24
WIND FEGTE DURCH die Sarka Har auf dem Berggipfel und rüttelte klappernd an ihren Zweigen. Blätter, schwer von Erz und Dunkler Macht, verdrehten sich und wurden abgerissen, fegten wie winzige Sicheln durch die Luft. Einige der Blutbäume zerbrachen splitternd, weil ihre Stämme zu fest waren, um der Spannung standzuhalten. Die Schattenherrscherin ignorierte die herumfliegenden Trümmer und zog ihre Roben fester um sich. Es war kalt hier oben, selbst für sie. Sie saß an der windabgewandten Seite ihres Ryk Faurre, vor der schlimmsten Kraft des Windes von seinem gewaltigen, knorrigen Stamm geschützt. Große, knotige Zweige hingen rings um sie herab und boten ihr weiteren Schutz.
Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen den Stamm der Silbernen Wolfseiche. Sie spürte die starke, drängende Vibration des Lebenssaftes, der durch den Baum strömte, und zog Trost daraus. Ihr Ryk Faurre würde leben. Der frühe Frost würde ihn nicht töten können. Sie sah die Geburtswiese, auf der weißer Frost funkelte, und spürte die Qualen, als der winzige Schössling vor Entsetzen und Schmerz kreischte, während der Frost ihn verbrannte. Sie drehte sich herum, um die Elfen der Langen Wacht zu bitten, ihn zu retten, aber es war keiner da.
Die Schattenherrscherin setzte sich auf und schrie, während sie Ihren Geist ausstreckte, um den winzigen Schössling zu beruhigen. Ihre Hände ruhten auf dem verseuchten Stamm des Baumes. Er war krank. Es war ein Gedanke, den sie zwar kannte, aber nicht akzeptieren wollte. Dieser Widerspruch machte sie wütend, und sie sah sich um, wo sie ihrer Wut Luft machen konnte.
Saft rann in stetem Tröpfeln an der Seite der Silbernen Wolfseiche herab und sammelte sich in einer Pfütze neben den Füßen der Schattenherrscherin. Sie starrte auf die schimmernde Oberfläche und fühlte die Macht, die aus dem Baum strömte. Sie versuchte, ihre Kinder zu finden, wie sie es schon zuvor getan hatte, aber die Oberfläche des Lebenssaftes wollte nicht ruhig werden. Der Berg bebte, und Felsen barsten, als die Sarka Har ihre Wurzeln tiefer in das Gestein gruben, auf der Suche nach Nahrung.
Ihre Wut wuchs, und sie konzentrierte all ihre Gedanken auf die Pfütze, wollte sie zwingen zu kooperieren. Schließlich tauchte ein Bild auf, aber es zeigte keine Elfen, sondern eine Stadt mit Menschen. Celwyn. Sie war selbst nie dort gewesen, kannte jedoch die Stadt aus dem Geist ihrer Emissäre. Ein lautes Knacken über ihrem Kopf veranlasste sie, hochzublicken. Ein schwerer Ast der Silbernen Wolfseiche splitterte und stürzte zu Boden, wo er in tausend Stücke zerbarst. Der Lebenssaft spritzte über sie, und sie roch das Aroma des Todes.
Sie nutzte ihren Ärger, zog Kraft aus der Macht in den Tiefen, drängte die Wurzeln, noch tiefer zu graben. Der Berg erbebte, und etliche Sarka Har stürzten in die Abgründe, die sich unter ihren Stämmen auftraten. Trotzdem tastete die Schattenherrscherin unerschrocken nach der schimmernden Vision von Celwyn.
Große, üppige Bäume säumten gepflasterte Straßen. Riesige Parks mit ausgedehnten Wiesen summten von Leben. Wohin sie auch blickte, schien das Land sie mit seiner fruchtbaren Energie zu verspotten. Sie sah das Spiegelbild ihres Ryk Faurre in dem Becken aus Lebenssaft, und bei diesem unübersehbaren, schrecklichen Gegensatz stieß sie ein gedehntes Zischen aus.
Sie spürte, wie seine Zweige sich sanft auf ihre Schultern legten. Zweige glitten ihre Arme hinab und umschlangen sanft ihre Handgelenke. Sie tauchte beide Hände bis zu den Ellbogen in den Lebenssaft. Die Kälte schockierte sie, aber sie klärte auch ihren Verstand. Sie spürte die Natürliche Ordnung und begann an dem unterirdischen Netz aus Wurzeln zu ziehen, lenkte sie in eine neue Richtung. Dann zog sie ihre Hände zurück und sah zu. Die Zweige glitten wieder ihre Arme hinauf und verschwanden.
