32

»ZWEI TAGE?«, FRAGTE Konowa. Sein Kopf pochte vor Schmerz, von seinem übrigen Körper ganz zu schweigen, und dabei war er erst zehn Minuten wach. Das war noch schlimmer, als mit dem Herzog von Harkenhalm Sala Brandy zu trinken. Da hatte er wenigstens noch Spaß gehabt, bevor er die Rechnung dafür zahlen musste. Er hob die Hand und nahm das nasse Tuch von seiner Stirn. Dabei fiel ihm auf, dass sein Körper wieder auf ihn hörte, auch wenn er es hinter einem Vorhang von dumpfem, grauenvollem Schmerz tat. Konowa richtete sich in seinem Bett auf und stellte fest, dass er ganz offensichtlich in der Offizierskabine eines Linienschiffes Ihrer Majestät untergebracht war. Einen Augenblick überlegte er, ob er wieder in einem seiner Träume steckte, aber der Geruch in der Kabine sagte ihm, dass dies real war. »War ich so lange bewusstlos?«

»Du hast ziemlich lange gepennt, aber angesichts deiner jüngsten Abenteuer ist es ein Wunder, dass du überhaupt das Bewusstsein wiedererlangt hast.« Yimt ließ sich auf einen kleinen Hocker neben dem Bett fallen und grinste ihn an. Dann reichte er ihm einen Zinnbecher mit Wasser. »Abgesehen davon hast du nicht viel verpasst. Wir haben uns die Rakkes vom Leib gehalten und sind zur Küste marschiert.«

Konowa nahm den Becher mit der Linken und leerte ihn in zwei Zügen. Es erstaunte ihn, dass er ihn halten konnte, ohne etwas zu verschütten. Dann blickte er auf die schwarze Narbe auf seiner Schulter und bewegte die Muskeln. Sie schmerzten, aber sie funktionierten. Vielleicht hatte er diesen Schlaf tatsächlich gebraucht. »Bei dir klingt das nach einem Spaziergang im Park, aber irgendwie wage ich das zu bezweifeln.« Konowa betrachtete den Zwerg genauer. Eine neue, rosafarbene Narbe zog sich über die rechte Wange von Yimt. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass diese Narbe dich schon das letzte Mal geziert hat, als wir uns unterhalten haben. Und, Vizekönig …«, Konowa drehte ein wenig den Kopf, um den Diplomaten anzusprechen, der stumm neben der geschlossenen Tür stand, »Sie scheinen ebenfalls einige weitere Kriegsverletzungen davongetragen zu haben.« Die Uniform des Diplomaten bestand nur noch aus Fetzen. Der Mann unterschied sich drastisch von dem aufgeblasenen, geschniegelten Bürokraten, den Konowa in Nazalla getroffen hatte. Pimrald »Pimmer« Alstonfar war im Feld gewesen, und ganz offensichtlich war ihm das ganz gut bekommen.

Pimmer errötete. »Ich habe nur meine Aufgabe erfüllt und wirklich nichts Heroisches vollbracht.«

»Nun gut, wie wäre es denn, wenn ihr mich auf den aktuellen Stand bringt, und zwar in Kurzfassung?«, meinte Konowa und warf einen Blick aus dem Bullauge der Kajüte. Dahinter war nichts als Dunkelheit. Die Kabine selbst wurde von einer Laterne erhellt, die an einem der Spanten hing und mehr Schatten warf, als Konowa lieb war. Er drehte sich herum und sah Pimmers enttäuschte Miene. Im selben Moment begriff er seinen Fehler. »Aber natürlich kann das ein paar Minuten warten. Regimentssergeant, ich vermute stark, dass der Vizekönig ein bisschen zu bescheiden ist. Vielleicht kannst du mir sagen, weshalb er wie ein Zigeunerkrieger aussieht, nicht wie ein ehrenwerter Beamter Calahrias?«

Pimmer strahlte, während Yimt ihm die Ereignisse der beiden letzten Tage schilderte. Es war genauso, wie Konowa vermutet hatte.

