22
»VERSTEHT IHR JETZT? Das hat uns alles dieser Narr Konowa eingebrockt!« Kritton breitete die Arme aus, als wollte er die ganze schneebedeckte Wüste umfassen. Er sah Visyna finster an. In seinem Blick lag eine flammende Gewissheit, die keinerlei Gegenargument akzeptierte. Bei jemand anderem wäre das vielleicht als wilde Entschlossenheit betrachtet worden, aber Visyna wusste, dass es bei diesem Elfen etwas anderes, etwas Tödliches war.
Er verliert die Kontrolle. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er versuchte, sie alle zu töten.
Kritton keifte weiter, während er die ganze Zeit mit den Armen herumfuchtelte. Seine Uniform hing in Fetzen von seiner hageren Gestalt. Sein Haar war ungepflegt, seine Caerna nur noch ein Stück Lumpen.
Visyna senkte den Kopf und wandte sich ab, teils weil sie ihn nicht weiter aufregen wollte, aber auch um sich vor dem Schnee zu schützen, den ihr der Wind ins Gesicht peitschte. Nach der Wärme des Tunnels fiel es ihr schwer, in der Kälte auch nur Luft zu holen. Keiner von ihnen war für dieses Wetter gekleidet, und sie alle waren müde, hungrig, durstig und verletzt. Sie würden bei diesen Bedingungen höchstens ein oder zwei Stunden überleben.
Sie wartete und legte die Hände auf ihre Brust, um ihre Finger zu wärmen, falls sie ihre Magie weben musste. Kritton fluchte und ging davon. Dabei bellte er den Elfen den Befehl zu, sie sollten ihre Musketen auf die Gefangenen gerichtet halten. Visyna betrachtete die Gesichter der Männer, suchte nach einem Anzeichen von Mitleid, von Bedauern oder auch nur von Scham, doch alles, was sie sah, waren Masken der Gleichgültigkeit. Der Blick ihrer Augen war ebenso kalt wie der Stahl ihrer Bajonette. Visyna zweifelte keine Sekunde, dass sie all ihre Gefangenen ohne zu zögern töten würden.
Einen Moment später tauchte Hrem neben ihr auf. »Ich glaube, ich hatte recht. Direkt vor uns auf diesen Felsen ist ein Fort. Das muss Suhundams Hügel sein.«
Visyna kniff die Augen zusammen und spähte in den Wind. Was sie zuerst für Dunkelheit gehalten hatte, nahm allmählich die Umrisse einer schroffen Felsenklippe an, auf der ein gedrungener, viereckiger Kasten thronte. »Wir müssen handeln, bevor wir dort hineinkommen. Kritton verliert die Beherrschung.«
»Elfen könnten sterben«, erwiderte Hrem, der seinen Blick nicht von dem Fort nahm.
»Sie haben ihre Entscheidung getroffen. Jetzt wird es Zeit, dass wir unsere treffen«, sagte sie und wiederholte dabei seine Worte von zuvor. Sie prüfte die Luft um sie herum. Jetzt, da sie wusste, wonach sie suchen musste, fanden ihre Finger mit Leichtigkeit die Fäden der Elfen im Sturm. Sie keuchte, als sie urplötzlich einen Faden ertastete, der von einer kalten, schwarzen Macht umhüllt war.
Konnte das sein? »Ich glaube, Konowa ist hier«, flüsterte sie und blickte zum Fort hinauf.
»Das bedeutet, das Regiment ist ebenfalls hier«, antwortete Hrem und sah sich um, bevor er wieder zu der Festung hinaufblickte. »Ich dachte, ich hätte da oben eine Bewegung gesehen, es dann aber als Einbildung abgetan. Wenn das Regiment bereits im Fort ist, wird Kritton sich selbst in eine Falle manövrieren. Wir brauchen dann nur noch abzuwarten und es geschehen zu lassen.«
Visyna konnte ihr Glück nicht fassen. Sollte es tatsächlich so einfach sein? Kritton brüllte Befehle, und die Elfen und ihre Gefangenen setzten sich in Bewegung. In diesem Wetter wäre es für einen Soldaten einfach gewesen, sich in die Nacht davonzuschleichen, aber wohin sollte er flüchten? Ohne Schutz vor dem Sturm würde man hier draußen erfrieren. Sie betrachtete die zusammengedrängte Gruppe von Soldaten, und ihr wurde klar, dass keiner von ihnen irgendwohin laufen würde. Zwitty, Scolly und Inkermon hielten sich gegenseitig aufrecht, während sie schwankend und stolpernd weitergingen. Chayii grub beim Gehen eine Hand fest in Jirs Mähne. Sie blieb stehen und schwankte, riss sich jedoch zusammen und richtete sich wieder auf.
