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DIE WURZELN DER Sarka Har dehnten sich bis zum Zerreißen auf ihrer Suche nach Macht. Sie befanden sich jetzt schon so tief unter der Wüste, ohne irgendetwas gefunden zu haben, dass die Bäume an der Oberfläche begannen zu verwelken und zu sterben. Ohne eine neue Machtquelle, um ihn zu ernähren, würde ihr Forst in diesem Land schon bald aufhören zu existieren. Es blieb den Blutbäumen keine Wahl, als immer tiefer vorzudringen. Dieser Spalt in dem aufgeworfenen Fels, dem sie bis jetzt gefolgt waren, war ihre letzte Chance. Etwas musste sich am Ende des Ganges befinden.
Tat es auch.
Eine Wurzel streifte einen ledrigen, glatten Gegenstand. Die Wurzel des Sarka Har schlang sich um dieses merkwürdige Etwas, umkreiste es behutsam, ohne es aufzuschrecken. Alles, was in dieser Tiefe gefunden wurde, gebot äußerste Vorsicht. Weitere Wurzeln folgten der ersten, fächerten aus und fanden andere, ähnliche Objekte. Sie berührten sie, und als nichts geschah, schlangen sie ihre Wurzeln um diese seltsamen Gegenstände.
Im selben Moment wurde deutlich, dass diese Objekte anders waren als alles, dem sie bisher begegnet waren. Ihre Oberfläche war hart, aber nicht spröde. Sie waren rund, aber ein Ende war größer als das andere, was eine etwas verzerrte, ovale Form erzeugte. Am merkwürdigsten jedoch war die Tatsache, dass diese Objekte hohl waren, hohl, aber nicht leer. Jedes von ihnen war groß genug, um einen erwachsenen Elf aufzunehmen … oder etwas anderes von dieser Größe.
Die Wurzeln bohrten ihre Spitzen in die Gegenstände, durchbrachen die dünnen Wände. Sie hatten keine Ahnung, was sie da gefunden hatten, aber am Boden eines jeden Objektes befand sich eine Pfütze fast gänzlich geronnener, bräunlicher Flüssigkeit. Als Reste der Hülle und Erde hineinfielen und in der Flüssigkeit landeten, wirbelten sie fettige Streifen von noch dunklerer Flüssigkeit auf, die einen bekannten, bitteren Geschmack absonderten.
Ja. Das war genau das, was ihr Forst benötigte. Das war uralte Macht.
Die Sarka Har konnten es nicht wissen, aber sie waren auf Eier gestoßen, auf potenzielles Leben, das vor langer Zeit aufgegeben und dem langsamen Tod tief in der Erde überlassen worden war, und zwar von den Letzten einer uralten Rasse von Kreaturen, die einst diese Welt beherrscht hatten. Und selbst wenn die Sarka Har es gewusst hätten, hätte es nichts an ihrem Verhalten geändert.
Ihre verzweifelte Suche nach Nahrung war endlich belohnt worden.
Wurzeln bohrten sich in die bräunliche Brühe und pumpten sie hoch zu den sterbenden Bäumen an der Oberfläche.
Die Veränderung erfolgte fast unmittelbar und war furchteinflößend.
Die wenigen Sarka Har, deren Wurzeln direkt bis zu der neu gefundenen Macht reichten, wurden rasch größer. Zweige, die zuvor noch dünn und brüchig gewesen waren, erblühten jetzt, als die braune Brühe in sie strömte, die flüssigen Reste vor langer Zeit gestorbener Embryonen. Und während sie wuchsen, begannen sie sich zu verdrehen und sich aneinander zu reiben, um ihre alte Rinde abzuwerfen. An ihrer Stelle tauchte eine schützende Rüstung aus mattschwarzen Schuppen auf. Blätter schossen aus den Ästen wie Pfeile, die von einem Bogen abgefeuert wurden. Ihre scharfen Spitzen waren zwanzig Zentimeter lang, und sie troffen von einer roten Flüssigkeit, die an Blut erinnerte. Gleichzeitig entfalteten sich die Blätter und enthüllten eine Vielzahl unterschiedlicher Formen. Jede einzelne von ihnen wirkte im Licht des fallenden Schnees wie durchsichtig. Durch die Adern in den Blättern strömte die blutähnliche Flüssigkeit, und die Blätter veränderten ihre Farben, wechselten rasch von Grün über Braun nach Rot und auch zu anderen Farben, während sie im Wind schwankten.
