18
SCOLLY STÜRZTE AUF den Boden des Ganges; das Krachen, mit dem der Schaft der Muskete auf seiner Wange landete, hallte von den Wänden zurück.
»Hör auf, du bringst ihn ja um!«, schrie Visyna, sprang von ihrem Platz an der Wand auf und rannte zu dem Gestürzten. Derselbe Elf-Soldat, der sie zuvor bedroht hatte, stand jetzt über Scolly gebeugt und holte mit der Muskete zum nächsten Schlag aus.
Hrem war nur einen Schritt hinter ihr. »Versuch das noch einmal, dann bringe ich dich um!«
Der Elf sah kurz zwischen Visyna und Hrem hin und her, bevor er den Blick auf Scolly senkte. »Wenn er noch einmal davonläuft, stirbt er«, erklärte der Elf, spie auf den Soldaten am Boden, drehte sich auf dem Absatz herum und ging davon.
Hrem bückte sich und hob Scolly hoch, während Visyna näher trat und die Schwellungen auf seinem Gesicht untersuchte, ohne sie zu berühren. »Wie fühlen Sie sich?«
Scolly liefen Tränen über die Wangen. »Ich wollte doch nur wissen, wohin wir gehen.«
Teeter tauchte auf und fasste Scolly am Ellbogen, wobei er Visyna einen eisigen Blick zuwarf. »Wenn Sie Ihre verdammte Magie nicht bald einsetzen, ist es zu spät. Komm mit, Scolly, wir setzen uns da drüben hin.«
Visyna suchte nach einer Antwort, fand jedoch keine. Teeter hatte recht; wenn sie nicht etwas unternahm, wozu war sie dann überhaupt nütze?
Sie setzte sich wieder auf ihren Platz an der Wand. Einen Augenblick später leistete Hrem ihr Gesellschaft. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen Teeter. Er ist nur aufgeregt.«
»Trotzdem hat er recht«, erwiderte Visyna. »Ich muss handeln. Sie sehen ja, wie diese Elfen sind.«
Hrem warf einen Blick in den dunklen Tunnel und sah sie dann wieder an. »Und was haben Sie vor?«
»Wie gut können Sie mit dem Frostfeuer umgehen?«
»Ich bin einer von den wenigen im Regiment, die es anscheinend einigermaßen kontrollieren können, aber ich bin nicht Renwar«, antwortete er. In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Bedauern und Erleichterung mit. »Was Ally vollbracht hat, als wir Nazalla verließen, war weit mehr, als ich mir auch nur im Traum vorstellen könnte. Ich weiß nicht einmal genau, wie ich das Feuer kontrolliere. Es ist wie atmen, ich mache es einfach.«
Visyna verbarg ihre Enttäuschung. »Aber Sie können es beschwören, wenn Sie wollen, stimmt’s?«
Statt einer Antwort streckte Hrem die Hand aus. Frostfeuer flackerte über seine Handfläche. Während sie zusah, wuchsen die Kristalle und verwandelten sich in hässliche, schwarze Flammen, bis er die Faust schloss und sie erstickte. »Ich könnte jemand damit töten, wenn ich ihn berühre, aber ich könnte es nicht schleudern, wenn Sie das meinen sollten.«
»Könnten Sie eine Mauer daraus bilden? Eine Art von Barriere, die Sie um Kritton und die Elfen ziehen?«
Hrem dachte darüber nach. »So etwas habe ich noch nie ausprobiert. Aber selbst wenn ich es könnte, wie sollte uns das helfen? Diese Flammen halten keine Musketenkugeln auf.«
»Keine Flammen«, antwortete Visyna, »sondern Eis. Wenn ich Sie lehren könnte, wie man Magie webt, könnten Sie es vielleicht schaffen. Es muss nicht lange halten, sondern nur Chayii, Jir und mir genug Zeit geben, den Rest zu erledigen.«
Hrem warf einen Blick auf seine Hände und sah sie dann an. »Wollen Sie es jetzt ausprobieren?«
»Nein, hier unten ist es zu eng. Wir müssen warten, bis wir aus diesem Tunnel herauskommen.«
»Bedeutet das, dass Sie in der Lage sind, hier unten Magie zu weben?«, erkundigte er sich.