Sie saß da, ohne auf das Verstreichen der Zeit oder die wachsende Kälte zu achten. Frost funkelte auf ihrem Umhang und in ihrem Haar, machte es grau und spröde. Das Bild von Celwyn schimmerte und veränderte sich. Sie blinzelte. Dunkelheit brach in der ganzen Stadt aus der Erde hervor, als ihre Sarka Har versuchten, dieses neue Land zu erobern. sie lächelte und lehnte sich an ihren Ryk Faurre zurück, als die Schreie der Bevölkerung in ihrem Geist widerhallten.
Die Schattenherrscherin schloss die Augen. Bald, schon bald würden ihre Kinder nirgendwohin mehr flüchten können. Schon bald mussten sie nach Hause kommen. Sie mussten zu ihr heimkehren.
Visyna stolperte erneut, und diesmal würde sie den Sturm um sie herum nicht mehr kontrollieren können, das wusste sie. Die brennenden Fäden glitten ihr immer schneller durch die Finger. Ihre Fingerspitzen brannten, und sie unterdrückte einen Schrei, während sie so gut wie möglich versuchte, den kleinen Teil des Sturms zu formen, den sie noch zu beherrschte vermochte.
»Ich verliere die Macht darüber«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass ihre Warnung überflüssig war, weil die Mauer aus wirbelndem Schnee, welche die Gruppe bis jetzt beschützt hatte, sich auflöste und in dem größeren Sturm um sie herum verschwand.
Kalte Luft fauchte in die Blase, und die Kälte drang ihr bis auf die Knochen. Der Schmerz in ihren Fingern fühlte sich an, als würden sich Nadeln hineinbohren. Sie klemmte sich die Hände unter ihre Achseln und wagte es, sich umzusehen. Rakkes tauchten von allen Seiten aus dem Schnee auf.
»Bleibt dicht zusammen. Trennt euch nicht von der Gruppe und versucht nicht wegzulaufen!«, schrie Hrem, der sich links neben ihr aufbaute. »Wir sind als Gruppe stärker, und das wissen sie!«
Drei Dutzend Rakkes fingen an, sich mit den Fäusten auf die Brust zu trommeln, und wühlten den Schnee auf, als sie sich in Wut brachten. Das Fell auf Jirs Rücken richtete sich auf, und er fletschte die Lippen, als er seine Reißzähne zeigte. Bei dem Knurren, das tief aus seiner Kehle drang, überlief es Visyna kalt. Hätte der Bengar es nur mit ein paar Rakkes zu tun gehabt, hätte sie ihm eine sehr große Chance eingeräumt, sie zu besiegen. Aber da draußen waren viel zu viele. Er konnte sie nicht alle töten und würde bei dem Versuch sterben.
Visyna zog ihre Hände unter den Armen hervor und versuchte ein paar Fäden aus dem Sturm zu ziehen; sie hoffte gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass sie noch etwas aus diesem Chaos weben konnte. Aber ihre Bemühungen waren vergeblich. Sie sank auf die Knie, als ihre Energie verbraucht war.
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und blickte zu Chayii hoch. Die Elfe lächelte sie an. »Ich wäre stolz gewesen, dich meine Schwiegertochter nennen zu dürfen«, sagte die ältere Elfe, streckte die Hand aus, packte Visyna sanft am Ellbogen und half ihr hoch.
»Dazu hätte er mich aber erst mal fragen müssen«, erwiderte sie und wischte sich eine Träne aus den Augen.
»Das hätte er getan«, antwortete Chayii.
Die Rakkes heulten und kamen näher, obwohl keines von ihnen wagte, die letzten zehn Meter zu überwinden.
»Lass das Vieh los!«, zischte Zwitty. Er stand so, dass Hrem seine linke Seite deckte und Scolly die andere. »Er will sie doch sowieso angreifen. Das ist jetzt der ideale Zeitpunkt.«
»Es sind zu viele Rakkes«, erwiderte Visyna und sah Chayii hilfesuchend an.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann ihn nicht länger halten, Kind … Seine Wut wächst und wird zu stark. Er will jagen, und was geschehen soll, wird geschehen.« Sie beugte sich hinunter und flüsterte dem Bengar etwas ins Ohr, während sie ihm über die Mähne strich. Jirs Knurren wurde zu einem tiefen, grollenden Schnurren. Einen Augenblick lang hoffte Visyna, dass er bei ihnen bleiben würde, doch dann stand Chayii auf und ließ den Bengar los.
