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DURCH ALWYNS WEIT geöffnete Augen betrachtet erschien die Welt ausgewaschen und verschwommen.

Alles, was er kannte, war verblasst, so als würden die Farben, die das Leben so bunt und frisch machten, sich davor fürchten, ihm nahe zu kommen. Selbst seine Erinnerungen nahmen eine graue Patina an und dämpften die Gefühle, die er einst mit ihnen verbunden hatte und die ihnen ihre Bedeutung gaben. Ihm war klar, dass über kurz oder lang die Vorstellungen des Lachens, des Mitgefühls, ja selbst der Liebe für ihn verloren sein würden.

Er würde dagegen ankämpfen, aber er war sich nicht sicher, wie lange er widerstehen konnte.

Alwyn schloss die Augen, aber es wurde nicht dunkel. Selbst mit geschlossenen Augen sah er die Welt, jetzt jedoch als ein gewaltiges Meer, das wogte und vor Energie schäumte. Major Flinkdrache stand etwa zwanzig Meter entfernt und unterhielt sich mit Vizekönig Alstonfar. Er sah sie ganz deutlich; der Elf und der Mensch leuchteten wie zwei Fackeln vor schwarzem Samt. Alstonfar strahlte ein warmes, weiches Licht in orangefarbenen und gelben Tönen aus. Die Aura des Majors war eine wirbelnde Masse aus Grün und Rot, die um einen metallischen, schwarzen Kern kreisten, einer Quelle von Energie und Macht, die gerichtet und benutzt werden musste.

Fäden aus pulsierender Kraft verbanden alles miteinander, und Alwyn brauchte nur die Hand auszustrecken, einen davon aus der Luft zu pflücken und diese Macht für sich selbst in Anspruch zu nehmen.

Er verstand jetzt die Schattenherrscherin besser. Der Zug der Energie um ihn herum war sehr verführerisch. Seine rechte Hand hob sich unwillkürlich, als die Erwartung durch seinen Körper strömte. Er konnte seine Lebenskraft nutzen, er konnte sie einem besseren Sinn zuführen. Es lag an ihm, die Dinge wieder richtigzustellen.

Alwyn zwang sich, die Augen zu öffnen, und unterdrückte dabei einen Schrei. Ihm wurde schwindelig, und er drohte hinzufallen. Er griff sich mit seiner bereits erhobenen Hand an den Kopf und massierte seine Schläfen. Der Druck fühlte sich gut an. Er verlagerte sein Gewicht auf sein Holzbein, überprüfte sein Gleichgewicht. Der Schmerz brannte im Stumpf seines Beines, und Frostfeuer funkelte kurz auf, wo die dünnen, hölzernen Zweige des künstlichen Gliedes seine Haut berührten. Als Antwort durchzuckte eine Woge von Kälte den Stumpf, und der Schmerz erlosch, als sein Fleisch betäubt wurde. Die Magie, die einst das Holzbein durchtränkt hatte, erstarb, überwältigt von der wachsenden Macht des Schwurs in ihm. Alwyn sah bereits, wie neue, schwarze Schösslinge aus den toten Zweigen des Beines sprossen.

Schon bald, nicht mehr lange, dann würde das Bein, wie der Rest von ihm, ihr gehören.

Der Schnee legte sich auf den Sand um ihn herum, und er blickte in den Himmel hinauf. Ein scharfer Wind trieb den Schnee vor sich her und transportierte ihn von der Küste ins Landesinnere. Mit dem Wind wurde auch der unverkennbare Geruch ihrer Präsenz herbeigeweht. Er schüttelte den Kopf und drehte sich zu Yimt herum, hielt jedoch unvermittelt inne, und ihm stockte der Atem.

Yimt war weg.

Die Gedanken an den Zwerg durchbrachen die düsteren Bilder seines Verstandes, und er klammerte sich verzweifelt an ihnen fest, fand Kraft in den Erinnerungen an seinen verlorenen Freund.