Visyna nickte. »Meine Fähigkeit dazu hat mich nie verlassen. Die uralte Macht in der Bibliothek war nur einfach zu ätzend, um sie zu benutzen.« Sie überlegte, wie sie es am besten erklären konnte. »Stellen Sie sich die Natur als einen gigantischen Stoff vor. Alles hat Lebenskraft, Energie, wie ein Faden, der sich durch alles webt und alles miteinander verbindet. Ich finde diese Fäden und webe sie zu etwas, das ich benutzen kann, erzeuge so einen Zauberspruch aus dem Leben um mich herum.«
Hrem riss die Augen auf. »Meinen Sie damit, dass Sie sich etwas von unserer Energie nehmen, wenn Sie einen Bann wirken?«
Visyna lächelte und hob ihre Hände. »So funktioniert das nicht. Ich nehme nur das, was frei ist. Es ist wie die Hitze eines wärmenden Feuers. Alles Leben gibt Energie ab, solange es lebt. Ich nehme diese Energie nur auf und benutze sie.«
»Und wenn Sie nicht genug Energie um sich herum finden? Könnten Sie dann nicht jemanden anzapfen?«
»Das wäre schrecklich!« Sie hatte die Stimme erhoben, bevor ihr wieder einfiel, wo sie waren. »Das wäre so, als würde ich Ihnen ein Messer in den Leib jagen und Ihnen dann Ihr Blut abzapfen. Ich webe die Energie, die um uns herum existiert, aber ich mache das sehr behutsam. Ich versuche zu stärken und zu helfen, nicht zu verletzen. Ich nehme nur, was frei verfügbar ist, und würde niemals etwas Lebendiges schädigen.«
»Aber Sie könnten es, wenn es sein müsste, wenn es zum Beispiel keine andere Möglichkeit gäbe?«
Jetzt glaubte Visyna zu verstehen, worauf er hinauswollte. Die Elfen. »Ich wäre nicht in der Lage, ihre Energie zu nutzen, selbst wenn ich es wollte. Der Schwur ist in ihnen mittlerweile viel zu stark.«
»Diese Elfen dort sind nicht durch den Schwur gebunden«, widersprach er.
Jetzt endlich begriff sie seine Andeutungen. Sie könnte ihre Energie weben und Krittons Elfen dabei einfach umbringen. »Selbst wenn meine Bannwirkerei stark genug wäre, könnte ich nicht auf diese Weise töten.« Allein bei dem Gedanken überlief es sie kalt.
Hrem hob die Hand und hielt Daumen und Zeigefinger ein kleines Stück auseinander. »Dann töten Sie sie eben nicht, sondern schwächen Sie sie. Entziehen Sie ihnen etwas von ihrer Energie, so viel, dass wir flüchten können, wenn sich die Gelegenheit bietet.«
Das war eine faszinierende Idee, aber sie sah sofort den Haken. »Selbst wenn ich es könnte, und ich sage nicht, dass ich dazu in der Lage bin, könnte ich Kritton nicht beeinflussen. Er ist durch den Schwur gebunden, genau wie Sie. Mit der Macht der Schattenherrscherin zu arbeiten, ist zu schwierig für mich.«
Hrem lächelte humorlos. »Um Kritton kümmere ich mich dann schon.«
Visyna lehnte sich wieder an die Tunnelwand. Möglichkeiten wirbelten durch ihren Kopf, jede einzelne von ihnen düster und voll unvorhersehbarer Gefahren. Ein dumpfer Schmerz legte sich auf ihr Brustbein. Fühlte es sich so für Konowa an? Wenn er sich nur schrecklichen Alternativen gegenübersah? Eine plötzliche Sehnsucht nach ihm erfüllte sie. Ihr Herz flog ihm zu, als sie plötzlich auf eine Art und Weise wie nie zuvor den ständigen Albtraum verstand, der einen verfolgte, wenn man sich für das kleinere von zwei Übeln hatte entscheiden müssen.
