6
EINE ROTTE VON fünfzehn Rakkes drängte sich um die zerschmetterten Reste eines ihrer Brüder. Trotz des starken Windes hing der Geruch von frischem Blut in der Luft über dem Kadaver. Normalerweise hätten die Rakke die Möglichkeit, frisches Fleisch zu fressen, begrüßt, selbst wenn es der Leichnam eines ihrer eigenen Brüder war, diesmal jedoch war es anders. Grüne Insekten krochen in und über das Fleisch des toten Rakke, während der Schnee allmählich den Kadaver bedeckte. Die primitive Furcht vor dem grünen Tod hielt die Rakkes in Schach.
Vier graue, schemenhafte Gestalten glitten durch das Schneetreiben und blieben lautlos hinter den Rakkes stehen. Das rhythmisch pulsierende blaue Licht des Sternenbaums waberte einen Moment langsamer, wie die Woge eines Ozeans, die sich von einem Strand zurückzieht, als die vier Dunkelelfen aus der Dämmerung auftauchten.
Selbst in der blau gefärbten Dunkelheit und dem Schneetreiben war klar, dass nichts an diesen Elfen natürlich war. Die Spitzen ihrer linken Ohren absorbierten alles Licht, sodass sie noch schwärzer wirkten als die Nacht, die sie umgab. Alle Gliedmaßen und Gelenke schienen eckig zu sein, abgetrennt, unvollständig, als hätte man Steinschichten, so dünn wie Pergament, um Bündel aus metallenen Stangen gewickelt. Als Kleidung trugen sie nur mit Mineralien angereicherte Blätter, die sie mit stahlfarbenen Kletterpflanzen um ihre Körper gebunden hatten und die weit mehr enthüllten, als sie verdeckten. Falls diese Elfen die Kälte spürten, merkte man es ihnen jedenfalls nicht an.
Jeder Elf hielt einen kleinen Bogen in der Farbe verrosteten Eisens in den Händen. Die Sehnen summten, als sie sie bis zum Anschlag spannten, und die Bögen krümmten sich nach hinten in einem grotesken Grinsen, mit Zungen aus dünnen, schwarzen Pfeilen. Aus dieser Entfernung würden die Pfeile mit so viel Wucht durch den Hinterkopf eines Rakke dringen, dass sie sich noch in ein weiteres Opfer bohren konnten.
Knorrige Finger krümmten sich, und es knarrte, als sie sich fester um die mit Schlingpflanzen umwickelten Griffe der Bögen klammerten. Schimmernde schwarze Augen starrten auf die versammelten Rakkes, kalkulierten Entfernung und Flugbahn. Die Augen besaßen keine Lider, glänzten wie polierter Granit und strahlten auch genauso viel Wärme aus. Die Elfen würden nicht vorbeischießen und warteten nur noch auf den Befehl.
Ihr Emissär materialisierte hinter ihnen. Jedenfalls versuchte er es. Teile von ihm waren einfach weg. Sie waren für immer verloren, als dieser verfluchte Soldat der Stählernen Elfen einen Strudel aus Magie beschworen hatte und ihn zerstückelt hatte. Der Emissär durchlebte jetzt Schmerzen, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte, aber diese Erfahrung war transzendent. Zweimal im Leben jenes Wesens, das einst Vizekönig Faltinald Gwyn gewesen war, hatte es mächtigen Herrschern gedient und dabei immer danach gestrebt, mehr Macht anzuhäufen. Beide Male hatte es entsetzlich gelitten. Jetzt jedoch, als jede zerfetzte Faser seines Fleisches und seiner Seele vor Qualen schrie, stützte es sich auf die Macht, die es auf so entsetzliche Weise erlangt hatte, um sich noch einmal zu erschaffen. Es konzentrierte seine Energie auf einen dunklen, formlosen Kern … auf die schwarze Eichel, die ihm von der Schattenherrscherin ins Herz gepflanzt worden war.