»Töte ihn.«

Alwyn blickte hoch, als sich der Schatten von Regimentssergeant Lorian auf seinem Schlachtross Zwindarra neben ihm in dem Schneetreiben materialisierte. Lorians Worte waren schmerzverzerrt und mehr eine Bitte als ein Befehl. Alwyn folgte seinem Blick, der sich auf Major Flinkdrache gerichtet war, der weiter zwischen den Soldaten einherging. Der Blutschwur, der die Toten an das Regiment band und auch an sie, lebte durch den Major. Ihn zu töten würde den Schwur jedoch nicht brechen, sondern nur ein verzehrendes Bedürfnis nach Rache befriedigen. »Töte ihn«, wiederholte Lorian. Seine Stimme klang wie ein kaltes Echo in Alwyns Kopf.

Lorians Qual brandete in diesen ätherischen Wellen über ihn hinweg, die zwischen dieser Welt und der nächsten fluteten. Erneut kämpfte Alwyn um sein Gleichgewicht, als sich immer mehr Schatten materialisierten. Ihr Leiden verstärkte die tosenden Wogen der Vergeltung, die ihn wegzuspülen drohten, bis ihr Verlangen auch das seine war.

Alwyn allein hätte sich ihren Schreien gefügt, aber er war nicht mehr nur Soldat Renwar. Er war mehr. Er hatte seine Rolle als Führer der Schatten der Toten akzeptiert, ihren Qualen und ihrer Wut Stimme verliehen. Dadurch besaß er eine Macht, welche die Schatten nicht hatten. Und anders als sie blieb er Teil von beiden Welten. Er konnte über ihre Loyalität bestimmen, so verwirrt und quälend sie auch sein mochte. Er hatte das alles nicht gewollt, aber er hatte in seinem Traum mit der Schattenherrscherin diesen Handel geschlossen und die Schatten aus ihrem Griff befreit, wodurch er sich selbst verdammt hatte. Seine Aufgabe war einfach; er hatte dafür zu sorgen, dass Konowa sicher auf ihrem Berg ankam. Zu spät war ihm klar geworden, dass das überhaupt kein fairer Handel gewesen war. Alwyn hatte gehofft, dass er die Qual der Soldaten lindern würde, wenn er sie befreite, aber die Genialität ihres Plans lag in seiner Schlichtheit. Die Toten waren jetzt an Alwyn gebunden und er an sie, sodass der Blutschwur nicht aufgelöst wurde. Und derweil wuchs das Leiden der Schatten nur noch weiter.

»Nein, er muss leben«, antwortete Alwyn und richtete seine Gedanken auf die Schatten. Es waren ehemalige Kameraden, Männer, die ihr Leben für etwas Größeres riskiert hatten und etwas Besseres verdienten als die Existenz, die sie jetzt ertragen mussten. Alles, was zwischen ihnen und einem ewigen Dienst stand, war allein Alwyns Willenskraft, und ihm war klar, dass er nicht immer standhalten konnte. Entweder starb die Schattenherrscherin, oder sie alle waren dem Untergang geweiht.

»Er hat Schuld«, sagte Lorians Schatten, während die Stimmen der Toten zustimmend heulten.

»Nein. Sie hat Schuld«, widersprach Alwyn, konzentrierte sich und ließ so viel Macht wie möglich in seine Stimme strömen. »Er ist ebenso Opfer wie wir.« Und wie sie, dachte er. Es war ihre Liebe zu dem sterbenden Schössling, der sie so weit getrieben hatte, um ihn zu retten. Dieser eine, verzweifelte Akt war es, der sie nun alle antrieb, einen Weg zu finden, all das zu beenden.

Die Schatten kreischten protestierend und wichen in die Dunkelheit zurück. Sie konnten sich ihrem Emissär nicht widersetzen. Aber ihre Qual vibrierte noch etliche Sekunden in der Luft.

Alwyn schüttelte sich. Die Zeit arbeitete gegen sie. Selbst jetzt beobachteten sie den Major, und er fühlte ihr Verlangen, ihn zu vernichten.

Ein Verlangen, das auch ganz allmählich zu seinem wurde.

Es schien so richtig zu sein. Sehr bald würde er wissen, dass es richtig war, und dann wäre alles verloren.