»Die Rakkes haben uns die ganze Zeit gejagt. Sie sind verdammt hartnäckig, das muss ich ihnen lassen. Sie wollten einfach nicht aufgeben, diese Bestien, aber der Vizekönig hat ein paar von deinen schlechten Angewohnheiten aufgeschnappt, Major. Er hat drei Bajonettangriffe gegen sie angeführt und sie bis in die Hölle gejagt. Sie waren ganz eindeutig nicht in Stimmung für seine Art von Verhandlungen.«

Konowa versuchte sich vorzustellen, wie der Diplomat über den Schnee rannte und eine Horde von marodierenden Rakkes zerlegte. Das wirklich Erschreckende war, dass er keine Schwierigkeiten hatte, sich das auszumalen.

Und jetzt war Pimmer an der Reihe, das Kompliment zurückzugeben. »Meine Bemühungen verblassen jedoch neben den Großtaten des Regimentssergeanten. Seine Führungsqualitäten und seine Gerissenheit haben uns ein ums andere Mal aus der Klemme gehauen. Und er ist einfach ein Meister mit dem Drukar. Diese Präzision … Ich möchte behaupten, dass er einer Hummel im Flug die Flügel stutzen könnte.«

»Nicht möglich«, erwiderte Konowa und beschloss, das Thema zu wechseln, bevor die beiden auf die Idee kamen, sich ein Denkmal zu setzen. »Wie ich sehe, befinde ich mich auf einem Schiff. Ich gehe davon aus, dass wir es nach Tel Martruk geschafft haben?«

Pimmer antwortete. »Nicht nur wir, sondern auch ein großer Teil der calahrischen Flotte. Es ist ihnen gelungen, den größten Teil der Streitmacht aufzunehmen, die in Nazalla gelandet ist, und dann sind sie auf der Suche nach uns die Küste entlanggesegelt. Scheint so, als hätte die Schreiberin Ihrer Majestät etwas damit zu tun. Erkennen Sie dieses Schiff? Das ist die Schwarzer Stachel. Sie scheint mir sehr angemessen zu sein, die Stählernen Elfen zu transportieren. Soweit ich verstehe, teilen das Schiff und Sie eine bemerkenswerte Geschichte.«

Erinnerungen an die Angriffe auf die Inseln stiegen vor Konowa auf, und er schob sie hastig beiseite. »Allerdings. Regimentssergeant, wie sieht die Namensliste aus? Wie viele sind wir?«

Bei dieser Frage breitete sich Stille aus. Schließlich antwortete Yimt. »Zusammen mit den Speerträgern, den Kanonieren und Zivilisten wie zum Beispiel deine Eltern, Mistress Tekoy und Mistress Synjyn zählen wir siebenundsechzig Köpfe.«

Die Zahl brannte sich in Konowas Hirn ein wie mit einem Brandeisen. Noch vor ein paar Monaten waren sie mit fast dreihundert Soldaten aufgebrochen. »Und die Schatten?«

Yimts umgängliche Art änderte sich schlagartig. »Seit dieser Explosion habe ich keinen Piep mehr von ihnen gehört. Ally ist verschwunden. Er ist einfach … verschwunden, und wie es aussieht, hat er ihren Emissär und alle anderen Toten mit sich genommen. Und wenn danach jemand gefallen ist, ist seine Leiche zu Asche verbrannt, aber wir haben keinen Schatten mehr gesehen.«

Konowa war sich nicht sicher, ob er schon bereit dafür war, aber wenn er jetzt nicht fragte, würde es später nur noch schwerer werden. »Wen haben wir auf dem Marsch zur Küste verloren?«

Yimt kratzte sich den Bart. »Lieutenant Imba und den größten Teil der Dritten Speerträger. Nur fünf von ihnen haben es geschafft. Und wir haben die Hälfte der Kanoniere verloren.«