Aber seine Anstrengung wurde nicht belohnt. Die Eichel war beim Angriff des Soldaten zerschmettert worden; von dem Geschenk der Schattenherrscherin waren nur noch zerborstene Schalen übrig. Das Wesen ihres Emissärs spiegelte das der Eichel, so wie es jetzt auch den Verstand spiegelte. In seinem Wahnsinn war es endlich frei, aber immer noch erfüllte der Wille der Schattenherrscherin seine Gedanken, befahl ihr, die Rakkes zu vernichten.
»Töte sie. Sie werden zu wild und werden alles zerstören, was ihnen in die Quere kommt. Meine verirrten Kinder müssen lebend zu mir zurückkehren dürfen«, sagte die Stimme in dem, was vom Kopf ihres Emissärs übrig geblieben war. Es verstand. Der Pakt, den sie mit dem Soldaten geschlossen und der ihn zu einem Emissär der Toten gemacht hatte, bedeutete, dass ihre Macht über die Gefallenen geringer geworden war. Es war wichtig für sie, dass die Stählernen Elfen sie lebendig erreichten.
Ein grauenvolles Grinsen zuckte über seine vom Frostfeuer verbrannte Fratze. Wenn ihre Dunkelelfen wie Puppen aussahen, die in einer Eisengießerei gegossen worden waren, war ihr Emissär die Schlacke, die übrig geblieben war. Das Wesen verdoppelte seine Bemühungen und konnte schließlich genug von sich selbst aus dem Äther ziehen, um eine Gestalt zu schaffen, die einigermaßen menschlich aussah. Es zog die letzte Macht aus ihrer Gabe, so gering sie auch sein mochte, fand jedoch einen neuen und weit reichhaltigeren Vorrat in etwas weit Stärkerem … Wut. Das war eine endlose Quelle der Macht, über die es frei verfügen konnte.
Es stolperte vorwärts, wurde bei jedem Schritt kräftiger. In dem Moment schlug der Wind um, und die Rakkes witterten die schrecklichen Wesen hinter sich. Die Elfen zogen die Bogensehnen ein Stück weiter zurück und warteten nur darauf, dass ihr Emissär ihren Befehl weitergab.
Doch er kam nicht. Stattdessen bemächtigte sich ihr Emissär einer rauen, zischenden Stimme, die kaum in der Lage war, Sprache zu artikulieren, obwohl das Wesen nur ein Wort ausstoßen musste.
»Sterbt!« Eine schartige Sichel aus Eis bildete sich in der Luft vor ihrem Emissär. Er streckte eine Hand aus, packte sie und schwang sie in einem Bogen, schneller, als die Augen folgen konnten. Einen Moment lang geschah nichts; doch dann fielen die vier Dunkelelfen einer nach dem anderen zu Boden, und ihre Köpfe lösten sich von ihren Leibern. Die Finger, die nicht mehr vom Lebensfunken zurückgehalten wurden, ließen die Bogensehnen los, und die Pfeile flogen, trafen ihre Ziele, die immer noch die Rakkes waren. Das Wesen wusste, dass es die Macht besaß, die Pfeile mitten im Flug anzuhalten, aber das tat es nicht. Sechs Rakkes fielen zu Boden. Die anderen standen wie angewurzelt da.
»Kommt zu Kräften«, befahl das Wesen. »Schon bald werdet ihr frischeres Fleisch erjagen.«
Die Rakkes brüllten vor Vergnügen und stürzten sich auf die Leichen, die ihrer Brüder und die der Dunkelelfen. Die Reste der Eichel in der Brust des Wesens glühte im Frostfeuer auf, aber es löschte dieses Feuer mit seinem Wahnsinn.
Jetzt zog die Schattenherrscherin nicht länger an seinen Fäden.
Hoch über der Felswand der Schlucht und unbemerkt von jenen unten im Tal regte sich etwas. Zwei Augen betrachteten die Szene auf dem Wüstenboden durch das Schneetreiben hindurch. Die Gestalt blieb tief im Schatten, während sie zusah, wie die Rakkes zuerst die Leichen der Dunkelelfen und dann ihre eigenen Artgenossen verschlangen. Das Rakke, das sie zuvor getötet hatten, blieb unberührt. Obwohl sie dumme, primitive Kreaturen waren, wussten sie genug, um sich davor zu hüten.