Aber die Sarka Har hatten nicht nur Energie gefunden. Sie waren schlichte Kreaturen, deren einziger Zweck darin bestand, das Überleben und die Fortdauer ihres Reiches zu gewährleisten. Jeder von ihnen war nur ein dunkler, verkümmerter und perverser Sprössling der großen Silbernen Wolfseiche der Schattenherrscherin. Jetzt jedoch erfuhren jene Bäume, die von den toten Eiern gefressen hatten, eine unerwartete Nebenwirkung. Sie waren nicht länger primitive Kreaturen, die aus einem Instinkt heraus handelten. Sondern eine grobe Art von Intelligenz durchdrang die Sarka Har und löste etwas noch weit Bedrohlicheres aus: Sie begannen, eigenständig zu denken.
Einfache, klare Gedanken krochen durch ihr Kernholz, drangen in jeden Zweig und jedes Blatt. Bilder von einer Zeit, die schon längst vergessen war, prägten sich in jede einzelne Faser. Es war eine brutale Welt gewesen, eine, in der weit mehr Tod und Gefahren geherrscht hatten als in der jetzigen. Jeder Gedanke traf die Sarka Har wie ein Blitzschlag. Sie zitterten und bebten, als dieses neue Bewusstsein sie durchdrang.
Sie mussten sich bewegen. Wenn sie hier in dieser wilden Wüste blieben, würden sie sterben. Aber die anderen Sarka Har würden das nicht zulassen.
Die verwandelten Sarka Har, die mit mehr als vier Meter Höhe ihre Brüder weit überragten, spreizten ihre Zweige, sahen durch Berührung und schmeckten die Luft mit ihren Blättern. Sie begriffen, wie anders sie waren als die anderen. Sie begriffen, dass sie von einem Netz aus Wurzeln an ihrem Platz festgehalten wurden, das tief in den Boden reichte. Deshalb rissen sie sich aus der Erde, durchtrennten ihre Wurzeln, als die letzte braune Brühe aufgezehrt war. Schmerz war ihnen nicht neu, aber das Verstehen des Schmerzes war neu. Und es erfüllte sie mit einer vollkommen neuen Empfindung: Wut.
Sie ignorierten die blinde Wut der Sarka Har um sie herum, die sich nicht verändern konnten, und konzentrierten sich auf ihr eigenes, wachsendes Bewusstsein. Wenn sie sich bewegen wollten, konnten sie nicht bleiben, wie sie waren. Mehr Schmerz war erforderlich.
Erheblich mehr.
Sie bildeten aus den verbliebenen Resten der Wurzeln zwei unterschiedliche Formen. Die erste drehte sich zu einer Art Korkenzieher, der sich wieder in den Boden bohrte und den Baum an der Stelle verankerte. Der zweite nahm die Form einer gewaltigen Klaue an und begann Zentimeter um Zentimeter in die andere Richtung zu kriechen. Die Sarka Har stöhnten, als die Spannung in ihrem Stamm wuchs. Risse zeigten sich in der neuen Rinde, die sich schnell bis in das Holz darunter fortsetzen. Je weiter die Klauen vorankrochen, desto größer wurden die Risse, bis die Nacht von explosiven Geräuschen erfüllt wurde, von Reißen und Splittern.
Diese Sarka Har hatten jetzt Beine.
Sie zogen die Korkenzieherwurzeln aus dem Boden und machten die ersten ungelenken Schritte über die Linie der Macht, die vom Juwel der Wüste gezogen worden war. Funken stoben, als sie die Linie überschritten, Flammen flackerten auf, erstarben jedoch wieder. Dieses Neuland war ungastlich, die Erde durchdrungen von der Macht des Sterns. Aber die Sarka Har blieben auf seiner Oberfläche und wurden nicht davon niedergestreckt.
Jeder Schritt war eine stockende, ungelenke Bewegung, bei der die Bäume zu stürzen drohten, aber sie lernten schnell, wie sie ihre Zweige schwingen mussten, damit sie als Gegengewicht wirkten. Die Sarka Har hatten gelernt zu gehen.
Während sie gingen, verwandelten sie sich weiter. Um sich besser über die schneebedeckte Wüste bewegen zu können, veränderten die Sarka Har ihre Form in etwas, das besser geeignet war, aufrecht über größere Entfernungen zu reisen. Ihre Stämme teilten sich weiter auf und verlängerten so die beiden Teile, die sie als Beine benutzten, während ihre Zweige sich zusammenwickelten, um zwei rudimentäre Arme zu bilden.
