Rallie tauchte hinter ihnen auf und schloss sich ihnen an. Konowa fühlte sich wohl, als die beiden Frauen ihn einrahmten, aber er wusste, dass sein Platz an der Front war.

Er wandte sich an beide Frauen gleichzeitig. »Was auch immer passiert, sie gehört mir. Ich werde sie erledigen.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Konowa …«, setzte Visyna an, aber sein Blick brachte sie zum Schweigen.

»Sie gehört mir.« Er sah Rallie an.

»Wie Sie wollen. Ich war ohnehin immer nur als Beobachterin dabei«, erklärte sie.

Konowa musterte sie noch einen Augenblick scharf, dann drehte er sich wieder zu dem Weg um, der zum Berg hinaufführte. Er schätzte, dass sie den Gipfel kurz vor Einbruch der Nacht erreichen würden, aber er hatte vor, alleine vorauszulaufen. Er konnte es nicht erklären, aber der Traum war ganz eindeutig. Es hing alles nur von ihm ab.

»Major Alstonfar, beschleunigen wir ein bisschen das Tempo, die Schwarzer Stachel hat es ausgezeichnet verstanden, alles zu verscheuchen, was sich im Umkreis von einigen Meilen aufgehalten hat, also sollten wir die Zeit nutzen, solange wir können.«

Der Befehl wurden von Soldat zu Soldat weitergegeben, was nicht besonders lange dauerte, da das Regiment nur noch etwas mehr als fünf Dutzend Mann zählte. Sergeant Aguom befahl, die Regimentsfahne und das Banner der Königin zu entrollen. Die beiden Flaggen wurden erhoben und flatterten knatternd im Wind. Konowa nahm sich einen Augenblick Zeit, sie zu betrachten. Stolz und Ehre durchfluteten ihn. Sein Herz schlug schneller, als er die beiden Fahnen in der Luft sah. Er betrachtete seine Männer. Sie waren ein bemerkenswerter Anblick. Mit den schwarzen Panzern aus Borke und den Zweigen, die aus ihren Tschakos ragten, sahen sie mehr aus wie die Monster, gegen die sie kämpfen würden, nicht wie Calahrias Elitetruppe.

Seine Brust schwoll vor Stolz bei diesem Anblick. Das waren zwar nicht seine Elfen, denn die waren schon lange verschwunden, schon vor ewiger Zeit. Er hatte nie die Chance bekommen, sich bei ihnen zu entschuldigen oder zu versuchen, ihnen die Gründe für seine Tat klarzumachen, und warum er, wenn er noch einmal vor dieser Entscheidung stehen würde, dasselbe tun würde. Er hatte viel Zeit damit verbracht, nach ihnen zu suchen, und geglaubt, dass sich alles klären würde, wenn er sie nur fände, um dann zu begreifen, dass er seine eigentlichen Stählernen Elfen die ganze Zeit bei sich gehabt hatte. Dieser zusammengewürfelte Haufen von Ausgestoßenen war sein Regiment. Regimentssergeant Arkhorn war vermutlich der beste und schlimmste Soldat, der jemals eine grüne Jacke getragen hatte. Er betrachtete die Soldaten, die er am besten kannte, sah jedem in die Augen, vielleicht zum allerletzten Mal: Fahnensergeant Aguom, den Korporalen Vulhber und Feylan, Scolly und sogar Zwitty. Dann merkte er, dass seine Blicke Soldaten suchten, die schon lange nicht mehr da waren. Regimentssergeant Lorian, die Soldaten Miri, Kester, Teeter und der religiöse Bauer Inkermon, vor allem aber Soldat Renwar. Er konnte immer noch den schlanken Jungen vor sich sehen, der viel zu jugendlich wirkte, als dass er eine Muskete hätte tragen sollen, und sich vor seinen Augen in etwas verwandelt hatte, das Konowa niemals wirklich begreifen würde.

Er ertappte sich dabei, dass er sich in Tagträumen verlor, und stampfte mit dem Stiefel auf den Boden. Es wurde Zeit. Er nickte Major Alstonfar zu, und der Befehl wurde gegeben.

Die Stählernen Elfen schulterten ihre Musketen und marschierten los, in die Schlacht.