»Das sagen Sie so leichthin«, antwortete sie.
»Diesen Mistkerl umzubringen, ist ein Kinderspiel. Das soll nicht heißen, dass es mir gefällt, aber es ist etwas, das getan werden muss. Am Ende heißt es: er oder wir. Und mir ist es viel lieber, wenn wir es sind, die davonkommen.«
»Mir kommt es nur so barbarisch vor, solch ein Gemetzel. Es sollte einen anderen Weg geben.« Sie wusste, dass sie naiv klang, aber das kümmerte sie nicht.
Hrems Stimme klang ernst, als er sich vorbeugte und antwortete. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber haben Sie schon einmal versucht, mit einem Rakke zu reden? Das Einzige, was die verstehen, ist brutale Gewalt. Und was Kritton und den Rest dieser Elfen angeht … Wir haben versucht, in der Bibliothek mit ihnen zu reden, und Sie haben ja gesehen, was passiert ist. Nein, die Zeit zum Reden ist lange vorbei. Kritton muss sterben, und wenn die anderen Elfen dabei im Weg sind, werden auch sie sterben. Es mag Ihnen nicht gefallen, aber es dürfte ja wohl kaum das erste Mal sein, dass Sie töten.«
»Oh doch, es wäre das erste Mal.«
Hrem lehnte sich überrascht zurück. »Sie steckten immer im dicksten Getümmel, seit wir aufgebrochen sind …«
Visyna schüttelte den Kopf. »Ich habe dem Regiment so gut ich konnte mit meiner Bannweberei geholfen, aber ich habe nie direkt einem Wesen das Leben genommen.« In ihren Monaten bei den Stählernen Elfen hatte ihre Magie es dem Regiment ganz gewiss einfacher gemacht, seine Feinde zu töten, aber es waren auch Monster gewesen, Kreaturen, die von Bosheit gezeugt worden waren. Was Hrem jetzt vorschlug, war etwas Neues. Es war eine Linie, die sie noch nie überschritten hatte.
Konnte sie nur ein bisschen Energie herausziehen? Und um welchen Preis?
»Sind Sie sicher?«, fragte er.
»Daran würde ich mich erinnern.«
Ein brauner Käfer, kaum größer als eine Fliege, krabbelte über den Sand des Tunnelbodens nahe bei ihrem Fuß. Sie starrte ihn an. Ohne es zu wollen, suchte sie die Essenz seines Lebens in dem Netz der Energie um sie herum. Sie blickte zu Hrem hoch und sah, dass auch er den Käfer bemerkt hatte. Er sah sie an und zuckte unmerklich mit seinen Schultern.
Es ist nur ein Insekt, sagte sie sich und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Käfer, aber tief in ihrem Herzen glaubte sie nicht daran. Das war eine lebendige Kreatur, ein Teil der Natürlichen Ordnung.
»Es sind lebende, atmende Männer mit Familien. Sie verdienen eine Chance«, erklärte Hrem.
Das war alles. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte und sie selbst übermäßig empfindlich war, aber jetzt wusste sie auch, wie diese ganze Geschichte ablaufen würde. Sobald sie begann, die Lebensenergie eines anderen Wesens zu benutzen, würde sie einen Teil von sich selbst für immer verlieren. Ihr wurde jedoch ebenfalls vollkommen klar, dass sie dieses Opfer bringen musste, wenn sie Konowa jemals wiedersehen wollte.