Und da, etwas abseits und in wabernde Dunkelheit gehüllt, kommandierte ein schrecklich missgebildetes Ding diese Bestien.
Interessant.
Ein Rakke zu töten war befriedigend gewesen. Diese ganze Rotte und ihren neuen Anführer zu töten würde … begeisternd sein.
Tief in einem schwarzen Schlund erwachte glühend ein grünes Leben. Dieser Beute nachzustellen war zwar schwieriger als bei dem ersten Opfer, aber keineswegs unmöglich. Die grünen Insekten begannen, sich zu vervielfältigen, reagierten auf die leisen Signale, dass eine neue Beute in der Nähe war. Aber ebenso schnell wurden die Signale schwächer. Die Rakkes brachen auf und schleppten so viel Fleisch, wie sie nur konnten, mit sich, als sie nach Westen zogen.
Der Schatten, der sie beobachtete, hatte keine Wahl, als ebenfalls in freies Gelände zu treten, um die Rakkes zu verfolgen, die zweifellos die Spur der Stählernen Elfen aufgenommen hatten.
Eine Gruppe von sechs Rakkes löste sich von den Felsen am Grat, wo sie sich versteckt hatten, und verteilte sich zu einer etwa U-förmigen Rotte. Die Spitzen der Krallen wurden ausgefahren, und Reißzähne schimmerten vor Geifer, als sie der dunklen Gestalt folgten.
Aus dem Jäger war der Gejagte geworden.
»Major, in Deckung, zum Teufel!«
Konowa war so sehr auf seinen Angriff konzentriert, dass er die gebrüllte Warnung nicht beachtete. Er war immer noch etliche Schritte von dem nächsten Sarka Har entfernt, als der in einer orangeroten Explosion zerstob. Tausende schwarze Schuppen fegten durch die Luft, gefolgt von brennenden Splittern. Konowa flog der Tschako vom Kopf, und er kam rutschend zum Stehen, die Hände und Arme schützend vor das Gesicht gehoben. Nur die lodernde Wand aus Frostfeuer vor ihm rettete ihn davor, in Stücke geschnitten zu werden.
»Das ist mal etwas Neues!«, stieß er keuchend hervor, beeindruckt sowohl von dem explodierenden Baum als auch der Reaktion des Frostfeuers.
Ein vertrautes Klingeln in den Ohren sagte ihm, dass unmittelbar, bevor der Baum zerstört worden war, eine Musketensalve abgefeuert worden war. Die restlichen Bäume schienen das Los ihrer Brüder nicht zu beachten, sondern näherten sich weiter Konowa.
»Major, hierher!«
Konowa wirbelte herum. Etliche Soldaten waren aus dem Schneetreiben aufgetaucht. Er hielt seinen Säbel bereit, weil er sich nicht noch einmal von einer dunklen Gestalt, die er aus größerer Distanz sah, hereinlegen lassen wollte. Die Soldaten kamen näher, und Konowa entspannte sich, als er in ihnen seine Nachhut erkannte.
»Was zum Teufel ist das hier?«, wollte Konowa wissen, als die Soldaten vor ihm stehen blieben.
»Wir haben gehofft, Sie könnten uns das sagen«, erwiderte einer der Soldaten. Konowa erkannte in ihm den jungen Soldaten, der vorhatte, zur Marine zu gehen.
»Wie war noch mal dein Name, mein Sohn?«, erkundigte sich Konowa.
»Feylan, Sir. Soldat Bawton Feylan.«
»Also, Soldat Bawton Feylan, ich weiß nur, dass man niemals einem verdammten Baum trauen sollte.«
Sie wichen gemeinsam zurück, rückwärts gehend, um die Bäume dabei die ganze Zeit im Blick zu behalten. Sechs Soldaten knieten sich in den Schnee und feuerten ihre Musketen auf einen anderen Sarka Har ab. Große Stücke Rinde und Holz lösten sich unter Flammen von dem Stamm. Ein gewaltiger Arm brach ab und stürzte zu Boden, aber anders als bei dem Baum zuvor blieb dieser Sarka Har intakt. Die anderen fünf Soldaten der Nachhut gingen ein paar Schritte weiter zurück, knieten sich hin, luden ihre Musketen, zielten und feuerten erneut auf den angeschossenen Baum. Der diesmal explodierte.