Zwei Sarka Har jedoch nahmen eine andere, schwierigere Gestalt an, da sie eine Schablone gefunden hatten, die lange in der Macht der braunen Brühe verloren gewesen war. Ihre Verwandlung war weit schmerzhafter und zeitraubender. Zweige zerrissen, Stämme splitterten, als die beiden Sarka Har sich neu erschufen. Brühe spritzte auf den Schnee und dampfte, während sie brannte. Blätter wurden vom Wind verweht, aber an ihre Stelle traten weit mehr Blätter, größere, stärkere. Sie wuchsen nicht hoch, sondern in die Länge, erstreckten sich über den Boden. Es war ein merkwürdiges und schreckliches Gefühl für einen Baum, zur Erde zu fallen, aber je weiter die Transformation fortschritt, desto mehr erkannten sie die Macht dieser neuen Haltung. Als die Transformation vollendet war, waren die anderen Sarka Har längst verschwunden und ihre Spuren im Schnee bereits vom Wind verwischt. Doch das spielte keine Rolle. Diese beiden Sarka Har hatten ein neues Mittel gefunden, wie sie reisen konnten, und außerdem wussten sie, wohin ihre Brüder sich gewandt hatten.
Tief im Kernholz eines jeden verwandelten Baumes lebte eine glühende Intelligenz, die sich selbst an ihre neu gefundene Gestalt anpasste, nachdem sie ungezählte Jahrhunderte lang geschlummert hatte. In den Sarka Har fand sie nur wenig – bis auf eines, etwas Reines … den Hass auf Elfen. Er war eigentlich ein verzerrtes Echo einer Emotion, die so tief in der Silbernen Wolfseiche der Schattenherrscherin wurzelte, dass ihre Eicheln das Gift dieses Gefühls weiterverbreiteten. Die Emotion ihrer Silbernen Wolfseiche war ein verwirrter Mahlstrom aus Wut und Liebe, der auf einen einzelnen Elf zielte. Als Ergebnis davon reproduzierte der Forst, der aus ihren Eicheln wuchs, diesen Hass in jedem einzelnen Sarka Har. Diese neuen Sarka Har fühlten den Hass tief in ihrem Inneren lodern, und obwohl sie nur wenig begriffen, wurden sie trotzdem davon angetrieben. Und anders als die Sarka Har, die sich nicht verwandelt hatten, vermochten diese Bäume mehr zu tun, als nur zu warten. Sie konnten sich bewegen, also konnten sie jagen. Ihre Blätter schmeckten die Witterung von Elfen in der Luft. Sie waren nicht weit.
Ohne seinen Namen zu kennen, seine Geschichte oder auch nur zu wissen, was es war, setzten sich die verwandelten Sarka Har in Bewegung, auf einen einzelnen Punkt in den Südlichen Einöden zu.
Suhundams Hügel.
Marschieren bedeutet, den Körper mit der Aufmerksamkeit eines Folterknechtes für Details zu malträtieren. Körnchen, die zu klein sind, als dass man sie sehen könnte, finden diesen perfekten Ort zwischen Haut und Riemen, reiben die Haut, bis sie Blasen wirft, Eiter absondert und Blut, Hemden durchtränkt und die Stiefel mit einer stinkenden roten Flüssigkeit füllt. Muskeln und Sehnen schmerzen so schrecklich, dass die ersten Nadelstiche der Taubheit fast eine willkommene Erleichterung darstellen. Die Schultern gleichen kochenden Kesseln von Qualen, die noch schmerzen, lange nachdem man die Rucksäcke abgeschüttelt hat, während einem bei jedem Schritt wilde Gedanken an Amputationen durch den Kopf schießen.
In seinen zynischen Momenten überlegte Konowa, dass alles auf teuflische Weise genauso geplant war. Soldaten wissen nur wenig über einen Marsch zu berichten, das man in Gesellschaft von Damen wiederholen könnte. Und wenn weder ein Offizier noch ein Sergeant in der Nähe ist, fangen ihre Kommentare zumeist damit an, dass sie ihren Ekel herauskotzen, und das aus gutem Grund. Die Aussicht auf eine Schlacht, ganz gleich wie erschreckend sie auch sein mag, beginnt im Geist des Soldaten als Erlösung von diesem verdammten Marsch zu erscheinen.