»Hrem, ich muss Chayii helfen. Wenn sie zusammenbricht, dann verliert sie auch die Kontrolle über Jir, und er wird angreifen. Halten Sie die anderen zusammen.«
Hrem nickte und trat zu den drei Soldaten, während Visyna neben Chayii herging und beiläufig ihren Arm um die Taille der älteren Elfe schlang. Sie zitterte.
»Du musst deine Hände frei halten, um Magie zu weben, mein Kind«, sagte Chayii und sah sie an. Ihr Gesicht war grau, ihre Lippen waren blau angelaufen.
»Du erfrierst ja«, sagte Visyna, nahm die Elfe fester in den Arm und hoffte, sie ein wenig wärmen zu können.
»Jir ist immer schwerer zu kontrollieren, und das Wetter ist nicht gerade hilfreich. Ich glaube nicht, dass ich es bis zum Fort schaffe.«
Nein. Visyna sah sich um, um sich davon zu überzeugen, dass keiner der Elfen in der Nähe war. »Ich glaube, ich habe Konowa dort oben gespürt. Ich bin sicher, dass ich ihn gefühlt habe. Wir müssen es nur bis in das Fort schaffen, dann wird alles gut. Alles wird gut.«
»Mein Sohn ist da?«
Visyna drückte ihr Handgelenk. »Du musst einfach nur noch ein kleines bisschen länger durchhalten.«
Bei diesen Worten richtete sich Chayii etwas gerader auf. Jir sah zu ihnen hoch und schnurrte. Seine Ohren waren gespitzt, und er hielt seine Schnauze in den Wind, um Witterung aufzunehmen. Visyna fragte sich, ob er Konowa ebenfalls spürte. Einen Augenblick später verwandelte sich das Schnurren des Bengars in ein Grollen.
Visyna ließ Chayii los und tastete erneut nach den Fäden von Energie. Sie fand immer mehr, es waren Hunderte.
»Rakkes!«
»Wo?«, fragte Chayii und blieb stehen. Die Elfen um sie herum hörten ihren Schrei und hielten ebenfalls an. Kritton war sofort da und starrte sie an.
»Ich habe dich gewarnt, Miststück!«, stieß er hervor und hob den Schaft seiner Muskete, um sie damit zu schlagen.
Doch bevor er dazu kam, ertönte in der Ferne der kreischende Schrei eines Rakke. Ihm antwortete das Gebrüll von einem Dutzend weiterer Bestien. Die Schreie wurden lauter, und ihre Wut übertönte sogar den Sturm. Kritton ließ seine Muskete sinken.
»Zurück, zum Teufel! Wir müssen sofort in den Tunnel zurück, auf der Stelle!«
»Dafür ist es zu spät«, erklärte Hrem, der sich zwischen den Elf und Visyna stellte. »Hast du diese Bestie nicht gehört? Sie sind auch schon hinter uns. Unsere einzige Chance besteht jetzt darin, zum Fort zu kommen. Dort können uns die Rakkes nichts anhaben.«
Bei der Erwähnung des Forts fuhr Krittons Kopf herum, und er starrte zu dem felsigen Hügel hinauf. Visyna bemerkte, dass die Elfen jetzt den Sturm beobachteten und keinerlei Aufmerksamkeit auf die anderen richteten.
Einer der Elfen sagte etwas auf Elfisch zu Kritton und deutete zum Fort, aber Kritton schüttelte den Kopf. »Der Plan sah vor, dass wir uns am Fuß des Weges treffen, der zum Haupttor führt. Der Zwerg Griz Jahrfel wird uns dort bereits erwarten.«
»Kritton, wenn Griz Jahrfel irgendwo hier in der Nähe ist, dann dürften er und der Rest seiner Diebesbande längst Rakkefutter sein«, meinte Hrem. »Hör auf deine Leute. Wir müssen zum Fort.«
Kritton hob seine Muskete, als wollte er schießen. »Du vergisst wohl, wer hier das Sagen hat! Wir werden nicht in dieses Fort gehen!«, schrie Kritton.
Mittlerweile hatten die Elfen ein kleines Viereck um sie gebildet und richteten ihre Blicke angestrengt nach außen. Das war genau die Chance, auf die Visyna gewartet hatte, aber da jetzt die Rakkes in der Nähe waren, wusste sie nicht genau, ob sie diese Chance auch ergreifen sollte. Sie glaubte von ganzem Herzen, dass Konowa in diesem Fort war, und sie wollte nichts mehr, als dass er mit seinem Regiment herbeistürmte und sie rettete. Aber sie wusste bereits, dass das unmöglich war. Eine Regiment kann sich nicht so schnell bewegen, und es wäre Selbstmord, die Männer aus der Sicherheit des Forts herauszulocken.