»Warum explodieren sie so?«, fragte Konowa, steckte seinen Säbel in die Scheide und nahm seine eigenen Muskete von der Schulter. Er klopfte den Schnee aus der Mündung und wickelte die Lederabdeckung ab, die das Zündschloss trocken hielt.
»Ich habe nicht den leisesten Schimmer, Sir, aber sie tun es einfach«, erwiderte Feylan. Wenn er Angst hatte, verstand er es ganz ausgezeichnet, sich das nicht anmerken zu lassen. »Es scheint fast, als wären sie mit Schießpulver oder etwas Ähnlichem gefüllt. Man kann sie mit ein paar Musketenkugeln verletzen, aber man braucht mindestens fünf oder sechs Kugeln gleichzeitig, damit sie in die Luft gehen.«
»Ein bisschen mehr Drachen, als ihr haben wolltet, was?«, schrie Konowa den Bäumen zu, während er eine Kartusche in seine Muskete stopfte und anlegte.
Statt jedoch weiter auf ihn zuzugehen, sammelten sich die restlichen Sarka Har an der Stelle, wo der letzte Baum zerstört worden war. Sie lösten ihre Zweige und pickten die Reste der Rinde auf, die sie dann an ihrer eigenen Borke befestigten.
»Das ist wirklich brillant.« Konowa spuckte in den Schnee. »Diese Mistkerle haben nicht nur gelernt zu gehen, sondern sie haben auch herausgefunden, wie sie sich selbst schützen können.« Er war fast versucht hinzuzusetzen: Was kommt wohl als Nächstes? Aber die Frage wurde hinfällig, als die Bäume begannen, brennende Holzstücke aufzusammeln und sie zu flammenden Kugeln zu formen. Als die Kugeln größer wurden, fingen die Enden ihrer Zweige Feuer und begannen ebenfalls zu brennen. Die Nacht wurde von einem hässlichen, orangefarbenen Feuer erhellt, als jeder Sarka Har seine beiden Arme hob, die jetzt wie massive Fackeln loderten.
»Das war nicht besonders schlau, hab ich recht?«, schrie Konowa den Bäumen zu. »Jetzt habt ihr euch in Brand gesetzt, ihr blöden Mistkerle. Offenbar habt ihr die Lektion über Feuer und Holz versäumt.«
Der Soldat, der gerade seine Muskete neu lud, blickte hoch. »Deckung!«, brüllte er.
»Ich wüsste nicht …« Mehr bekam Konowa nicht heraus, als ihn Feylan auch schon packte und in den Schnee schleuderte.
Konowa hob den Kopf aus der Schneewehe, in die Feylan ihn geschleudert hatte, und sah, wie die Sarka Har sich zurückbogen, als würden sie von einem Wirbelsturm erfasst, und dann ruckartig nach vorne peitschten. Die Enden ihre Arme splitterten, rissen sich von dem Rest ihrer Körper los und flogen auf die Soldaten zu. Konowa verfolgte vollkommen verblüfft, wie brennende Kanonenkugeln aus Holz auf ihn zuschossen. Hatte es denn jeder Baum auf ihn abgesehen? Er rammte seinen Kopf in den Schnee und grub ihn so tief wie möglich ein, als wollte er den Mittelpunkt der Erde erreichen. Sengende Hitze zischte über seinen Rücken hinweg, und einen Augenblick später hob sich der Boden, rammte von unten gegen ihn und nahm ihm den Atem.
Um ihn herum ertönten Explosionen, untermalt von Schreien.
»Ist jemand verletzt?«, schrie Konowa und spuckte den Schnee aus, als er es endlich wagte, seinen Kopf zu heben. Große, schwarze Flecken tupften den Schnee zwanzig Meter im Umkreis. In einigen Löchern brannten noch Flammen.