Das war ein schwerer Schlag. Imba war ein wirklicher Anführer gewesen, ein Offizier, der noch eine große Karriere vor sich gehabt hätte. Die Tapferkeit der Dritten Speerträger war bereits legendär, und ihr Dienst bei den Stählernen Elfen würde diesen Ruf noch festigen, und zwar zu Recht. Aber Konowa wusste, dass das noch nicht alles war. »Wer noch?«

Yimt seufzte. »Etliche Soldaten werden vermisst, einschließlich Soldat Inkermon. Und von Tyul ist ebenfalls nichts zu sehen. Deine Mutter ist fast krank vor Sorge seinetwegen. Sie hat Jir auf die Suche nach ihm geschickt, aber wir haben von beiden seitdem nichts mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal, ob wir diesen Elfen überhaupt auf das Schiff bekommen hätten. Er steht so weit neben sich, dass er mittlerweile wahrscheinlich seinen eigenen Hinterkopf sehen kann.«

Konowa setzte sich im Bett auf und ignorierte den Schmerz. Jir würde wieder auftauchen, das wusste er. Er musste einfach zurückkehren. Der Bengar hatte ihn während seiner Verbannung bei Verstand gehalten. So vernichtend es auch sein mochte, seinen Elfen so nahe zu kommen und sie dann doch nicht zu erreichen, Jir zu verlieren würde noch viel schlimmer schmerzen. Die Loyalität und Kameradschaft des Bengars bedeutete Konowa mehr, als er zugeben mochte. Durch Jir hatte er eine Verbindung zur Natur, selbst wenn das eine Natur in ihrer räuberischen Variante sein mochte. Der Bengar hatte ihn genau genommen mehr zu einem Elfen gemacht, als er es ohne ihn geworden wäre. Nein, Jir wird zurückkommen.

»Warum hast du keine Suchtrupps nach den verschwundenen Soldaten ausgeschickt?«, fragte Konowa.

Eine Breitseite von Schiffskanonen donnerte in der Ferne, bevor Yimt antworten konnte. Zwei weitere folgten kurz nacheinander. »Welchen Sinn hätte das gehabt? Die Stadt ist verlassen. So ziemlich das Einzige, was dort noch lebt, sind Rakkes. Die Schiffe bombardieren das Ufer, um die Bestien in Schach zu halten. Ich lasse nicht gerne jemanden zurück, aber Befehl ist Befehl. Wir werden innerhalb einer Stunde Segel setzen. Deshalb sind wir gekommen, um dich aufzuwecken, ob du dich nun erholt hast oder nicht.«

Es war ein Schlag für Konowa, als er begriff, wie schnell das Imperium zusammenbrach, aber es flößte ihm auch neue Kraft ein. »Das wird auch verdammt noch mal Zeit. Wir sollten das Hyntaland mit günstigem Wind in wenigen Tagen erreichen.«

Pimmer hob die Hände. »Major, ich glaube, es ist wichtig, Sie daran zu erinnern, dass Sie immer noch dabei sind, von einer Vielzahl schwerer Wunden zu genesen. Sie müssen während Ihrer Rekonvaleszenz jede Anstrengung vermeiden. Überanstrengung könnte einen ernsthaften Rückschlag für Ihre Gesundheit bedeuten.«

»Keine Sorge, Vizekönig, das sind gute Nachrichten. Ich fühle mich großartig.«

Pimmers Lächeln gefror auf seinem Gesicht. Er sah Yimt hilfesuchend an.

»Entgeht mir da etwas?«, erkundigte sich Konowa.

»Das kannst du wohl sagen«, meinte Yimt und stand langsam von seinem Hocker auf. Er stellte sich mit gespreizten Beinen hin, als wäre er gerade in eine Schänke marschiert und würde eine Keilerei erwarten. »Und zwar geht es um unser Ziel …«

Konowa wartete darauf, dass er den Satz beendete. Als Yimt keine Anstalten machte, sah Konowa Pimmer an. Der Diplomat hob die Hände und zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: »Ich habe es versucht.«

»Wir segeln nicht zum Hyntaland, hab ich recht?«, fragte Konowa.