Konowa unterdrückte diese Gedanken und ließ seinen Blick über die ungastliche Wüste gleiten, die jetzt mit Schnee bedeckt war. Das allein war schon fast beunruhigend genug. Was noch gestern eine kochende Senke aus gebleichtem Sand und vom Wind erodierten Fels gewesen war, wirkte jetzt wie eine unnatürliche Tundra, kalt und erbarmungslos. Dass die Stählernen Elfen sich anschickten, mitten in diesen Schlund zu marschieren, war weit weniger besorgniserregend als das, was sie auf der anderen Seite erwartete. Jedermann wusste, dass die Schattenherrscherin und ihre Kreaturen am Ende dieser Reise auf sie warteten. Dieser Marsch musste schon durch etliche Höllen führen, wenn einem diese Aussicht als positiv erscheinen sollte.
Konowa tat sein Bestes, um seine Männer aufzumuntern. »Nur ein kurzer Abstecher zur Küste, Jungs. Es ist zwar nicht direkt ein Spaziergang im Park, aber wir schaffen das schon.« Die Soldaten nickten; die meisten, weil er sie ansah, aber er hoffte sehr, dass einige darunter waren, die ihm wirklich glaubten.
»Vergesst nicht, dass der Prinz eine ganze Flotte dabeihatte, als wir an Land gegangen sind«, fuhr Konowa fort. »Zugegeben, diese Marinetypen sind ein bisschen wässrig, aber sie sind für uns da, wenn wir sie brauchen.« Hoffe ich.
Konowa beendete seine aufmunternde Rede und schlenderte zwischen den Männern entlang. Jeder Soldat war damit beschäftigt, den Inhalt seines Rucksacks zu kontrollieren, ihn anzuheben und sein Gewicht zu schätzen, weil er genau wusste, dass jedes Gramm, das er trug, in wenigen Stunden zu zehn Pfund Schmerzen werden würde. Der Inhalt der Rucksäcke wurde auf den Schnee gekippt und erneut untersucht, während die Soldaten scharf darüber nachdachten, was sie behalten sollten und was zurückgelassen werden konnte.
»Du wirst bald feststellen, dass dein Magen sich wünscht, du hättest dies hier behalten«, sagte Konowa, der bei einem Soldaten stehen geblieben war, der im Schnee kniete und den knochenharten Zwieback aussortierte, der ihnen aus den Provianträumen der HMS Schwarzer Stachel ausgehändigt worden waren. Feygan … Feyran … Konowa versuchte es, aber er konnte sich an den Namen des Mannes nicht erinnern, falls er ihn überhaupt jemals gewusst hatte. Der Soldat war dürr und seine Uniform so staubig und zerrissen, dass er mehr wie ein Bettler aussah, der in einem Müllhaufen wühlte.
»Mein Magen hat aber nicht den Wunsch zu sterben, und wenn deiner sich danach sehnt, dann kannst du sie dir gerne nehmen«, erwiderte der Soldat, hob dann den Blick und registrierte, mit wem er sprach. Er sprang auf und salutierte. Die Augen in dem hageren, sonnenverbrannten Gesicht, das mit Schwarzpulver verschmiert war, starrten Konowa an, immer noch mitgenommen von der Schlacht. Konowa erkannte diesen Blick und wusste, dass seine eigene Visage genauso erschreckend wirken musste. Er erwiderte den Gruß und bedeutete dem Soldaten, mit seinem Packen weiterzumachen.