»Bereitet euch auf den Marsch vor!«

Alwyn brauchte einen Moment, bis er begriff, dass dieser Befehl auch ihm galt. Kaum einer der lebenden Soldaten näherte sich ihm, was er verstehen konnte. Ebenso klar war ihm: Wenn Yimt noch lebte, würde der Zwerg ihn auffordern, sich aus seiner Betäubung zu befreien und seinen Hintern in Bewegung zu setzen. Dieser Gedanke zauberte fast ein Lächeln auf sein Gesicht. Er riss sich zusammen und konzentrierte sich auf das Menschliche, das sich noch in ihm befand. Soldat Alwyn Renwar vom Calahrischen Imperialen Regiment der Stählernen Elfen schulterte seine Muskete und begann, ohne auf weitere Befehle zu warten oder sich auch nur umzusehen, nach Westen zu marschieren.

 

Von einem hohen Felsbrocken aus beobachteten zwei milchig weiße Augen die Prozession menschlichen Fleisches, das hinter einer humpelnden Gestalt hermarschierte.

Selbst aus dieser Entfernung konnte das Rakke ihr Mal auf der Gestalt wittern, welche die Menschen anführte. Es war ein ganz ähnliches, wenn auch nicht identisches Zeichen wie das, welches ihr Emissär trug, und es war weit stärker als die Aura, die in der Luft um die Kolonne der Männer waberte.

Jeder Instinkt der Kreatur loderte förmlich auf, drängte das Rakke, hinunterzurennen und seine Klauen in dieses feuchte Fleisch zu schlagen, zu fressen, bis sein Bauch voll war. Sabber schimmerte auf seinen Reißzähnen, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als es den schnellsten Weg den Fels hinab suchte, einen Weg, auf dem es nicht abstürzte und zu Tode kam. Der Weg war schwierig, aber nicht unmöglich. Es ignorierte den Schnee, der jetzt auf seine Hacken rieselte, und zitterte, nicht vor Kälte, sondern vor Gier.

Das Rakke beugte sich vor, bis es fast über den Rand des Felsens kippte. Seine Muskeln pochten vor Anspannung, als es die Nüstern blähte, tief die eisige Luft einsog und seine Lungen füllte, um anzugreifen. Es nahm die Witterung des Fleisches dort unten wahr und hätte beinahe vor Freude geheult. Die Kolonne von Menschen und Tieren wirkte wie eine Kette mit Widerhaken, die sich tief in sein Fleisch grub und es unaufhaltsam anzog. Es beugte sich ein bisschen weiter vor, spürte, wie sein Körper nach vorne sank. Es hätte ihm erlaubt, weiter zu fallen, weil es wusste, dass es dann gezwungen gewesen wäre, zu springen und den Sturmlauf zu beginnen, aber ein Hauch Vorsicht drang durch den roten Nebel lüsternen Hungers und dämpfte seine Fressgier. Es riss sich zusammen, lehnte sich zurück und klackte vor Enttäuschung mit den Kiefern. Zögernd betrachtete es die Kolonne etwas sorgfältiger. Das Rakke konnte zwar nur die Lebenden sehen, aber der Schneesturm verhüllte sie immer wieder und verlieh der Kolonne in der Nacht ein gespenstisches Aussehen. Das Rakke wusste, dass es sich vor den Schatten hüten musste. Und es war schwer zu erkennen, ob sie da waren oder nicht. Deshalb rückte es langsam vom Rand des Felsens zurück.

Es schlich zwischen die Felsen, drehte den Kopf und knurrte vor Wut in Richtung des glühenden blauen Baumes, der jetzt die Gegend beherrschte. Alles an diesem Baum war falsch. Statt einen feuchten, dunklen Platz zu bieten, wo es sich hätte verstecken können wie in ihrem Forst, strahlte dieser Baum überallhin Licht aus. Dem Rakke kam es sogar so vor, als würde dieses Licht sich einen Weg in seinen Schädel bahnen und es langsam töten. Es wusste trotz seiner Primitivität, dass der Baum versuchte, es wieder in das Nichts zurückzuschicken, aus dem die Schattenherrscherin es gerettet hatte. Das Rakke sehnte sich danach, dass ihre Macht hierher zurückkehrte und das Land von diesem neuen, schrecklichen Licht säuberte. Die Verzweiflung des Rakke, von dem Baum wegzukommen, wuchs, aber es würde warten und zusehen, bis der Feind verschwunden war. Erst dann würde es seinen Beobachtungsposten verlassen und ihren Dunkelelfen Bericht erstatten.