Der Diplomat schien sich an sein gefrorenes Lächeln zu klammern. »Nicht direkt, nein. Der Prinz hat beschlossen, es wäre klüger, nach Calahr zu segeln und eine weit größere Streitmacht zu sammeln, bevor wir die Schattenherrscherin angreifen.«

Konowas Flüche wurden von einer Breitseite übertönt, die von der Schwarzer Stachel abgefeuert wurde. Das ganze Schiff schüttelte sich und ächzte, als die schweren Kanonen eine Salve auf die Rakkes in Tel Martruk feuerten. Der beißende Gestank von Schwarzpulver erfüllte den Raum.

Konowa warf die Decken zurück und schwang seine Beine aus der Koje. Der Beutel mit der schwarzen Eichel hing immer noch an dem Lederband um seinen Hals. Der kurze, eiskalte Stich erinnerte ihn daran, dass er noch da war, obwohl er diese Erinnerung nicht gebraucht hätte. Der Tribut, den der Schwur forderte, lastete wie eine gigantische Bürde auf seinen Schultern.

Er stellte seine Füße auf den Boden und hätte fast gelächelt, als er das kühle Holz unter seinen Füßen spürte. Er richtete sich auf und kämpfte gegen den Schwindel an, der ihn umzuwerfen drohte. Dann blickte er an sich herunter und stellte fest, dass er bis auf den Lederbeutel vollkommen nackt war. »Wo ist meine Uniform?«

»Major, bitte, Sie müssen das verstehen«, sagte Pimmer und trat ans Fußende des Bettes. »Das Regiment ist ausgeblutet. Selbst die Schatten sind verschwunden. Das Imperium befindet sich in Aufruhr. Alle, auch der Prinz, verstehen die Notwendigkeit, diese Angelegenheit mit der Schattenherrscherin zu Ende zu bringen, und zwar ein für alle Mal. Aber das erfordert Planung und Mittel. Wenn wir einfach mit diesem zusammengewürfelten Haufen von Schiffen und Soldaten dorthin segeln, wäre das Ergebnis höchstwahrscheinlich ein Desaster.«

Konowa starrte den Vizekönig an. »Ich verlasse diese Kajüte auch in diesem Aufzug, wenn es nötig ist.«

Yimt tauchte wieder auf, mit Konowas Uniform über dem Arm. Sie sah sauber und repariert aus. Konowa überlegte, wann und wo jemand die Zeit gehabt haben mochte, sie zu flicken, aber er war nichtsdestotrotz sehr dankbar dafür. Er wäre tatsächlich nackt aus der Kajüte gestürmt, aber er vermutete, dass seine Argumente, direkt zu ihrem Berg zu segeln, mehr Gewicht hatten, wenn er nicht nur eine finstere Miene trug. »Ich hatte das Gefühl, dass du ziemlich motiviert sein würdest, dich mit Seiner Hoheit zu unterhalten, also habe ich deine Sachen schon bereitgelegt, Major.«

Konowa blickte von Pimmer zu dem lächelnden Zwerg. »Ist das auch der Grund, warum ich meinen Säbel nirgendwo sehen kann?«

»Ich habe ihn einem der Jungs gegeben, damit er ihn schärft. Du kriegst ihn ja wieder zurück, und zwar unmittelbar nach deinem Gespräch mit dem Prinzen.«

Konowa starrte Yimt einige Sekunden an, nahm ihm dann die Uniform ab und zog sich an. »Ich weiß, was ich tue«, sagte er, während er sich in seine Hose mühte

»Wirklich?« Yimt half ihm bei den Stiefeln. »Denn von meinem Standpunkt aus betrachtet, der zugegebenermaßen nicht sonderlich luftig ist, sieht es eher so aus, als würdest du mal wieder wild drauflosstürmen.«

»Warum hilfst du mir dann nicht?«, fragte Konowa und stampfte heftiger, als nötig war, mit den Füßen auf, um in seine Stiefel zu kommen. Falls sich jemand fragte, ob Major Flinkdrache wieder auf den Beinen war, jetzt wussten es alle.