Sie traf ihre Entscheidung.
Während Hrem und Kritton weiter stritten, ging sie einen Schritt zur Seite, bis sie bei Zwitty, Scolly und Inkermon stand. Sie drehte sich zu ihnen herum, als wenn sie ihnen helfen wollte.
»Sag mir, wenn Kritton hierherkommt«, sagte sie.
»Was haben Sie vor?«, fragte Zwitty. Sein hinterhältiges Gesicht war eine Maske des Argwohns.
»Ich rette euch das Leben«, erwiderte sie.
Visyna ignorierte die Fäden des Lebens um sie herum und konzentrierte sich stattdessen auf das Wetter. Sie schloss die Augen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Himmel, suchte eine einzelne Schneeflocken aus, die mehrere hundert Meter über ihr in der Luft schwebte. Sie benutzte dieser Flocke als ihren Fokus und begann weitere Flocken anzuziehen. Sie hoffte einen Ministurm zu erzeugen, der Kritton und die Elfen lange genug blenden würde, um ihre Flucht zu decken.
Doch statt sich zu einem wogenden Haufen von Schneeflocken zu ballen, schmolzen die Flocken und froren zusammen, bildeten einen wirbelnden Eisblock. Visyna verzog das Gesicht, als sie das Brennen der Magie der Schattenherrscherin in dem Sturm fühlte. Der Schmerz beeinträchtigte ihre Fingerfertigkeit. Je mehr sie wob, desto größer wurde der Eisblock. Er war jetzt bereits so groß wie ein Mensch und wuchs rasend schnell, während er stürzte. Dann dämmerte ihr, was für einen Horror sie da in Gang gesetzt hatte. Das würde kein blendender Sturm werden, sondern es war ein gigantischer Brocken aus solidem, metallischem Eis.
Sie sah Krittons Lebenskraft ganz klar in dem Sturm. Sie war eingebunden in den Schwur der Schattenherrscherin und pulsierte von einer schwarzen Energie. Es machte ihr Kummer, dass sie der von Konowa so ähnlich war, aber sie wusste, dass Kritton sich, anders als Konowa, niemals ändern würde. Krittons Energie wurde von mehr befleckt als nur von dem Schwur. Seine Wut und seine Rachsucht verzehrten ihn, machten ihn ebenso gefährlich wie die Rakkes um sie herum.
Visyna drehte sich um und öffnete die Augen. Kritton schrie immer noch Hrem an, doch jetzt hielt er mitten im Satz inne und sah sie an. Sein Blick fiel auf ihre Hände, und er riss die Augen auf.
Er weiß es.
Kritton setzte seine Muskete wieder an. Er würde schießen. Die Zeit schien stillzustehen. Visyna wusste, was sie zu tun hatte, aber anders als bei dem Käfer im Tunnel war dies hier kein Unfall. Sie ließ die Hände sinken und entzog damit dem fallenden Eis den letzten Halt. In dem Moment dämmerte ihr, dass sie immer noch die Macht besaß, den Eisblock abzulenken, sodass er nicht direkt auf Kritton fallen würde, aber sie tat es nicht. Etwas in ihrem Innern schrie, dass dies falsch war und es danach wahrhaftig kein Zurück mehr für sie gab, aber ihr Überleben und das der Gruppe zählten mehr.
Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
Ein Rauschen ertönte, ein verschwommener Schatten zuckte durch die Dunkelheit, dann spritzte ein Sprühnebel aus rotem Dunst auf, als das Eis auf Krittons Schädel landete. Es zerbrach nicht, sondern donnerte weiter in den Boden, wobei es Krittons Körper pulverisierte und einen ein Meter fünfzig tiefen Krater in den gefrorenen Wüstenboden grub.
Visyna schrie auf. Die Brutalität von Krittons Tod schockierte sie. Blut, Schnee und Eis explodierten in alle Richtungen. Ein Eisbrocken traf sie im Magen und schleuderte sie rücklings gegen die drei Soldaten. Alle vier landeten im Schnee.
Visyna rang nach Luft, und ihre Arme und Beine zuckten, als sie versuchte, ihre Sinne wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aus der Dunkelheit tauchte eine Hand auf. Sie griff danach und stieß einen leisen Schrei aus, als das Frostfeuer ihre nackte Haut versengte. Hrem zog sie hoch und ließ sie dann rasch los. Scolly, Zwitty und Inkermon rappelte sich mühsam hoch. Jir tauchte aus der Dunkelheit auf, und Chayii umklammerte immer noch seine Mähne.