»Passen Sie auf«, flüsterte sie und beugte sich vor, um sich auf den Käfer zu konzentrieren. Sie hielt die Hände vor sich und konzentrierte sich auf die Energie um sie herum. Die Männer der Abteilung waren leicht ausfindig zu machen; ihre Energie war mit der Finsternis des Schwurs versetzt. Rasch fand sie auch den schlanken Faden der Lebensenergie des Käfers und begann mit weichen Bewegungen, ihn zu entwirren. Sie wollte nur eine einzelne Strähne weben, in der Hoffnung, den Käfer damit einfach nur langsamer zu machen.
Der Käfer krabbelte weiter über den Boden, offenbar unbeeindruckt von ihren Bemühungen. Sie errötete, bog ihre Finger und fing von vorne an. Wieder fand sie seinen Faden und zog vorsichtig daran.
Es knackte. Die Lebensenergie des Käfers spulte sich wie ein Knäuel ab, das über die Erde rollt. Sie sah an ihren Fingern vorbei auf das Insekt, das tot auf dem Boden lag. Sein winziger Körper war in zwei Teile zerbrochen.
»Beeindruckend«, meinte Hrem und hob den Käfer mit seiner riesigen Hand auf. Er betrachtete ihn ein paar Sekunden lang, bevor er ihn mit Frostfeuer einäscherte.
Visyna konnte nicht atmen. »Ich war … ich habe nur versucht, ihn langsamer zu machen«, sagte sie und ließ die Hände in den Schoß sinken. »Seine Energie war zu schwach.« Es war nur ein Käfer, und ihr war klar, dass Hrem sie für närrisch hielt, aber das kümmerte sie nicht. Sie hatte gerade eine lebende Kreatur getötet. Tränen traten ihr in die Augen.
Hrem nickte. »Dann dürfte es ziemlich einfach sein, einen Haufen Elfen aufzuhalten.«
Visyna sah ihn entsetzt an. »Das wäre Mord.«
Er erwiderte ihren Blick unbeeindruckt. »Dann ist das eben so.«
Das Geräusch von Schritten hallte von der Tunnelwand wider.
»Steht auf«, befahl Soldat Kritton. Er blieb vor Visynas kleiner Gruppe stehen. Eine improvisierte Bandage aus zerfetztem blauen Tuch bedeckte seine linke Schulter. Ein dunkler, feuchter Fleck in der Mitte des Tuches zeigte, wo die Wunde war, die Chayii ihm in der Bibliothek zugefügt hatte, als sie ihren Dolch nach ihm warf. Selbst jetzt verspürte Visyna noch den Drang, dem Elf zu helfen. Sie tadelte sich für diesen Gedanken. Soll er doch leiden, er hat es verdient. Er hatte Yimt kaltblütig erschossen. Und er war dabei, die Elfen mit seinem wahnsinnigen Bedürfnis nach Wiedergutmachung zu vergiften. Es war klar, dass er nicht aufhören würde, bis etwas oder jemand ihm Einhalt gebot.
Niemand rührte sich. Kritton zog die Augenbrauen zusammen, während er sie betrachtete, und dann, ohne Vorwarnung, holte er mit dem Stiefel aus und trat Scolly mit voller Wucht in die Rippen. Der Soldat schrie vor Schmerz auf und rollte sich zu einem Ball zusammen, während er seinen Brustkorb umklammerte. »Ich sagte, steht auf, sofort.«
Hrem war schneller auf den Beinen, als man einem Mann von seiner Größe zugetraut hätte. Frostfeuer brannte in seinen Händen. Im selben Moment tauchten andere Elfen auf, die Musketen angelegt und bereit zu schießen. Jede Mündung zielte auf ein anderes Mitglied von Yimts altem Zug. Sie konnten ihre Ziele nicht verfehlen.
»Immer ruhig, Hrem, er ist es nicht wert.« Visyna legte sanft ihre Hand auf seinen Arm. Frostfeuer zuckte von seinem Ärmel auf ihre Haut. Der Schock der Magie brannte auf ihrer Hand, aber sie ließ ihre Hand mehrere Sekunden dort liegen, während sie vor Schmerz zusammenzuckte.