»Ein gute, altmodische Attacke ist manchmal genau das, was erforderlich ist. Ich glaube nur, es wäre klug zu überlegen, was zu tun ist, bevor du das Ziel deines Angriffs erreicht hast. Weißt du, einen Angriff zu beginnen ist leicht. Und darin bist du besser als die meisten anderen. Jemand zündet ein Feuer unter dir an … und du gehst ab. Die Landung ist es, die ein bisschen heikel werden kann.«

Konowa kämpfte mit dem Ärmel seiner Jacke. »Ich hatte wirklich geglaubt, er hätte sich geändert, jedenfalls genug, um nicht so etwas Dummes wie das hier zu tun. War er immer so stur, schon in der Schule?«, fragte Konowa und drehte sich zu Pimmer herum.

»Es wäre höchst unangemessen von mir, wenn ich einen Kommentar über …«

»Pimmer!« Konowa rammte seinen Arm in den Ärmel und zog ihn wieder heraus, als er bemerkte, dass er die Jacke falsch herum anzog. »Das Schicksal der ganzen Welt steht auf dem Spiel. Wir haben keine Zeit, mehr Streitkräfte zu sammeln. Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird es von hier bis zum Horizont und darüber hinaus nichts anderes mehr geben als ihren Forst.«

Pimmer trat dichter an ihn heran und senkte seine Stimme. »Das weiß ich, Konowa, aber wir haben Nachricht erhalten, dass der königliche Hof belagert wird und Ihre Majestät in Not ist. Das Imperium wird von innen und von außen belagert, und die Königin will, dass ihr Sohn als Thronerbe zu Hause ist, wo er sich besser um die Staatsangelegenheiten kümmern kann.«

Konowa schnaubte verächtlich und blickte dann an seiner Uniformjacke hinab, um sicherzugehen, dass er diesmal nichts falsch machte. »Seien wir ehrlich, wenigstens untereinander. Wenn die Königin ihren Sohn nach Hause beordert hat, dann deshalb, um ihn in Sicherheit zu bringen.«

Der Diplomat richtete sich auf, und seine Stimme klang ein Spur autoritärer. »Sie hat nicht nur Seine Königliche Hoheit zurückgerufen. Sie hat uns alle zurückbeordert, auch die Stählernen Elfen.«

Etwas von dem Feuer in Konowa erlosch, und er ließ sich auf das Bett sinken. »Was denkt sie sich dabei? Wir müssen uns der Gefahr stellen und nicht vor ihr weglaufen.«

»Ich glaube«, erklärte Pimmer und warf einen Blick zur Tür, als wollte er sich vergewissern, dass sie geschlossen war, »dass sie so viele Leben wie möglich retten will, einschließlich des Ihren.«

»Aber das wird nur dazu führen, dass noch mehr sterben. Nein.« Er stand erneut auf und nahm seinen Tschako aus Yimts Hand entgegen. »Sie irrt sich, und der Prinz liegt auch falsch. Wir sind der Schlüssel. Und wir müssen jetzt zuschlagen.«

Pimmer ließ sich einen Moment Zeit, bevor er antwortete. »Und wir können Ihnen das nicht ausreden?«

»Jedenfalls nicht, solange ich Atem in meinen Lungen habe.«

Pimmer lächelte und grüßte Yimt zackig. Konowa blickte zwischen den beiden hin und her. »Was in drei Teufels Namen heckt ihr zwei denn jetzt aus?«

»Als Vertreter Ihrer Majestät war es meine Pflicht, aufgrund des königlichen Dekrets für eine schnellstmögliche Rückkehr nach Calahr einzutreten. Nachdem ich meine Pflicht erfüllt habe, kann ich jetzt nach Calahr berichten, in angemessener Zeit, versteht sich, dass ich keinen Erfolg hatte. Und jetzt müssen wir einfach nur noch den Prinzen überzeugen.«

»Und das konntet ihr mir wohl nicht von Anfang an mitteilen?«, erkundigte sich Konowa gereizt.