Jir schüttelte den Kopf, hob die linke Pfote und rieb sie seitlich an seinem Kopf. Dann streckte er die Beine aus, reckte sich und bog den Rücken, als wäre er gerade aus dem Schlaf erwacht. Vielleicht war er das ja auch, nachdem Chayii ihre Kontrolle über ihn aufgegeben hatte. Er hob die Schnauze, witterte, und sein Schnurren wurde lauter.
»Ist er verrückt geworden?«, erkundigte sich Zwitty. »Überall sind Rakkes, und er tut so, als würde er sie nicht einmal sehen.«
»Er sieht sie und riecht sie. Er weiß sehr genau, dass sie da sind«, erwiderte Chayii und lehnte sich gegen Visyna. Die alte Elfe war noch erschöpfter als sie selbst. Wenn der Wind noch stärker wurde, würde er sie einfach umwerfen.
Ein Rakke wagte sich mutig ein paar Schritte vor, warf den Kopf in den Nacken und heulte gen Himmel. Jir drehte den Kopf herum und machte sich daran, das Fell an seiner verletzten Schulter zu lecken.
»Ich kann nicht glauben, dass ich mit Zwitty einer Meinung bin, aber warum greift Jir sie nicht an?«, erkundigte sich Hrem.
»Elfen haben eine große Affinität zur Natur und all ihren Kreaturen«, erwiderte Chayii, der das Sprechen sichtlich Mühe machte. »Obwohl ich annehme, dass mein Sohn nicht das beste Beispiel dafür ist. Jedenfalls ist das die Ursache, warum wir ein Band mit den Wolfseichen knüpften. Bedauerlicherweise ist das ebenfalls der Grund dafür, warum wir es jetzt mit dem Bösen der Schattenherrscherin zu tun haben. Konowa jedoch hat sich mit dieser Kreatur verbunden. Da ihre Geister sehr ähnlich sind, hat sein Einfluss auf dieses Wesen seine Persönlichkeit nicht grundlegend geändert; Jir ist und bleibt ein Jäger.«
Visyna verstand sofort. »Aber du hast es verändert!«
Chayii richtete sich so weit auf, dass sie Visyna ansehen und lächeln konnte. »Er ist immer noch ein Raubtier, und ein wildes dazu, aber während der Zeit, die ich ihn unter meinem Einfluss hatte, konnte ich ihm ein gewisses Maß an … Geduld einflößen. Etwas, womit ich bedauerlicherweise bei meinem eigenen Sohn weniger Erfolg hatte.«
»Wie zum Teufel soll uns das jetzt helfen?«, fragte Zwitty.
»Das werden Sie noch früh genug sehen«, antwortete Chayii.
Das Rakke, das sich vorgewagt hatte, wurde kühner, als die Gruppe nicht reagierte. Es klapperte mit den Zähnen und sprang noch einen Meter weiter vor. Die anderen Rakkes heulten aufmunternd und machten Anstalten, ebenfalls näher zu kommen. Visyna wusste, dass ein Massenangriff unmittelbar bevorstand. Je länger die Rakkes unsicher blieben, desto besser standen ihre Chancen, einen Plan für ihre Rettung zu schmieden. Sie hob ihre Hände und begann zu weben.
»Ich dachte, Sie könnten das nicht?«, erkundigte sich Hrem, der seine Hände erhoben hatte und sie zu Fäusten ballte.
»Kann ich auch nicht«, gab Visyna zu. »Jedenfalls kann ich nicht genug Magie weben, um sie von uns fernzuhalten, aber das wissen sie nicht.« Sie hob deutlich sichtbar die Hände und webte vor sich, bevor sie sich in den Schnee hockte und dann zwei Handvoll des mit Magie versetzten Schnees aufnahm. Er brannte in ihren Händen, aber gleichzeitig sorgte die Wärme dafür, dass sie in der Lage war, seinen hauchdünnen Faden der Macht aus der Luft zu nehmen und eine dünne, schimmernde Wand zwischen ihre Gruppe und den Rakkes zu errichten.
Viele Rakkes wichen hastig etliche Meter zurück. Das erste Rakke jedoch duckte sich tiefer und verstummte, zog sich aber nicht zurück.
Gut, dachte Visyna, verblüfft, dass ihr Plan tatsächlich funktionierte. Sie wusste aber auch, das seine Wirkung nicht lange anhalten würde.