Teeter half dem wimmernden Scolly auf, während Zwitty und Inkermon ohne Hilfe aufstanden. Sie scharten sich eng zusammen, die Fäuste geballt. Ihr Mut war umso beeindruckender, als sie auf ihren Beinen schwankten. Chayii hockte neben Jir, die Hände tief in dem Fell an seinem Hals vergraben. Ein dunkles, rumpelndes Grollen hallte durch den Tunnel.
»Hast du etwas zu sagen, großer Mann?«, fragte Kritton und zuckte zusammen, während er seinen linken Arm an den Körper presste.
»Fass ihn nicht mehr an. Fass niemanden von uns noch einmal an.«
Kritton schnaubte verächtlich. »Oder was? Dein edler Major ist nicht hier, um dich zu retten. Ich sehe nur einen Haufen von fehlgeleiteten Narren, die den Worten eines Mistkerls gefolgt sind, der mit ihr unter einer Decke steckt.«
»Merkwürdig«, erwiderte Hrem, dessen Stimme tief und ruhig klang. »Das Gleiche wollte ich gerade über euch sagen.«
»Das wären deine letzte Worte gewesen«, meinte Kritton, dessen rechte Hand klatschend auf den Griff von Yimts Drukar fiel.
Es ärgerte Visyna, als sie die Waffe an Kritton sah, aber sie wusste, dass sie es sich nicht leisten konnte, diesem Gefühl nachzugeben, nicht hier und nicht jetzt. Ein dunkles Knurren der anderen Soldaten von Yimts Abteilung machte ihr deutlich, dass sie ihre Gefühle wahrscheinlich nicht so gut unter Kontrolle halten würden. Wenn Visyna nicht etwas tat, würde die Situation schon sehr bald aus dem Ruder laufen.
»Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie uns sagen würden, wohin wir gehen.« Es überraschte sie, wie gelassen ihre Stimme klang.
Kritton und Hrem starrten sich unablässig an.
Scolly hustete und krümmte sich keuchend. Teeter verhinderte, dass er hinfiel, und half ihm, sich wieder aufzurichten. Dabei sahen alle das Blut, das aus seinem Mund sickerte.
»Du erbärmlicher Mistkerl«, sagte Teeter, ließ Scolly los und trat einen Schritt vor. Er deutete mit einem Finger auf Kritton. »Du weißt gar nicht, wohin du gehen sollst, hab ich recht? Alles, was du weißt, ist nur, dass du es vermasselt hast, und jetzt ziehst du diese Elfen mit in den Abgrund.«
Kritton riss seinen Blick von Hrem los und drehte sich zu Teeter herum. Der Elf hatte die Zähne fest zusammengepresst. »Halt den Mund.«
Teeter ging noch einen Schritt auf ihn zu. »Du bist ein Feigling und ein Lügner, Kritton. Du kannst nur weglaufen. Mehr hast du nie getan. Auf dich wartet jetzt die Schlinge des Henkers, also läufst du weg und nimmst diese Elfen mit zum Galgen. Ja, genau so ist es«, fuhr Teeter fort und drehte sich herum, um die Elfen anzusehen. »Desertion, Mord und Plünderung sind alles Vergehen, für die man gehängt wird, oder glaubt ihr, dass sie euch für eure Verbrechen begnadigen, im Austausch für irgendwelchen uralten Talmi und Tand?«
Nein, nein, nein!, dachte Visyna. Bitte provoziere ihn nicht.
»Unsere Ehre wird wiederhergestellt werden!«, schrie Kritton mit zitternder Stimme. »Alles, was wir getan haben, war notwendig. Wir haben ihre Streitmacht zerstört, wo immer wir darauf gestoßen sind. Die Rakkes … diese Rakkes haben nur für die Demütigung bezahlt, die wir erdulden mussten.«
Die Elfen-Soldaten wirkten beklommen, als Kritton die Rakkes erwähnte, obwohl Visyna nicht wusste, wieso. Die Anspannung im Tunnel wuchs. Hrem drehte leicht den Kopf und sah sie an. Sie fühlte sich in der Falle. Sie musste jetzt versuchen, etwas Magie zu weben.