»Es war meine Idee«, erklärte Yimt und pflückte ein paar Staubfussel von Konowas Uniformjacke. »Ich habe dem Vizekönig gesagt, dass du nach deinem zweitägigen Schlaf ein bisschen langsam im Kopf sein würdest, es sei denn, wir würden dir einen ordentlichen Anreiz geben. Ich würde sagen, wir hatten Erfolg.«

Konowa setzte den Tschako auf und ging zur Tür. Er blieb davor stehen, mit dem Rücken zu Pimmer und Yimt. »Nächstes Mal könntet Ihr versuchen, mir einfach die Wahrheit zu sagen, von Anfang an. Vielleicht überrasche ich euch ja.« Er öffnete die Tür und trat hinaus. Auf dem Gang hörte er noch das Gespräch hinter sich.

»Er scheint ein bisschen wütend auf uns zu sein«, meinte Pimmer.

»Ach was, das ist nur sein Temperament. Außerdem rennt uns die Zeit davon. Hast du gesehen, wie schnell er aus dem Bett gestiegen ist, Vizekönig? Man kann einem Offizier nicht einfach in den Hintern treten wie einem Soldaten. Da muss man schon andere Wege finden, ihn zu motivieren.«

Konowa ging weiter und ballte die Fäuste. Yimt hatte recht, er fühlte sich außerordentlich motiviert. Er stürmte an Deck und suchte nach dem Prinzen. Überrascht stellte er fest, dass es nicht schneite. Aber es war kalt; der Wind pfiff in der Takelage und ließ die Segel knattern, was den Kapitän der Schwarzer Stachel zwang, einen Schleppanker zu setzen.

Rallie, Visyna und seine Mutter tauchten vor ihm auf, als hätten sie die ganze Zeit auf ihn gewartet, was sie, wie er sich vorstellte, vermutlich auch getan hatten.

»Als wir das letzte Mal auf diesem Boot waren, habt ihr drei alles versucht, mich davon abzuhalten, dem Prinzen etwas anzutun, und das weiß ich zu schätzen. Aber diesmal ist es anders.«

Die Antwort, die ihm die drei gaben, verblüffte ihn völlig.

»Das wissen wir, Konowa, und wir sind mit dir einer Meinung«, sagte Visyna und trat vor, als wollte sie ihn umarmen. Aber einen Meter vor ihm blieb sie stehen. »Er muss unbedingt Vernunft annehmen. Die Schattenherrscherin muss aufgehalten werden, und zwar jetzt, bevor ihre Macht noch weiter wächst.«

Konowa sah seine Mutter an und dann Rallie. Beide nickten zustimmend.

»Wo ist er?«

»Direkt hinter Ihnen«, antwortete der Prinz, trat um Konowa herum und baute sich links neben ihm auf. Dann sah er die drei Ladys an und tippte kurz mit der Hand an den Schirm seines Tschako. »Darf ich raten, oder ist das zu einfach? Sie alle haben gehört, dass wir sofort nach Calahr segeln und nicht ins Hyntaland.«

Konowa holte tief Luft, um den Prinzen durch die Wucht seiner Argumente zu überzeugen, aber er bekam nicht die Chance dazu.

»Hat das zufällig noch jemand gehört?«, erkundigte sich Rallie und blickte zum Himmel.

Konowa stampfte mit dem Stiefel auf die Planken. Was machte Rallie da? Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sein Versuch wurde zunichtegemacht, als der Prinz ihm den Rücken zudrehte und Rallies Blick folgte.

»Ist das ein Flattern?«, fragte Seine Hoheit.