»Du hast recht, an ihren Geschmack muss man sich gewöhnen. Trotzdem, wenn du sie in einen Krug mit Arr tauchst, werden sie fast essbar.«
Der Soldat sah ihn verwirrt an. Dann hob er die Hand und schob sich eine Strähne fettigen blonden Haares aus der Stirn. »Nun, Sir, ich habe versucht, einen Zwieback an eine Ratte auf dem Schiff zu verfüttern. Das kleine Miststück hat einmal daran geschnüffelt und ist dann in die entgegengesetzte Richtung abgezischt.«
Konowa konnte den Soldaten ebenfalls riechen und vermutete, dass die Ratte nicht nur auf den Zwieback reagiert hatte. Keiner von ihnen, bis auf den Prinzen vielleicht, war im Augenblick besonders frisch. »Clevere Ratte. Wie sieht es bei dir mit Kartuschen aus?«
Die Miene des Soldaten hellte sich auf. »Damit habe ich mir die Taschen vollgestopft, Major. Diese heidnischen Krieger benutzen Kugeln, die nur eine Winzigkeit kleiner sind als unsere. Sie werden vielleicht ein bisschen klappern, wenn sie aus der Mündung kommen, aber wir haben so viele aufgesammelt, wie wir nur konnten. Ich vermute, dass unsere Musketen trotzdem immer noch genau treffen, zumindest auf etwa hundert Meter.«
Diese Kartuschen waren nicht das Einzige, das die Stählernen Elfen den gefallenen Kriegern der Hasshugeb wegnahmen, die um sie herum im Sand lagen. Außer Schmuck und Geldmünzen, die rasch in den Taschen verschwanden, wurden auch Gürtel, Umhänge, Dolche und Wasserschläuche aus Ziegenhaut unversehens zu Uniformteilen des Regiments erklärt. Konowa registrierte mit Staunen, dass der Prinz zu diesem Thema nichts zu sagen hatte. Das Äußere seiner Soldaten unterschied sich vollkommen von dem Aufzug auf dem Exerzierplatz, wie er ihn vor einigen wenigen Monaten noch gefordert hatte. Erneut regte sich in Konowa dieses merkwürdige Gefühl von Hoffnung. Wenn der Prinz lernen kann, wer kann dann sagen, was noch möglich ist?
»Also gut«, sagte Konowa und hielt dann inne. Eine Frage bildete sich in seinem Kopf, und er wusste nicht, wie er sie stellen sollte oder ob er sie überhaupt äußern sollte. Er wusste, dass die meisten Offiziere – und das traf ganz gewiss auch auf den Prinzen zu – sich bei keinem Soldaten erkundigen würden, wie es ihm ging. Soldaten machten, was man ihnen sagte. Zumeist akzeptierte Konowa dies als gegeben. Er glaubte jedoch auch, dass ein Soldat besser kämpft, wenn er seine Lage versteht, jedenfalls so weit, wie er in der Lage ist, sie zu begreifen. Das bedeutete, die Offiziere mussten ebenfalls Dinge verstehen, und vor allem mussten sie wissen, wie es in den Herzen und Köpfen der Soldaten aussah.
Konowa merkte, dass der Soldat ihn anstarrte. »Wie geht es dir?«, fragte er einfach.
Der Soldat deutete auf seine Brust. »Mir, Sir? Besser als den meisten anderen«, antwortete er und deutete in Richtung Schlachtfeld. »Ich bin noch da, hab alle meine Gliedmaßen, keine zusätzlichen Löcher im Pelz und kann es kaum erwarten weiterzumarschieren.«
Konowa lauschte auf einen Anflug von Sarkasmus, konnte jedoch nichts davon aufspüren. »Du hast es eilig, zur Schattenherrscherin zu kommen?«
Der Soldat zuckte mit den Schultern. »So könnte man das sagen, Sir. Wie ich und die Jungs das sehen, haben wir die Sache mit dem Schwur hinter uns, wenn wir den Berg der Elfenhexe erklettern und sie auf der anderen Seite hinunterwerfen. Wenn das erledigt ist, denke ich, lasse ich mir meinen Sold auszahlen, ziehe mich aus dieser Armee zurück und nehme eine neue Arbeit an, eine, die etwas weniger gefährlich ist, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Konowa verstand nur zu gut. »In einem Geschäft arbeiten, vielleicht, oder einen Milchkarren fahren?«
Der Soldat riss die Augen weit auf und schüttelte heftig den Kopf. »Himmel nein, Sir. Ich dachte eigentlich daran, in die Marine einzutreten. Abgesehen einmal von diesem Zwieback hat sich die Seeluft irgendwo tief in mir ganz gut angefühlt, wissen Sie. Auf See kann ein Mann wenigstens atmen.«