Teeter weigerte sich zurückzuweichen und schrie dem zunehmend wütenden Elf eine Beleidigung nach der anderen zu. Visyna holte tief Luft und hielt sie dann an. Sie ließ die Hände an den Seiten herabhängen und tastete nach der Lebensenergie um sie herum. Sie fand die Elfen mit Leichtigkeit.
Sie mied Krittons Aura und begann, einen Bann zu weben, wobei sie darauf achtete, ihre Bewegungen so unauffällig wie möglich zu halten. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, und ihr Hals wurde warm, als sie sich konzentrierte. Sie wusste, dass das, was sie da tat, falsch war, und das flößte ihr Furcht ein.
Sie hatte gerade begonnen, die Fäden der Energie zu trennen, als die Magie des Schwurs aufflammte und ihre Konzentration störte. Teeters geballte Fäuste loderten vor schwarzem Frost. Er schrie immer noch Kritton an und schien es nicht zu bemerken.
»Teeter, lass es gut sein!«, sagte Hrem, als er die neue Gefahr erkannte. Zwitty keuchte erschrocken.
Die Elfen traten hastig ein paar Schritte zurück, bevor Kritton sie anfuhr, stehen zu bleiben, wo sie waren. Er hatte die Augen zusammengekniffen. »Seht ihr das? Das ist der Fluch, den Flinkdrache auf das Regiment herabbeschworen hat, und wenn es nach ihm geht, wird das auch euer Schicksal werden.«
Teeter schrie nicht mehr, aber seine Wut blieb. »Verschwinde von hier und nimm deine Spießgesellen mit«, sagte er leise und drohend.
»Du machst mir keine Angst«, erwiderte Kritton. »Oder hast du vielleicht vergessen, dass ich genauso verflucht bin wie du?«
Das Frostfeuer loderte zu einer eisschwarzen Flamme hoch und kroch Teeters Arme hinauf. Seine Jacke schimmerte, und die Knöpfe leuchteten, als das Feuer sich darüberlegte. Der Boden unter seinen Füßen funkelte, als würde er auf zerbrochenem Glas stehen.
»Mach es aus, Teeter; du weißt, was mit Zwitty passiert ist«, sagte Hrem.
»Ich hatte es vollkommen unter Kontrolle«, quengelte Zwitty.
»Ich mache gar nichts. So lange nicht, bis sie verschwinden«, erwiderte Teeter. Sein Gesicht war in flackerndes Licht getaucht, als scharfe Schatten darüber huschten und das schwarze Frostfeuer seine Schultern erreichte, seine Brust bedeckte. Er schwankte.
Visyna unterdrückte einen Schrei, als sie seine Energie in dem Netz um sie herum suchte. Die Magie des Schwurs geriet außer Kontrolle.
»Hrem, tun Sie etwas«, sagte sie.
Er hob die Hände und zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht das tun, was Renwar getan hat. Das kann keiner von uns.«
Sie sah zu Chayii hinüber, aber die alte Elfe schüttelte den Kopf.
Teeter machte einen Schritt auf Kritton zu. »Lauf weg … sofort.« Jetzt war er von Kopf bis Fuß in die schwarzen Flammen eingehüllt. Die Temperatur im Gang sank, und der Tunnel füllte sich mit dem weißen Nebel ihres Atems. Das Frostfeuer loderte intensiver, nährte sich von Teeter. Kritton wich mehrere Schritte zurück.
»Das wäre euer Schicksal gewesen!«, schrie er und sah seine Elfen an. »Vor genau dem versuche ich euch zu retten. Deshalb war alles, was wir getan haben, notwendig!«
»Mach das Feuer aus, sofort!«, schrie Hrem ihn an.