»Grostril hat eine Kugel in die Brust bekommen. Von ihm ist nur noch seine Muskete übrig«, antwortete ein Soldat mit zitternder Stimme. »Er stand direkt neben mir …«
Konowa versuchte, sich Soldat Grostril vorzustellen, aber ihm war klar, dass er den Soldaten genauso wenig kannte wie denjenigen, der das Medaillon in seinem Tschako getragen hatte, den er gefunden hatte. Es schmerzte ihn sowohl, dass er einen weiteren Mann verloren hatte, der unter seinem Kommando stand, als auch, dass er sich nicht einmal an das Gesicht des Gefallenen erinnern konnte, um ihn zumindest in Gedanken zu ehren.
»Major, sie greifen uns immer noch an!«
Konowa kniete sich hin und richtete seine Muskete auf die Sarka Har. Allerdings, sie waren weiterhin auf ihre ungeschickte Weise vorwärtsmarschiert, während die verbrannten Enden ihrer Zweige qualmten. Es wurde Zeit, die Nachhut hier wegzuschaffen.
»Hört zu. Wir ziehen uns geordnet zurück. Bleibt zusammen und schießt nicht. Diese verdammten Bäume sind wandelnde Pulverfässer! Wir weichen fünfzig Meter zurück, dann bleiben wir stehen und warten, bis sie sich uns nähern. Anschließend schießen wir alle gemeinsam auf den nächstgelegenen Baum. Das sollte die zusätzlichen Schuppen oder Rinde oder was zum Teufel es auch sein mag durchschlagen.«
Die Soldaten brauchten keine zweite Einladung. Die zehn restlichen Männer standen auf und stapften durch den Schnee. Konowa überzeugte sich davon, dass alle unterwegs waren, dann folgte er ihnen. Er schwitzte am ganzen Körper und hätte sich fast den Umhang der Hasshugeb-Krieger vom Leib gerissen. Doch als er den ganzen Schnee sah, vermutete er, dass er ihn wohl besser behalten sollte. Er zählte fünfzig Schritt in seinem Kopf ab und befahl dann, stehen zu bleiben. Die Soldaten drehten sich um und bildeten eine Feuerlinie Schulter an Schulter. Ohne auf den Befehl zu warten knieten sie sich hin, und einige mussten ihre Umhänge zur Seite schieben. Jeder Mann legte seine Muskete an und wartete auf Konowas Feuerbefehl.
»Vergesst nicht, Jungs, es sind nur Bäume«, erklärte Konowa, trat hinter jeden einzelnen Soldaten und klopfte ihm auf die Schulter. »Sie mögen ein paar Tricks gelernt haben, aber wir sind eine verdammte Ecke schlauer als jedes wandelnde Stück Holz.«
»Ich sehe einen!«, schrie ein Soldat und schwang seine Muskete in Richtung eines Sarka Har, der aus dem Schneetreiben auftauchte.
»Ganz ruhig, mein Junge, und achte darauf, wohin du mit einer geladenen Muskete zielt. Vergesst eure Ausbildung nicht, Jungs. Wir warten, bis die anderen auftauchen, und dann zielen wir auf den letzten. Wenn sie diesen Trick mit den Feuerkugeln wiederholen wollen, müssen sie zurückgehen, und bis dahin sind wir längst verschwunden.«
Drei weitere Bäume tauchten auf. Jeder von ihnen bewegte sich in einem gestelzten, knarrenden Gang voran. Konowa schüttelte sich. Er wartete noch eine Minute, aber kein weiterer Baum tauchte auf. »Also gut, wir erledigen den ganz links.«
Die Soldaten zielten gleichzeitig mit ihren Musketen auf den Sarka Har. Konowa legte seine eigene Muskete an und zielte über den Lauf.
»Achtung … Feuer!«
Elf Musketen krachten. Weiß-orangefarbene Flammen erleuchteten die Nacht, und Funken stoben aus den Mündungen. Alle elf Musketenkugeln trafen den Stamm des Sarka Har beinah im gleichen Moment. Selbst die doppelte Schicht von schwarzen Drachenschuppen konnte den Bleikugeln nicht widerstehen. Das Holz splitterte, und eine braune Brühe spritzte in die Luft. Eine Flamme auf einem Stück Rinde entzündete den Nebel, und der Baum explodierte wie eine Bombe.