»Wir müssen sie noch ein bisschen länger aufhalten«, sagte sie. »Inkermon, fangen Sie an zu beten. Und zwar laut. Hrem, wenn Sie das Frostfeuer kontrollieren können, dann beschwören Sie es jetzt. Aber machen Sie viel Wirbel dabei, grunzen und schreien Sie. Sie sehen ja, wie die Rakkes sind. Versuchen Sie es ähnlich zu machen wie ich.«
Der hünenhafte Soldat blickte auf seine Hände, dann sah er Visyna wieder an. »Ich kann nicht schauspielern.«
Visyna unterdrückte einen Fluch. »Vergessen Sie Schauspielerei, werden Sie einfach wütend! Stampfen Sie herum, schreien Sie!«
»Stell dir vor, jemand würde sich zwischen dich und eine Schüssel mit Eintopf stellen«, sagte Zwitty, dessen weinerlicher Tonfall in der steigenden Spannung wie ein Katalysator wirkte.
Hrem brüllte auf. Visyna keuchte vor Schreck. Der hünenhafte Soldat wirbelte herum und schwang seine Faust nach Zwittys Kopf. Zwitty sprang zurück, machte ein paar ungeschickte Schritte und fiel in den Schnee. Die Rakkes in der Nähe heulten sofort wütend auf. Auf Händen und Füßen krabbelte Zwitty zu der Gruppe zurück.
»Die hätten mich fast umgebracht!«, rief Zwitty, sprang auf und deutete mit einem Arm auf die Rakkes.
»Na und?«, erkundigte sich Hrem. »Offensichtlich kann ich doch ein bisschen schauspielern.« Aber in seiner Stimme schwang keinerlei Humor mit.
»Das ist nicht sonderlich hilfreich«, meinte Visyna.
»Was sollen wir tun?«, fragte Scolly.
»Machen Sie Schneebälle.«
»Schneebälle?«, erkundigte sich Zwitty, während Scolly sich bückte und mit beiden Händen Schnee zusammenpresste. »Glauben Sie wirklich, dass das ein Rakke aufhalten kann?«
Die Versuchung, dem Soldaten mit einem gezielten Schlag die Nase zu brechen, war so groß, dass Visyna die Fäuste ballte, bis ihr wieder einfiel, dass sie eigentlich deutlich sichtbar Magie weben sollte. »Das können sie, wenn Sie sie vorher Hrem zuwerfen, der sie mit dem Frostfeuer entzündet und dann auf die Rakkes schleudert.«
»Sehr gerissen«, meinte Chayii und tätschelte Visyna anerkennend den Arm.
Jir ging ein paar Schritte auf das erste Rakke zu, ließ jedoch immer noch nicht erkennen, dass er die Bestie bemerkt hatte. Das Rakke brüllte und hob die Arme in einer Drohgebärde hoch über seinen Kopf. Jir drehte sich um, als würde er die Kreatur zum ersten Mal bemerken. Und dann machte er etwas höchst Bemerkenswertes.
»Er duckt sich vor Angst«, sagte Visyna, die nicht wusste, ob sie ihren Augen trauen konnte. Der furchtlose Bengar presste tatsächlich den Bauch in den Schnee und kroch langsam zurück. Das Rakke erkannte die Haltung und griff an.
»Nein«, widersprach Chayii, »er tut nur so.«
Im selben Moment veränderte sich Jirs Verhalten. Er presste die Ohren an den Schädel, und sein Fell kräuselte sich, als seine Muskeln vor Anspannung hervortraten. Das Rakke war noch zwei Schritte entfernt, als Jir sprang, ein verschwommener Fleck schwarzen und roten Fells, das sich deutlich gegen den Schnee abhob. Ein Schrei gellte auf, der sofort erstickt wurde, und zwar von einem Geräusch, als würde Leder zerrissen. Blut spritzte in den Schnee, und Jir landete auf seinen zwei Vorderpfoten. Die beiden hinteren setzte er eine Sekunde später sanft auf.
Der Leichnam des Rakke lag ausgestreckt im Schnee, und sein Kopf klemmte zwischen Jirs Kiefern.
Die anderen Rakkes zogen sich mehrere Meter zurück, und ihr ständiges Brüllen und Fauchen verstummte. Jir hatte ihnen etwas Zeit verschafft, aber wie viel? Immer mehr Rakkes tauchten auf, die Jirs schreckliche Demonstration nicht gesehen hatten. Ihr Brüllen würde die anderen schon bald ermutigen, wieder anzugreifen.