»Das war ein verdammt gutes Ass, das Sie da in Ihrem Ärmel hatten«, erklärte Hrem. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein zufriedenes Grinsen, aber Visyna war nicht danach zumute. Hrem hob seine andere Hand. Mit der Faust umklammerte er Yimts Drukar. Wollte er ihr diese Waffe etwa als Trophäe überreichen? Sie hatte soeben ein anderes Lebewesen ermordet. Sie wusste zwar, dass sie es aus gutem Grund getan hatte, aber das änderte nichts an dem, was sie getan hatte. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
Eine Muskete knallte. Alle duckten sich, aber der Schuss war nicht in ihre Richtung abgefeuert worden. Rakkes jaulten. Ein Felsbrocken zischte über ihre Köpfe hinweg. Die Elfen hatten sich alle der Gefahr rings um sie zugewandt. Weitere Musketenschüsse fielen.
»Die Rakkes kommen näher!«, schrie Hrem.
»Wir müssen versuchen, zum Fort zu kommen. Können Sie noch mehr von dieser Wettermagie wirken?«
Visyna war immer noch schwindelig. Ursache war kein Bedauern, sondern mehr der Schock darüber, dass sie vorsätzlich ein Leben zerstört hatte. Sie versuchte, ihre Gefühle tiefer zu erforschen, wollte mehr empfinden als staunende Ungläubigkeit, aber ihr Verstand war zu sehr angefüllt mit Bildern von blutbespritztem Eis und dem schrecklichen Geräusch von Knochen, die zermalmt wurden. Sie wusste, dass sie beides für den Rest ihres Lebens nicht mehr loswerden würde.
»Nicht so wie eben, aber ich sollte in der Lage sein, uns teilweise in dem Sturm zu verbergen.« Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, sich zu erklären. »Ich kann sie nicht alle töten, Hrem. Ich habe getan, was ich tun musste, um Kritton aufzuhalten, aber ich kann nicht all diesen Elfen das Leben nehmen. Selbst wenn ich die Macht dazu hätte, glaube ich nicht, dass ich das über mich bringen könnte.«
»Das müssen Sie auch nicht«, meinte Hrem und deutete mit dem Kopf zur Seite.
Sie folgte seinem Blick. Die Elfen verschwanden im Schnee, während sie ihre Musketen abfeuerten.
»Laufen sie weg?«, erkundigte sie sich.
»Das weiß ich nicht, und es kümmert mich auch nicht«, erklärte Hrem. »Nach dem, was Sie mit Kritton gemacht haben, glauben sie vermutlich, dass sie bei den Rakkes sicherer sind. Wenn überhaupt, lenken sie die Rakkes ganz ausgezeichnet von uns ab. Wir sind eine weit kleinere Gruppe und haben deshalb eine bessere Chance, unentdeckt zu bleiben.«
Eine Musketensalve machte jedes weitere Gespräch unmöglich. Visyna duckte sich unwillkürlich erneut. In der Nähe kreischten Rakkes vor Schmerz.
»Du riskierst unser Leben«, sagte Zwitty und deutete mit einem Finger auf Hrem. »Glaubst du wirklich, dass nicht einer dieser Elfen uns als Abschiedsgeschenk eine Musketenkugel in den Rücken schießen würde? Sie waren bereit, uns alle in diesem Tunnel umzubringen. Wenn wir uns alleine auf den Weg zu diesem Fort machen, könnten sie uns durchaus eine Salve hinterherschicken.«
»Wie du willst. Vielleicht möchtest du ja lieber hierbleiben und auf die Rakkes warten?«, erkundigte sich Hrem.
»Ich glaube nicht, dass das eine wirklich gute Idee wäre.« Scolly sah Zwitty an. »Diese Rakkes sind wirklich verdammt böse.«
Zwitty erwiderte boshaft Scollys Blick, öffnete den Mund und schloss ihn dann mürrisch. Er ließ die Hand sinken. »Niemand will auf diese verdammten Rakkes warten. Ich sage nur, dass es uns das Leben kostet, wenn du dich irrst, Hrem.«
»Unser Leben steht so oder so auf dem Spiel«, erklärte Visyna und konzentrierte ihre Energie. »Wir müssen zu dem Fort, das ist unsere einzige Chance. Ich sollte in der Lage sein, einen kleinen Sturm innerhalb dieses Sturms zu weben, der uns verbirgt.«
»Können Sie ihn denn auch kontrollieren?«, wollte Zwitty wissen. Die Besorgnis in seiner Stimme war unüberhörbar. Sie alle hatten gesehen, wie Kritton starb. Selbst Kanonenkugeln hatten nicht eine derart zerstörerische Wirkung.