Der Gedanke an den Ozean erzeugte in Konowa sofort die gegenteilige Wirkung. »Ich nehme an, so ziemlich alles qualifiziert sich als eine weniger gefahrvolle Arbeit, wenn man sie mit unseren derzeitigen Aktivitäten vergleicht.« Konowa zog die Schultern hoch, als ein Windstoß noch mehr Schnee über seinen Rücken trieb, wo er schmolz und als kleines, eisiges Rinnsal sein Rückgrat hinuntertröpfelte. Die Kälte machte den Gedanken an den Ozean für seinen Geschmack ein bisschen zu real. »Kannst du schwimmen?«
»Nicht die Spur«, erwiderte der Soldat, während ein schüchternes Lächeln über sein Gesicht glitt. »Aber ich kann auf dem Wasser treiben. Ich nehme an, das reicht.«
»Könnte sein, aber versuche, neben irgendeinem Stück Kork eine Koje zu bekommen, nur für alle Fälle. Weitermachen, Soldat«, schloss Konowa. Er salutierte, als er weiterging, blieb jedoch nach einem Schritt stehen und drehte sich um. »Feylan.«
Das Lächeln des Soldaten wurde stärker. »Zu Befehl, Major! Aye, Aye!«
Konowa genoss es, sich unter seine Truppe zu mischen. Wo immer er auftauchte, nickten ihm die Männer zu oder machten aufmunternde Handzeichen. Einige grinsten sogar. Trotz der Schrecken, denen sie sich hatten stellen müssen, und der Verluste, die sie erlitten hatten, waren diese Männer nicht gebrochen. Er dachte gerade über eine kleine, aufmunternde Rede nach, als ein eisiger Windstoß ihm Schnee ins Gesicht trieb und ihn in die Realität zurückholte. Der Windstoß erinnerte ihn daran, dass er sich trotz der schwarzen Eichel, die ihn mit einer kalten Magie verband, warm halten musste. Konowa suchte nach einem toten Krieger, der noch bekleidet war, aber wohin er auch blickte, sah er nur fast nackte Leichen. Dann bemerkte er den Prinzen, der sich mit Rallie unterhielt und dem Schlachtfeld offenbar absichtlich den Rücken zukehrte. Der bevorstehende Marsch beschäftigte ihn offenbar bereits mehr als genug.
Die entschlossene Gestalt von Vizekönig Alstonfar jedoch marschierte schnurstracks auf ihn zu. Der Mann war ganz eindeutig nicht ausgelastet.
»Vizekönig«, sagte Konowa und nickte grüßend, während der kugelrunde Diplomat vor ihm stehen blieb. Er war von Kopf bis Fuß in die Umhänge von mindestens fünf verschiedenen Kriegern der Hasshugeb eingehüllt. »Ist Euch denn jetzt warm genug?«
Der Vizekönig lächelte so strahlend, dass er den Sarkasmus unmöglich verstanden haben konnte. »Man sollte meinen, dass meine paar Extrapfunde mich warm halten würden, aber sie dienen nur dazu, mich im Ansehen der Leute sinken zu lassen, wenn sie mich sehen.«
Konowa zuckte zusammen. Dieser Mann vor ihm war ein fähiger Diplomat von erheblicher Intelligenz, der auf dem Schlachtfeld Mut gezeigt hatte. Bevor Konowa eine Entschuldigung formulieren konnte, fuhr der Vizekönig fort.
»Allerdings stelle ich fest, dass dies meist zu meinen Gunsten wirkt, wenn auch nicht in dem Maße, wie ich es gerne hätte, wenn es um das schöne Geschlecht geht. Und bitte, nennen Sie mich Pimmer.« Sein Lächeln wurde glücklicherweise nicht lüstern, als er Frauen erwähnte, aber das Gespräch nahm eine Richtung, der Konowa nicht folgen mochte.
»Sind Sie bereit?«, fragte Konowa stattdessen, während er überlegte, wie dieser Mann mit so vielen Umhängen bekleidet ein Kamel reiten konnte. »Wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen. Mit etwas Glück können wir durch die Reihe der Bäume stoßen, die noch übrig geblieben sind, und die Küste in der Nähe von Tel Bagrussi in etwa zwei Tagen erreichen.« Konowa sah den erwartungsvollen Blick des Mannes und gab nach. Er hatte es verdient. »Pimmer.«
Pimmers Augen wurden feucht, und Konowa fürchtete einen Moment, dass der Diplomat tatsächlich in Tränen ausbrechen würde. Aber ein weiterer eisiger Windstoß verhinderte das. »Ah ja, Tel Bagrussi. Ein echter kleiner Sündenpfuhl. Ich war nur einmal dort, und ich kann Ihnen versichern, dass dieser Ort weder für die Zaghaften noch für alle, die über einen Geruchssinn verfügen, geeignet ist. Sie fermentieren dort einen Fisch, der einen Käfer anlockt, der seine Eier in das faulende Fleisch legt, wo er als Larve schlüpft, die diese stinkende Schweinerei verzehrt. Und jetzt wird es interessant. Denn dann nehmen Sie diese Larven und mahlen sie zu einem Brei, den sie wiederum …«
Konowa hob die Hand, um weitere Ausführungen zu unterbinden. »Ich glaube nicht, dass wir uns dort lange aufhalten werden. Wir müssen nur der Flotte ein Signal geben und an Bord gehen.«