»Nicht irgendwelche Flügel«, erwiderte Rallie, deren mürrische Stimme vor offensichtlichem Entzücken eine Oktave anstieg. »Diese betrunkene Ansammlung von Federn würde ich überall wiedererkennen.«

Seinem Namen alle Ehre machend torkelte Wobbly, der Depeschenpelikan, über dem Hafen in Sichtweite. Die Tatsache, dass er kaum vorwärtskam, war offenkundig. Er taumelte und schwankte wie der betrunkene Vogel, der er ja auch war, auf und ab und nahm dabei weit mehr Himmel in Anspruch als jeder andere Vogel. Konowa vermutete, dass er vermutlich doppelt so weit flog, wie er musste, weil er ständig Kurven beschrieb.

»Wobbly!«, schrie Rallie. Alle drehten sich um und beobachteten den Flug des Pelikans.

»Er ist verwundet«, meinte Pimmer, der ebenfalls an Deck gekommen war.

»Nein, nur betrunken, wie üblich«, sagte Rallie und trat an den Rand der Reling. Wobbly korrigierte seinen Kurs mehr oder weniger geschickt und steuerte schlingernd dem Schiff entgegen.

Konowa warf dem Prinzen einen finsteren Blick zu, dann verfolgte er ebenfalls die Landung des Pelikans. Etwa fünfundsiebzig Meter vor dem Schiff breitete er die Schwingen aus und begann zu segeln. Er wurde ein bisschen nach rechts abgetrieben, senkte seinen linken Flügel und richtete sich dann im Wind aus.

»Er kommt schrecklich schnell herein, habe ich recht?«

In zwanzig Meter Entfernung streckte er seine Ruderfüße nach vorne. Konowa versuchte seinen Pfad vorauszuberechnen, um zu sehen, worauf er abzielte. Aber das Einzige, was es dort gab, war das große Hauptsegel …

Wumm!

Wobbly traf das Hauptsegel und flatterte verzweifelt mit den Flügeln, als er vergeblich versuchte, dort irgendwo Halt zu finden. Er gab auf oder war zu erschöpft, jedenfalls rutschte er am Segel hinab, bis er die Hauptspiere traf, davon abprallte, einen Purzelbaum in der Luft schlug, wobei er etliche Federn verlor, und rücklings auf dem Deck landete. Seine Schwingen hatte er ausgestreckt, und seine mit Schwimmhäuten versehenen Füße ruderten durch die Luft.

»Haben Sie jemals darüber nachgedacht, ob Sie statt seiner auch eine Eule benutzen könnten?«, erkundigte sich Konowa.

»Denen kann man nicht trauen«, erwiderte Rallie, trat vor, hob den Pelikan auf und nahm ihn in die Arme. »Sie sind schlauer, als gut für sie ist. Wobbly dagegen ist ein Vogel, dem man trauen kann. Er ist ein Trunkenbold, aber ein höchst vertrauenswürdiger.«

Wobbly öffnete seinen Schnabel und rülpste, was Konowa aus fünf Meter Entfernung riechen konnte. Dann würgte er eine Phiole aus seinem Schlund, die Rallie sich geschickt schnappte. Danach stellte sie den Pelikan wieder auf das Deck. »Würde ihm jemand bitte eine Schüssel Grog bringen, danke.«

Konowa frustrierte es immer mehr, dass sich seine Auseinandersetzung mit dem Prinzen verzögerte. Er wollte gerade wieder den Mund öffnen, hielt jedoch inne, als er Rallies Miene sah, nachdem sie die Phiole geöffnet und die Notiz auf dem kleinen, zusammengerollten Blatt Papier gelesen hatte, das darin gewesen war.

»Rallie, was steht da?«, fragte Visyna.

Rallie drehte sich herum und sah den Prinzen an. Dann schob sie die Kapuze ihres Umhangs zurück. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Mit größtem Bedauern muss ich Euch darüber informieren, dass Ihre Majestät, die Königin von Calahr, tot ist.«