Visyna wusste, dass ihre Wangen brannten. Sie hatte keinen massiven Eisblock schaffen wollen, aber am Ende hatte genau der sie gerettet. Sie hatte sie alle gerettet. »Ich werde meine Energie nicht über uns konzentrieren, sondern nur um uns herum. Das wird keinem Schaden zufügen, solange ihr mich nicht berührt und nicht außerhalb des Gebietes tretet, das ich schütze.«
»Und wenn wir es doch tun?«, fragte Zwitty.
Visyna antwortete nicht, sondern warf nur einen vielsagenden Blick zu dem Krater, der die Stelle markierte, wo Kritton gestanden hatte.
Das Musketenfeuer nahm ab. Visyna konnte einige Elfen durch das Schneetreiben hindurch erkennen, aber es war so, als würde ihre Gruppe nicht länger existieren. Jetzt, da Kritton tot war, würden vielleicht seine zerstörerischen Vorstellungen von Ehre und Rache die Elfen nicht länger beherrschen. Sie hätte gern geglaubt, dass dies stimmte, aber sie hatte sich bereits entschlossen, nicht zu warten, um es herauszufinden.
Sie bemerkte, dass Chayii Jir immer noch zurückhielt, und ging zu den beiden hinüber. »Konowa muss wissen, dass wir hier sind. Wir brauchen es nur bis zu der Mauer zu schaffen, dann sind wir in Sicherheit.«
»Du setzt sehr viel Vertrauen in meinen Sohn«, sagte Chayii. Es war eine schlichte Feststellung. Visyna konnte keinerlei Sarkasmus in ihrer Stimme entdecken.
»Das tue ich, ja, aber ich setze auch sehr viel Vertrauen in mich selbst, in dich, in Jir und in den Rest der Abteilung, sogar in Zwitty.«
Chayii hob die Brauen, und Visyna neigte den Kopf. »Oh, ich vertraue nur darauf, dass Zwitty nicht hier draußen alleingelassen werden will.«
Die Elfe lächelte. »In diesem Fall ist mein Glaube an ihn genauso groß wie deiner.«
Visyna hielt inne und lauschte auf das Musketenfeuer. Und bevor sie es verhindern konnte, platzte sie mit der Frage heraus, die sie, wie sie wusste, stellen musste. »Willst du, dass ich sie rette? Ich meine, die anderen Elfen?«
Chayii straffte sich unmerklich. Ihr Blick schien in Visynas Innerstes zu dringen, und etliche Sekunden lang sagte sie nichts.
»Nein«, erwiderte Chayii dann. Ihre Stimme klang vollkommen emotionslos. »Wir können ihnen nicht mehr helfen.«
»Aber Konowa …«, begann Visyna, unterbrach sich jedoch. Sie wollte sagen, dass Konowas Leben sich in der letzten Zeit nur darum gedreht hatte, seine Elfen wiederzufinden. Und jetzt, da sie so nahe waren, entglitten sie ihm erneut.
Chayii lächelte sie an. »Ich glaube, du kennst die Antwort bereits. Dies hier sind nicht Konowas Elfen. Sie waren es einmal, sind es jetzt jedoch nicht mehr. Sollten sie durch irgendein Wunder überleben, hätte Konowa keine Wahl, als jeden Einzelnen von ihnen vor ein Kriegsgericht zu stellen. Und du weißt, wie die Strafe für ihre Verbrechen lautet? Er selbst müsste ihre Todesurteile unterzeichnen.«
Visyna wusste, dass das stimmte. »Können wir denn nichts tun?«
»Wir können uns selbst retten, mein Kind«, antwortete Chayii. »Und das wird schon schwierig genug.«
In Chayiis Worten lag eine kalte Logik, gegen die Visyna nichts einwenden konnte. Hrem kam auf sie zu, gefolgt von den drei anderen Soldaten. Das Musketenfeuer nahm an Intensität zu, und diesmal ließ es nicht nach. Rakkes brüllten überall um sie herum.
»Wir müssen wirklich von hier verschwinden«, erklärte der hünenhafte Soldat.
Visyna sah ein letztes Mal zu Chayii hinüber, die sich umdrehte und zu dem Fort hinübersah. Es erhob sich vor ihnen wie ein dunkler Quader. Gleichzeitig schien es unendlich weit entfernt zu sein. Visyna fror, sie war müde, hungrig, hatte Angst und tat ihr Bestes, all das zu ignorieren. Der Schnee wirbelte in dicken Vorhängen um sie herum und gab nur gelegentlich einen Blick auf die Wüste frei. Sie sah Rotten von Rakkes und Leichen überall im Schnee.