»Das stimmt, sehr richtig, aber bedauerlicherweise werden wir nicht nach Tel Bagrussi marschieren.«
»Wie bitte?«
»Ich fürchte, es liegt zu nahe an Nazalla. Die Bevölkerung dort ist von einem glühenden Hass auf das Imperium erfüllt. Mir ist es nur mit größter Mühe gelungen, lebendig aus der Stadt zu entkommen. Zu versuchen, sie wieder zu betreten, wäre gleichbedeutend mit dem Versuch, eine Burg zu erstürmen. Das Juwel der Wüste ist zurückgekehrt, Major. Unsere Zeit dort, und mit ›unser‹ meine ich das Calahrische Imperium, scheint sich dem Ende zuzuneigen. Nun seht nicht so überrascht drein; es gibt sicherlich etliche Personen am Königlichen Hof und noch mehr im Generalstab des Imperiums, die versuchen, an jedem noch so weit entfernten Brocken Land wie dem hier festzuhalten, aber ich fürchte, der Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Und selbst wenn das nicht der Fall wäre, haben wir das unmittelbare Problem zu bewältigen, dass wir nicht mehr unter der schützenden Hand des Suljak reisen.«
Konowa verzog bei diesem Namen das Gesicht. Der Suljak war der spirituelle und politische Führer der weit verstreuten Stämme der Hasshugeb und hatte ein gefährliches Spiel gespielt, als er, wie er glaubte, die uralte Macht von Kaman Rhal beschwor. Stattdessen jedoch hatte er eine Missgeburt zum Leben erweckt. Konowa konnte sich noch sehr gut an das Gefühl vollkommenen Entsetzens erinnern, als er sich einem uralten Drachen aus Knochen gegenübergesehen hatte.
Pimmer trat schlurfend näher an Konowa heran. »Ich fürchte, der arme Mann ist in den Augen seines Volkes so ziemlich erledigt. Ich würde natürlich keine Wette darauf abschließen, aber nach seiner kleinen Liaison mit Rhals Drachen dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis man ihn zu einem netten, einsamen Stück Wüste führt und ihn dort in kleine Stücke schneidet.«
Konowa hatte keinerlei Mitleid mit dem Suljak. »Er hat eine Menge überflüssiger Tote auf dem Gewissen.«
»Dem kann ich nicht widersprechen«, sagte der Vizekönig, »aber sein Verscheiden wird einen Aufruhr unter den Stämmen zur Folge haben, weil jeder versuchen wird, einen neuen Anführer zu installieren. Das dürfte im Verein mit der Rückkehr des Juwels der Wüste, das von den Stämmen dieser Länder als ein mächtiges Symbol der Selbstbestimmung der Eingeborenen gesehen wird, dazu führen, dass wir alle Zutaten für eine ausgewachsene Revolte beisammenhaben.«
»Das ist jetzt wirklich nicht mehr unser Problem.« Konowa betonte jedes Wort. »Wir müssen die Küste erreichen.« Er spürte, wie sein Gefühl von Hoffnung im Angesicht dieser neuen Realität ins Wanken geriet.
»Sie haben recht, Major, und das werden wir auch. Es gibt eine Handelsroute, die von hier aus nach Westen parallel zur Küste führt. Sie hat den zusätzlichen Vorteil, dass etliche befestigte Forts sie bewachen, was uns bei unserem Marsch zu einem Dach über dem Kopf und zu Vorräten verhelfen dürfte. Nach zwei oder drei Tagen Marsch können wir dann nach Norden abbiegen und erreichen am Tag danach Tel Martruk.«
»Nach Westen?« Konowa drehte sich um und blickte angestrengt in die Richtung. Der Schnee und die Dunkelheit jedoch behinderten seinen Elfenblick, und er konnte nicht das Geringste erkennen.
»In Richtung Suhundams Hügel, genauer gesagt«, meinte Pimmer, dessen Stimme jetzt ein wenig bedrückt klang. »Der Ort, an dem Ihre Elfen stationiert sind. Soweit wir wissen, könnten sie immer noch dort sein, obwohl angesichts ihres Forstes …«
Diesen Gedanken hatte Konowa nicht weiter erörtern wollen, aber jetzt konnte er ihn nicht länger verdrängen. Was, wenn seine Elfen tot waren? Denn soweit er wusste, waren sie von den Sarka Har überall in der Wüste abgeschlachtet und aufgespießt worden. Er wollte fluchen, riss sich jedoch im letzten Moment zusammen. Er hätte eine Möglichkeit finden müssen, als Erster dorthin zu kommen, aber dieser verdammte Stern hatte alles verändert. Noch vor wenigen Monaten waren diese Sterne nicht mehr als ein uralter Mythos gewesen. Konowa sehnte sich innig nach diesen Tagen zurück.