Konowa ging neben den Soldaten in die Knie, als brennende Stücke des Baumes über seinen Kopf hinwegflogen. Sie zogen eine ölige, stinkende Rauchfahne hinter sich her.
»Geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid, ihr blöden Armleuchter!«, schrie Soldat Feylan, schulterte seine Muskete und hob einen brennenden Zweig auf, den er in der Mitte durchbrach, bevor er hastig seine Hände in den Schnee grub, um sie abzukühlen. Die überlebenden Sarka Har ignorierten seinen Spott und machten sich an die gleiche Prozedur wie zuvor; sie stolperten zurück zu dem brennenden Wrack und legten noch mehr Drachenschuppen auf ihre Stämme, bevor sie brennende Holzscheite aufsammelten.
»Gut ausgedrückt«, meinte Konowa. »Jetzt aber wird es Zeit für uns, in die andere Richtung zu marschieren und hier schleunigst verschwinden. Wir müssen die Kolonne warnen, dass noch mehr von diesen verdammten Dingern hinter ihnen her sind.«
»Ich habe drei Männer der Nachhut der Kolonne hinterhergeschickt, als wir bemerkt haben, dass wir in Schwierigkeiten stecken«, antwortete Feylan.
Er ist mutig und hat Hirn. Konowa war beeindruckt. »Wenn sie sich von diesen Dingern fernhalten, sollten sie die Kolonne sehr bald erreichen. Gut gemacht.«
Konowa riskierte einen kurzen Seitenblick zu Feylan und freute sich, als er sah, dass sich auf dem Gesicht des jungen Soldaten nur ein unmerkliches Lächeln zeigte. Stolz, aber professionell. Unwillkürlich fragte sich Konowa, wie Feylan wohl bei den Stählernen Elfen gelandet war, aber diese Frage musste er ihm ein andermal stellen. Einstweilen wurde seine Konzentration vollkommen von den Bäumen in Anspruch genommen.
Ihre Zweige glühten, als sie wieder Feuer fingen, aber mit jedem Schritt rückwärts verschwanden sie weiter in der Dunkelheit und dem Schneetreiben, bis sie schließlich gar nicht mehr zu erkennen waren. Konowa blieb einen Moment stehen und starrte in die Nacht. Es kam ihm wie ein schrecklicher Albtraum vor. Das war es natürlich auch, nur dass sie wach waren.
»Alles in Ordnung, Major?«, erkundigte sich Soldat Feylan.
»Was?« Konowa nahm umständlich den Tschako ab und wischte sich die Stirn mit dem Ärmel trocken, bevor er den Helm wieder aufsetzte. »Ich musste nur eine Sekunde Pause machen, um mich ein bisschen abzukühlen. Dieses ganze Herumgerenne bringt mich in Schweiß.«
Niemand lachte, und Konowa fiel wieder ein, dass sie gerade einen Freund verloren hatten. Er hätte sie gern gebeten, ihm Grostril zu beschreiben, weil er hoffte, dass dies seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen würde, aber dann wurde ihm klar, dass sie sich dadurch vermutlich nur noch schlechter fühlen würden.
»Hört zu, Jungs, macht einfach weiter so, dann werden wir es schon schaffen. Grostril hat einfach Pech gehabt. Verliert nicht den Kopf, bleibt wachsam, ballert nicht herum und ruft sofort, wenn ihr etwas seht, dann werdet ihr mehr Glück haben.«
Sie setzten ihren Rückzug durch den Schnee fort. Was als eine ordentliche Reihe begonnen hatte, verwandelte sich jedoch schon bald in einen engen Kreis von Soldaten, die mit ihren Musketen alle Richtungen abdeckten. Konowa hatte so etwas in einer Schlacht schon oft gesehen. Soldaten suchten den Trost der Nähe eines Kameraden, und ordentliche Schlachtreihen begannen sich in willkürliche Klumpen aufzulösen. Es war ziemlich gefährlich, sich so eng zusammenzuscharen, vor allem dann, wenn die Sarka Har in der Lage waren, flammende Brocken explodierenden Holzes zu schleudern. Aber der moralische Auftrieb, den das den Männern gab, war das Risiko wert. Deshalb sagte Konowa nichts.