Es knirschte mit den Zähnen und schlug mit seinen Klauen auf die Felsen, blieb jedoch dort. Es würde die Qualen des blauen Lichtes weiter ertragen und hungern. Schon bald jedoch würde es wieder jagen können, und dann würde seine Beute wahre Qualen erleben, bevor sie starb.

Das Rakke war so von seiner Wut eingenommen, dass es den Schatten nicht bemerkte, der plötzlich hinter ihm auftauchte. Ein leises, gurgelndes Geräusch wie vom Wasser einer Gebirgsquelle wurde vom Wind verweht, bevor es die Ohren des Rakke erreichte, und nahm ihm so eine letzte Möglichkeit zur Flucht. Ein einzelner Funke von dunklem Grün glühte auf in einer wogenden Masse schimmernder Kügelchen tief in den Schatten. Sie ballten sich zu einem brodelnden Ball zusammen, als sie eine schwarze Kehle hinauf in einen aufgerissenen Schlund stiegen.

Der Wind schlug um und wehte den Geruch von etwas süßlich Beißendem und entfernt Vertrautem in die Nase des Rakke. Seine Eingeweide erstarrten zu Eis, als eine Furcht, die es schon lange, sehr lange vergessen hatte, jeglichen klaren Gedanken unterband. Die Urinstinkte übernahmen die Kontrolle. Das Rakke fletschte die Reißzähne und sprang nach links, während es gleichzeitig mit den Klauen nach dem Grauen hinter sich schlug.

Das Rakke reagierte so schnell, dass seine Gestalt verschwamm, als es seinen gewaltigen Arm in einem weiten Bogen nach hinten schwang. Allein die Wucht dieser Bewegung hätte eine gepanzerte Rüstung wie Pergament zerfetzt, aber seine Klaue zischte nur durch die Luft. Ohne das Gewicht von Fleisch und Knochen, die den Schwung seiner Bewegung verlangsamt hätten, drehte sich das Rakke einmal um sich selbst, verlor sein Gleichgewicht und drohte über den Abgrund zu kippen, auf den felsenübersäten Wüstenboden weit unten. Instinktiv streckte das Rakke die Beine aus, um Halt zu finden, doch es gab keinen, und die Kreatur taumelte über den Rand des Felsens. Es streckte Halt suchend seine rechte Klaue aus, aber mittlerweile war sein Körper schon zu weit von der Felswand entfernt, und es stürzte immer schneller.

Das Rakke akzeptierte jedoch seinen unausweichlichen Tod auf den Felsen tief unten mit Erleichterung. Alles war besser, als dem grünen Tod zum Opfer zu fallen, der sich an es herangeschlichen hatte.

Die wirbelnde grüne Masse jedoch schoss aus dem Schatten hervor und traf das Rakke in die Brust, noch während es stürzte.

Die grünen Kügelchen trennten sich beim Aufprall. Jedes entrollte sich und enthüllte winzige Beine und einen scharfen Schnabel, auf dem Säure glänzte. Ein zischendes Geräusch umhüllte das Rakke, als die winzigen Kreaturen ihr Gift freigaben und sich in sein Fleisch bohrten.

Das Rakke kreischte, als es durch die Luft flog, und wütend an seiner Brust riss, wo die winzigen Eindringlinge es berührt hatten. Blut spritzte aus den Arterien, als es seine Klauen tief in seinen eigenen Brustkorb grub. Es heulte vor Schmerz und begann sich selbst zu zerfetzten bei dem verzweifelten Versuch, an die grünen Kreaturen zu gelangen, die sich in es hineingegraben hatten. Sein Herz hämmerte wie wild, während die kleinen grünen Wesen immer tiefer krochen und sich rücksichtslos durch Sehnen und Knochen bohrten.

Das Rakke war tot, bevor das, was von seinem Körper übrig geblieben war, mit einem nassen Rums auf dem Wüstenboden aufschlug und seine Reste einen weiten, nassen Halbmond bildeten.