Teeter drehte sich zu ihm herum und sah dann die anderen an. Selbst durch die Flammen hindurch konnte Visyna sehen, dass er versuchte zu lächeln. »Das habe ich auch vor.«
Er wirbelte herum, breitete die Arme aus und stürzte sich auf Kritton.
Rauch und Flammen erfüllten den Gang, als etliche Musketen auf einmal feuerten. Visyna schrie und schlug sich die Hände auf die Ohren, aber zu spät. Der Knall malträtierte ihre Sinne. Heißer, beißender Rauch und brennende Funken schlugen ihr ins Gesicht. Sie taumelte zurück und wäre gestürzt, wenn sie nicht gegen die Tunnelwand geprallt wäre.
Sie hörte Schreie, Gebrüll. Inkermon landete krachend auf dem Boden, begraben unter zwei Elfen. Scolly stürzte sich auf sie und trommelte mit seinen Fäusten auf den Kopf eines Elfen. Weitere Elfen griffen an, stürmen an ihr vorbei und stießen sie dabei zu Boden. Sie glitt an der Wand herab, scheuerte sich den Rücken auf und landete mit voller Wucht auf ihrem Steißbein. Tränen traten ihr in die Augen.
»Ihr Mistkerle! Ihr Mistkerle!«, schrie Hrem. Er stürzte sich auf die Elfen und schleuderte sie wie Puppen durch die Luft. Seine Fäuste schlugen wie gewaltige Dampfhämmer zu, und die Elfen brachen unter seinen Schlägen zusammen. Schwarzer Frost funkelte auf etlichen Uniformen, aber er brach nicht in Flammen aus. Visyna versuchte aufzustehen, weil sie helfen wollte, aber jemand fiel auf ihre Beine, sodass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Frostfeuer knisterte und funkelte auf ihren Beinen, und sie schrie, während sie den Körper von sich wegschob. Es war Zwitty. Aus einer tiefen Wunde über seinem rechten Auge tröpfelte Blut.
Diesmal gelang es ihr aufzustehen, aber der Kampf war bereits vorbei. Die Elfen hatten sie von zwei Seiten in die Zange genommen und die Musketen angelegt, bereit, sie alle niederzuschießen. Sie rieb sich die Augen, blinzelte und schüttelte den Kopf, während ihre Sehkraft langsam wiederkehrte.
Teeters Leiche lag auf dem Tunnelboden, wo das Frostfeuer sie rasch verzehrte. In nur wenigen Sekunden war sie verschwunden. Es wurde wieder wärmer, und ihr Atem bildete keine Wolken mehr vor ihrem Gesicht. Noch mehr Tränen traten ihr in die Augen, als sich Teeters Schatten kurz materialisierte, dann verblasste und nur einen kalten, leeren Raum zurückließ.
»Wir gehen weiter, sofort!«, schrie Kritton. Er hatte vor Angst und Wut die Augen weit aufgerissen. Er trat nach seinen Elfen, damit sie sich auf den Weg machten, und befahl ihnen, die menschlichen Soldaten hochzuziehen und mitzunehmen. Widerwillig setzte sich Visyna in Bewegung. Scolly und Inkermon halfen Zwitty hoch, während sie neben Hrem herging.
»Sie hätten nichts tun können«, sagte Hrem. Seine Knöchel waren blutig, und der linke Ärmel seiner Uniformjacke war von der Schulter bis zur Manschette aufgerissen.
Sie wusste, dass sie nichts hätte tun können, aber als sie ihn das sagen hörte, fühlte sie sich trotzdem schuldig. Sie begann, ein winziges Muster in der Luft zu weben, und suchte die Fäden der Elfen um sie herum. Hrem sah sie an und legte den Kopf fragend auf die Seite.
»Es wird niemand von uns mehr sterben«, flüsterte sie.
Er nickte, und sie gingen weiter.