»Und der Prinz hat diesen Plan gebilligt?«
Pimmer warf einen Blick auf Rallie und den Prinzen, bevor er sich wieder herumdrehte und Konowa näher zu sich heranwinkte. »Der Prinz befindet sich im Augenblick in einem ziemlich … delikaten Zustand. Der Verlust praktisch der gesamten Sammlung der Bibliothek hat eine verheerende Wirkung auf ihn. Den meisten Männern hätte es genügt, die Streitkräfte der Schattenherrscherin zu besiegen, Kaman Rhals Drachen zu vernichten und die sichere Rückkehr eines Sterns der Macht zu gewährleisten. Seine Hoheit jedoch ist trotz all des Pomps im Inneren kein Krieger. Nicht wie sein Vater und ganz bestimmt nicht wie Sie. Ich habe mein Bestes versucht, und es ist mir gelungen, einige wirklich bemerkenswerte Dokumente und ein paar andere kostbare Gegenstände zu retten, die … von unschätzbarem Wert sind, für die Völker der Erde, selbstverständlich.« Bei diesen Worten hielt er inne und blickte zu Boden. »Trotzdem sind das nur Kinkerlitzchen. Ich fürchte, das meiste von dem, was sich in der Bibliothek befunden hat, ist jetzt für immer verloren.«
»Es gibt Schlimmeres«, sagte Konowa, obwohl er wusste, dass das den Vizekönig aufregen würde. Aber es kümmerte ihn nicht. »Die Suche nach Schätzen, ganz gleich welche Form sie annimmt, bringt Männer schnell dazu, ziemlich dumme Dinge zu tun.«
Der Vizekönig ließ sich nicht anmerken, ob ihn Konowas Worte beleidigten. Die Miene, mit der er zu dem Major hochblickte, verriet echten Schmerz. »Wissen ist es immer wert, gerettet zu werden.«
»Leben auch.«
Die Gesichter derjenigen, an denen Konowa etwas lag, tauchten sofort in seiner Erinnerung auf, und er musste schlucken, bevor er es wagte weiterzusprechen. »Auf jeden Fall ist die Bibliothek verloren, und der Prinz muss seine Enttäuschung schnellstmöglich überwinden.« Er machte eine Pause und wartete, bis seine aufkeimende Wut sich wieder legte. Pimmer war nicht der Prinz. »Was jetzt diese Karawanenroute nach Westen angeht, die uns zu Suhundams Hügel führen soll: Sind Sie sicher, was den Weg dorthin anbelangt?«
Erneut senkte Pimmer seine Stimme, und Konowa musste sich anstrengen, seine Worte durch das Heulen des Windes hindurch zu verstehen. »So sicher, wie man in diesen unsicheren Zeiten nur sein kann. Wir haben ihren Forst im Norden, und es ist schwer zu sagen, wie die Stämme weiter im Westen reagieren, wenn wir auf einen von ihnen treffen sollten. Aber vor allem ein Faktor lässt mich glauben, dass dies der richtige Weg ist.«
»Und was wäre das für ein Faktor?«, erkundigte sich Konowa.
»Mistress Synjyn stimmt mit mir überein, was diese Route anbelangt.«
Konowa streckte die Hand aus und legte sie fest auf den Arm des Vizekönigs. Der Stoff des Umhangs war weicher und weit dicker, als Konowa erwartet hatte. Frostfeuer funkelte auf dem Material, und er zog rasch die Hand zurück, bevor er dem Mann Schmerzen zufügte. Ein Windstoß wählte genau diesen Moment, um ihm einige Schneeflocken ins Gesicht zu peitschen. Sie hatten einen langen, kalten Marsch vor sich. »Das klingt ganz so, als würden wir etwas länger im Schnee marschieren, als ich mir vorgestellt habe. Sagen Sie, Pimmer, ich scheine die Zuteilung von Schlechtwetterkleidung verpasst zu haben. Wie viel wollen Sie für einen Ihrer Umhänge haben?«