»Bleibt dicht bei mir.« Sie begann ein Muster in der Luft zu weben, zog an den Fäden um sie herum. Das Musketenfeuer knallte ringsum und erschwerte es ihr, sich zu konzentrieren. Die Schreie und das Gebrüll der Rakkes machten es noch schlimmer. Sie schüttelte die Finger aus und ließ den Kopf kreisen. Abgesehen davon, dass sie müde hungrig und verängstigt war, gab es noch tausend andere Dinge, die zu verstehen ihr die Zeit fehlte. Sie vertiefte sich weiter in sich selbst, ignorierte das Chaos und suchte nach etwas Solidem, an das sie sich halten konnte.
Konowa. Sie lächelte und knurrte gleichzeitig. Er war weniger niederträchtig und eher ein mächtiges Element in dem Kessel eines Alchimisten, aber er war Energie und Leben. Sie machte sich keinerlei Illusionen, dass sie ihn jemals verändern konnte … jedenfalls nicht vollständig, aber wie weit er sich auch von seinen Ursprüngen entfernt hatte, er blieb doch eine Kreatur der Natürlichen Ordnung. Und das genügte.
Visyna stellte ihn sich vor, sah den Elf, der er war. Sie akzeptierte die Dunkelheit und die Gewalt, die in ihm steckten; sie wusste ja, dass die Entscheidungen, die er getroffen hatte, ebenso schwierig wie notwendig gewesen waren. Das bedeutete nicht, dass sie mit ihnen einverstanden war, und ganz gewiss nicht, dass sie ihm nicht helfen wollte, ein besserer Elf zu werden, aber einstweilen fand sie in sich die Bereitschaft, ihn so zu akzeptieren, wie er war. Sie hatte heute Nacht einen Elf getötet, weil der sich nicht verändern konnte. Das Bedauern über diese Tat bedrückte sie sehr. Sie würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um dem Elf zu helfen, den sie liebte, dass er die Kraft fand, die Kritton nicht gefunden hatte.
Der Boden um sie herum explodierte in einem Geysir aus Schnee und Sand. Eine einzelne Schneesäule, die jetzt nur etwa dreißig Zentimeter dick war, stieg gut sieben Meter hoch in den Himmel empor. Sie keuchte und bremste ihre Magie ein wenig, erlaubte es der Säule, sich auf einer Höhe von etwas mehr als zwei Metern einzupendeln.
»Der Schöpfer sei gepriesen«, stieß Inkermon hervor. Staunen und Furcht vermischten sich unüberhörbar in seiner Stimme.
Visyna hätte ihm gerne gesagt, dass sein sogenannter Schöpfer nichts damit zu tun hatte, aber das wäre nicht sonderlich hilfreich gewesen.
»Könnten Sie ihn um ein bisschen Hilfe bitten?«, fragte sie stattdessen und konzentrierte sich wieder auf die Säule aus Sand und Schnee.
»Was denn, ich soll zu ihm beten? Jetzt?«, erkundigte sich Inkermon.
»Ich könnte es gebrauchen. Wir alle könnten das gebrauchen.« Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Der Soldat war vollkommen verblüfft.
»Darum hat mich noch niemand gebeten«, antwortete Inkermon und stand auf. Seine Knie waren zwar weich, aber er blieb stehen. »Man hat mich immer nur belächelt. Ich dagegen habe nur versucht, das Wort des Schöpfers zu verbreiten und den Menschen den Pfad der Erlösung zu weisen.«
»Gnade, Inkermon, fang jetzt nicht an zu flennen«, sagte Hrem. »Ich kann zwar nicht für die anderen sprechen, aber ich bewundere einen Mann mit festen Überzeugungen. Hauptsache, er vergisst nicht, dass andere Männer möglicherweise andere ebenso feste Überzeugungen haben.«
»Es gibt nur eine einzige Wahrheit …«, begann Inkermon, verstummte dann jedoch und ließ den Rest seiner Worte vom Winde verwehen. »Ein Gebet wäre jetzt durchaus angemessen. Ja, ich werde seine Hilfe erflehen, auf dass wir leben mögen, um seinen Geboten zu folgen.«
Visyna lächelte. Sie hatte zwar keine Ahnung, wer oder was jenseits dieser Welt existieren mochte, aber wenn diese Existenzen ihnen ein bisschen behilflich sein wollten, würde sie nicht Nein sagen. Sie fröstelte und streckte die Hände vor sich aus. Mit einem kurzen Schütteln ihres Handgelenks begann sie die Säule aus Schnee zu zerreißen, blätterte sie auf wie eine von Rallies Schriftrollen. Dabei formte sie sie zu einer geschwungenen Mauer, die sie schließlich umschloss und einen Kreis von etwa drei Meter Durchmesser bildete.
»Viel Platz gibt es hier ja nicht gerade«, murmelte Zwitty.
»Kannst du nicht einmal die Klappe halten?«, wollte Hrem wissen.