»Ich hätte erwartet, dass die Finsteren Verstorbenen irgendwann hier auftauchen«, erklärte Feylan irgendwann. Es klang wie eine rhetorische Frage, aber Konowa wusste, dass alle Soldaten das Gleiche dachten, genauso wie er. Warum sind die Toten nicht aufgetaucht, als wir sie gebraucht haben?
»Es könnte sein, dass sie woanders beschäftigt sind«, meinte Konowa und hoffte dabei sehr, dass das Regiment nicht gerade angegriffen wurde. »Oder sie haben endlich Urlaub bekommen.«
Erneut lachte niemand, und Konowa konnte es ihnen auch nicht verdenken. Stattdessen zog er es vor, das Thema zu wechseln. Er ging etwas langsamer und winkte Feylan zu sich heran, während die anderen Soldaten weiterhin dicht zusammengedrängt marschierten.
»Das war sehr beeindruckend, wie du die Männer organisiert hast. Was ist mit eurem Korporal passiert?«
»Ein Zweig hat ihm den Kopf abgeschlagen«, erwiderte Feylan. Seine Stimme klang für eine solche Auskunft relativ gelassen.
Konowa zuckte dennoch zusammen, weil ihm einfiel, dass er den Männern gerade geraten hatte, nicht den Kopf zu verlieren.
Jetzt klang Feylans Stimme belegt, aber er überspielte das mit einem Hüsteln. »Als wir die Bäume gesehen haben, hielten wir sie zuerst auch für Soldaten. Er hat angefangen, sie auszuschelten, weil sie sich verirrt hätten, und ist zu einem hingegangen. Danach habe ich sozusagen das Kommando übernommen, aber vermutlich hätte das auch jeder andere tun können. Wahrscheinlich habe ich einfach nur als Erster den Mund aufgemacht.«
Konowa wusste es besser. In Zeiten der Gefahr zeigt es sich, wer das Zeug zum Anführer hat. »Du hast mehr gemacht als das.«
Sie gingen schweigend weiter. Konowa registrierte, wie seine Stiefel durch die Eiskruste brachen, die sich auf dem Schnee bildete. Er lauschte angestrengt in der Hoffnung zu hören, wie die Abteilung der Dritten Speerträger ihnen zu Hilfe kam, aber selbstverständlich hätten sie sich dafür ihren Weg durch die anderen Sarka Har kämpfen müssen, die sich jetzt irgendwo zwischen dem Ende der Kolonne und der Nachhut befanden.
Ich habe sie im Stich gelassen. Der Gedanke traf Konowa besonders hart. Wäre die Nachhut nicht vom Weg abgewichen, um ihn zu retten, wären sie in der Lage gewesen, die Sarka Har aufzuhalten und die Dritten Speere zu warnen. Seinetwegen war jetzt die ganze Kolonne in Gefahr. Es hing alles von den drei Soldaten ab, die Feylan losgeschickt hatte, um die anderen zu warnen. Falls sie es nicht geschafft hatten, würde der Angriff der Sarka Har die Kolonne völlig unvorbereitet treffen.
»Ich glaube, ich höre etwas«, sagte ein Soldat.
Die Abteilung kam schlurfend zum Stehen. Konowa bezweifelte, dass einer von ihnen auch nur atmete, während sie ihre ganze Energie darauf konzentrierten, in die Nacht um sie herum zu lauschen. Konowa machte sich nicht einmal die Mühe, seine Sinne auszuschicken. Die Eichel war ein ständiger, kalter Schmerz auf seiner Brust, was es zusätzlich zu dem betäubend kalten Wetter sehr schwer machte zu unterscheiden, ob sie vor einem Feind warnte oder nicht.
Nach einer Minute vergeblichen Lauschens wollte Konowa gerade befehlen weiterzumarschierten, als irgendwo im Dunkeln ein Stück Holz knarrte.