»Hör zu, ich sage ja nicht, dass ich auf der anderen Seite dieses Dings stehen will«, meinte Zwitty in seinem typischen, jammernden Tonfall. »Ich sage nur, dass es ziemlich eng ist. Sie ist diejenige, die gesagt hat, dass wir sie nicht berühren dürfen, während sie ihren Bann wirkt. Und das hier wird nicht einfach, wenn wir so zum Fort gehen wollen, hab ich recht?«
»Es wird eine Herausforderung sein«, meinte Chayii, die ihren Griff in Jirs Mähne lockerte, als sie sich vor Visyna stellte. Der Bengar schnüffelte an dem wirbelnden Schnee, der dreißig Zentimeter vor seiner Schnauze vorbeifegte, war aber klug genug, ihn nicht zu berühren. Die Soldaten kamen hereingeschlurft und bauten sich in einem Halbkreis neben und hinter ihr auf.
»Das ist das Beste, was ich hinbekomme«, sagte Visyna. Und das stimmte auch. Als ihr dämmerte, dass sie diese Wand aufrechterhalten musste, während sie mehrere hundert Meter über immer schwierigeres Terrain gingen, wobei sie von Rakkes umringt waren, kamen ihr Zweifel, ob sie es wirklich schaffen konnte.
»Sehr viel ist es jedenfalls nicht«, sagte Zwitty, der sich offensichtlich nicht beherrschen konnte. »Dieser Eisblock, den Sie benutzt haben, um Kritton zu zerschmettern, war ziemlich gute Magie. Aber das hier ist nur ein bisschen Schnee, der herumwirbelt, hab ich recht?«
Bevor sie ihm eine Warnung zurufen konnte, schrie Zwitty auf.
»Es hätte mir fast die Haut von den Knochen gesengt!«, schrie er. »Das ist ja kochend heiß!«
Visyna fühlte, wie seine Hand kurz die Wand berührte, ohne dass sie es sehen musste. »Berührt die Wand nicht. Je länger sie aufrechterhalten wird, desto heißer wird sie. Und ich warne euch jetzt schon, es wird wahrscheinlich hier drinnen sehr warm werden.«
»Ich friere mir immer noch meinen … Also, es ist im Moment eiskalt, daher wäre ein bisschen mehr Wärme ganz angenehm«, antwortete Hrem.
Hoffen wir, dass das alles ist, was passiert, dachte Visyna und wob ihre Magie noch etwas langsamer. Es würde eine sehr empfindliche Balance erfordern. Die Rakkes würden den Gebrauch von Magie wittern, also konnte selbst aller Schnee der Welt sie nur für eine Weile tarnen. Sie musste die Gruppe durch eine Art von Barriere verbergen, die jeden Neugierigen davon abhielt nachzusehen, was sich dahinter befand.
»Hrem, Sie alle sind Soldaten. Wir müssen in einem regelmäßigen Tempo marschieren.«
»Da kann ich Ihnen helfen. Also gut, meine Damen und Herren. Schön locker bleiben. Ich gebe den Rhythmus vor, und Sie folgen mir. Bereit? Mit rechts … und damit meine ich Ihren rechten Fuß … vorwärts … Marsch.«
Während Hrem leise »rechts, links, rechts, links« intonierte, benutzte Visyna den Rhythmus des Tempos, um sich auf ihr Leben zu konzentrieren. Schon bald hatte sie einen angenehmen Rhythmus gefunden. Chayii ließ ihre Hand in Jirs Mähne, aber der schien im Moment vollkommen damit zufrieden zu sein, mit ihnen zu laufen. Er schonte immer noch seine verletzte Schulter, aber das schien ihn nicht langsamer zu machen.
»Rechts, links, rechts, links, rechts … ich kann das Fort direkt vor mir se-hen, links, rechts, links, rechts«, sagte Hrem, der die Worte im Rhythmus des Marsches skandierte.
»Befinden sich Rakkes vor uns?«, fragte sie. »Ich muss mich vollkommen darauf konzentrieren, die Mauer aufrechtzuerhalten. Es ist schwierig, dahinterzublicken.«
Hrem antwortete nicht sofort. »Also gut«, sagte er und unterbrach den Rhythmus. »Finden wir raus, wie heiß dieser Schnee ist. Können Sie sich dagegen wappnen?«
Visyna riskierte einen kurzen Vorstoß ihrer Sinne durch die Wand und bereute es sofort. »Da sind Hunderte von ihnen!«
»So viele kann ich gar nicht sehen, aber was ich sehe, genügt. Und wir haben nicht einmal irgendwelche verdammten Waffen!«, erklärte er.
Schweiß tropfte von Visynas Nase. Sie blinzelte, und weitere Schweißtropfen brannten in ihren Augen. Sie konnte es sich nicht einmal leisten, sie mit den Händen abzuwischen, also rieb sie ihr Gesicht an dem Tuch ihres Ärmels, während sie weiterhin ihren Bann wob. Es war bereits ziemlich heiß in dem Kreis, und sie hatten kaum zwanzig Meter geschafft.
»Bleibt dicht zusammen … und geht weiter«, sagte Visyna, die eigentlich mit sich selbst sprach. Sie wusste bereits jetzt, dass sie diesen Zauber nicht den ganzen Weg zum Fort aufrechterhalten konnte.
Ein Rakke heulte unmittelbar auf der anderen Seite dieser wirbelnden Wand aus Schnee.
Einen Moment später spürte Visyna, wie die Kreatur gegen die Wand sprang. Die Schreie verstummten schlagartig, als die kleine Gruppe weiterging und über den qualmenden Leichnam des Rakke stieg. Jir knurrte und fletschte seine Zähne beim Anblick des Rakke, aber er schnüffelte nur kurz an dem Kadaver und ließ ihn in Ruhe. Visyna trat darüber hinweg, während sie versuchte, ihn zu ignorieren, aber der Gestank von verbranntem Haar und verkohlter Haut breitete ihre Übelkeit.
»Na, das ist gut«, erklärte Zwitty, dessen Stimme in dem kleinen Kreis verblüffend laut klang. »Jedes Rakke, das dumm genug ist, durch diese Wand zu springen, erlebt eine ziemlich unangenehme Überraschung. Gut. Aber könnten Sie vielleicht die Hitze ein bisschen senken?«
»Kann ich nicht«, sagte sie und wischte sich erneut mit dem Ärmel über die Augen. Dann leckte sie sich die Lippen und schmeckte Salz. Ihre Haut fühlte sich an, als würde sie im Sommer mittags in der Sonne liegen. »Tut mir leid. Aber es wird gleich noch heißer.«
Auf der anderen Seite der Wand herrscht Unruhe, und dann kreischten etliche Rakkes vor Schmerz auf. Zum Glück fiel keines von ihnen in ihren Weg, aber durch die Hitze verwandelten sich der Schnee und der Sand unter ihren Füßen in Schlamm. Das Gehen fiel ihnen immer schwerer. Wenn jemand ausrutscht, wird er durch die Wand fallen. Wenn ihn das nicht umbringt, werden das die geifernden Bestien auf der anderen Seite tun. Sie alle balancierten auf einem Seil, bei dem jeder Fehltritt einen schrecklichen Tod bedeutete. »Ich muss aufhören«, sagte sie. Ihre Beine zitterten, und sie konnte kaum noch laufen. Sie hatte Angst, war vollkommen erschöpft, und es war schon eine Herausforderung, sich nur aufrecht zu halten.
»Sind Sie verrückt geworden? Wir haben kaum …« Mehr brachte Zwitty nicht heraus, bevor ein dumpfes Geräusch verriet, dass Hrem ihn mit einem Schlag zum Schweigen gebracht hatte.
»Das Fort ist noch ziemlich weit entfernt«, sagte Hrem.
»Ich weiß«, sagte sie und hob ihre Füße einen nach dem anderen aus dem Schlamm, nur um beim nächsten Schritt wieder einzusinken. »Aber ich kann es nicht mehr aufrechterhalten. Es tut mir leid, ich habe gedacht, ich könnte es, aber es geht nicht.« Sie fühlte sich, als wären die Muskeln in ihren Beinen durch Blei ersetzt worden.
»Du hast alles getan, was du konntest, mein Kind, und niemand macht dir Vorwürfe«, sagte Chayii. Ihre Stimme klang gelassen, nicht einmal die Andeutung einer Anklage schwang darin mit.
Doch, ich selbst, dachte Visyna. Sie hatte Krämpfe in den Händen und konnte die wirbelnde Wand kaum noch stabil halten. Wenn sie sie nicht bald auflöste, würde sie vollkommen die Kontrolle darüber verlieren und ihrer aller Leben riskieren.
Ihr rechter Fuß blieb hängen, als sie ihn aus dem Schlamm zog, und sie stolperte. Sie bemühte sich, den Ministurm weiterhin zu beherrschen, sie kämpfte, aber es kostete mehr Kraft, als sie besaß. Das Beste, was sie jetzt tun konnte, war, ihn nach außen zu richten, den wirbelnden Schnee und die Hitze weiter wegzuschieben, während sie dafür sorgte, dass er um sie kreiste. Visyna wusste, dass sie über kurz oder lang auch diese Fähigkeit verlieren würde, und wenn das geschah, standen sie vollkommen schutzlos da.
Dann habe ich uns alle umgebracht.