»Da, habt ihr es gehört?«, erkundigte sich der Soldat. »Das ist einer von diesen Sarka Har, und er ist verdammt nah.«
»Leise«, zischte Konowa und bedeutete den Soldaten mit einer Handbewegung, ruhig zu sein. Dann drehte er den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Er hörte das Knarren erneut, konnte es jedoch nicht genau orten. Diese Ohren sollen verdammt sein! Als ihm klar wurde, dass es sinnlos war, öffnete er die Augen und betrachtete die Soldaten um sich herum. Sie alle hatten sich umgedreht und starrten in die Richtung, in welche die Kolonne marschiert war.
»Runter von dem Pfad, sofort!«, fauchte Konowa und zeigte seinen Männern mit der Muskete die Richtung an. Sie reagierten schnell und brachen durch den tiefen Schnee, bis sie etwa fünfzehn Meter von dem Pfad entfernt waren. Dort drehte Konowa sich um, ging auf ein Knie, wickelte sich den ledernen Trageriemen der Muskete um den linken Arm und setzte den Schaft auf seinen Schenkel, um sie aus dem Schnee zu halten. Die Männer nahmen links von ihm Aufstellung und folgten seinem Beispiel. Konowa ließ den Pfad nicht aus den Augen, als er zu ihnen sprach.
»Wir greifen die Sarka Har in dem Moment an, in dem sie auftauchen. Das sollte sie in diese Richtung locken. Während sie die Rinde aufheben und sich vorbereiten, mehr Feuerkugeln zu schleudern, rennen wir los und versuchen, so schnell wie möglich das Regiment zu erreichen.«
Das knarrende Geräusch von Holz kam näher. Jemand hustete, und ein dumpfer Schlag ertönte, als ein anderer Soldat dem Missetäter eine verpasste.
Konowa neigte den Kopf, um seinen steifen Hals zu lockern, und zwang sich dazu, langsamer zu atmen. »Ich sage euch, auf welchen Baum wir zielen, und dann schießen wir auf meinen Befehl hin. Wir laden sofort nach, ich nenne euch den nächsten Baum, wir feuern, dann verschwinden wir. Wenn einer von euch von der Gruppe getrennt wird, soll er auf dem Pfad bleiben und weiterrennen. Diese Bäume sind langsam und dumm. Ihr seid erheblich schneller und nicht ganz so dumm.«
Er wusste nicht, ob die Soldaten lachten, weil das Geräusch von knarrendem, polterndem Holz lauter wurde und sogar das Heulen des Windes übertönte.
»Verdammter Mist!«, stieß Feylan hervor. »Das klingt, als würden mindestens zwanzig von ihnen gleichzeitig angreifen.«
»Achtung …«, sagte Konowa, legte den Schaft seiner Muskete fest an die Schulter und drückte die Wange dagegen. Das glatte, kühle Holz fühlte sich irgendwie tröstend auf seiner Haut an.
Irgendwo in der Reihe begann ein Soldat zu schluchzen.
»Denkt an die Jungs, die nicht mehr bei uns sind. Denkt an … Grostril«, sagte Konowa, der an so viele andere dachte, die sie verloren hatten. »Das ist unsere Chance, uns für einen kleinen Teil dieses Unrechts zu rächen.«
Das Ächzen von Holz, das bis an seine Grenze beansprucht wurde, klang durch die Nacht. Konowa suchte mit dem Knie besseren Halt im Schnee und blickte am Lauf seiner Muskete entlang. Seine Welt zog sich zu einem kleinen Fleck auf dem schneebedeckten Pfad etwa fünfzehn Meter entfernt zusammen. All seine Wut und seine Enttäuschung strömten aus ihm heraus und konzentrierten sich auf diese Stelle. Die Schattenherrscherin selbst hätte keine Chance gehabt, wenn sie jetzt hier aufgetaucht wäre.
»Sobald der erste Baum auftaucht, gebe ich den Befehl, und dann feuern wir.«
Konowa hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sich ein Schatten aus der Dunkelheit herausschälte und in Schussweite rumpelte.