»Und jetzt?«, wollte Zwitty wissen.
»Wir müssen uns in Richtung Fort bewegen. Hrem, wirf die Schneebälle etwa sieben Meter vor uns und dann noch ein paar zu den Seiten. Jir kann aufpassen und sich auf jeden stürzen, der uns zu nah kommt.«
Scolly gab Hrem einen Schneeball. Hrem machte einen Schritt vorwärts und streckte seine Arme von sich. Die Rakkes konzentrierten sich sofort auf ihn. Hrem brüllte, und der Schneeball ging in schwarze Flammen auf. Er bewegte seinen Arm einmal von links nach rechts, sodass möglichst viele Rakkes den brennenden Schneeball sahen, dann schleuderte er ihn. Der Ball beschrieb einen eleganten Bogen, während das schwarze Frostfeuer wie ein Kometenschweif durch die Dunkelheit hinter ihm herwaberte. Es fiel zu Boden mit einem scharfen Krachen, und Visyna bemerkte, dass es den pulverigen Schnee zu festem Eis gefroren hatte. Schwarze Flammen und Funken loderten einige Sekunden auf, bevor sie erlöschten. Die Rakkes, die den Flammen am nächsten waren, kreischten und zogen sich erneut zurück.
»Los!«, schrie Visyna und zwang ihre Finger, so viele kleine Fäden zu weben, wie sie bewältigen konnte.
Sie setzten sich in Bewegung. Inkermon betete, Scolly und Zwitty machten Schneebälle und reichten sie Hrem, der sie mit Frostfeuer entzündete und sie dann schleuderte, so schnell er konnte. Visyna bemühte sich nach Kräften, Chayii zu halten, während sie webte; Jir umkreiste die Gruppe und knurrte jedes Rakke an, das zu nahe kam.
»Es funktioniert!«, schrie Hrem, der einen Schneeball schleuderte und ein Rakke direkt auf die Brust traf. Die Kreatur kreischte, als schwarze Flammen an ihr hochzüngelten, dann rannte sie brüllend in die Nacht hinaus. »Wir werden es schaffen.«
Ein Felsbrocken segelte aus dem Dunkeln heran und traf Hrem an der Schläfe. Er stürzte zwar nicht, krümmte sich jedoch vor Schmerz und presste seine Hände auf die Wunde. Die Rakkes stürmten vor. Jir griff sie an, und seine Klauen zischten so schnell wie das Licht durch die Luft, mehr, um zu verletzen und zu ängstigen, als um zu töten.
Der Angriff stockte, aber er hörte nicht auf. Mittlerweile mussten mindestens fünfzig oder noch mehr Rakkes sie umzingelt haben, und selbst so primitive Kreaturen wie diese wussten, dass sie mit einer solchen Überzahl ihre Beute einfach überwältigen konnten.
»Sie haben herausgefunden, wie sie uns erledigen können!«, rief Zwitty, der sich nicht die Mühe machte, die Furcht in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Es sind Raubtiere«, erklärte Chayii.
Scolly und Zwitty begannen, ebenfalls Schneebälle zu werfen, obwohl keiner von ihnen sie entzünden konnte. Inkermons Gebete wurden lauter, aber falls sie eine Wirkung hatten, konnte Visyna sie nicht erkennen. Sie bekam nur ein paar Worte mit, aber sie bemerkte, dass der Soldat eine Menge Erlösung, rechtschaffene Wut und einen schnellen Tod beschwor. Sie hoffte, dass der letzte Teil den Rakkes galt und nicht ihnen.
Ein lautes Brüllen ertönte aus der Richtung des Forts. Die Rakkes drehten sich um und sahen hin, noch während sie angriffen.
Das Gebrüll steigerte sich zu einem Crescendo, und eine dunkle Gestalt stürmte durch den Kreis der Rakkes. Ihr Körper war von Kopf bis Fuß in hellgrüne, leuchtende Funken gehüllt.
Die Rakkes reagierten augenblicklich und außerordentlich erstaunlich. Sie jaulten, blinzelten vor Furcht und rannten weg, alles andere war vergessen. Sie schlugen um sich und kletterten übereinander, um vor der Gestalt zu flüchten, die jetzt in ihrer Mitte umhertaumelte. Grüne Flammen flackerten über die ganze Kreatur und verdeckten ihre wahre Gestalt, während sie mit den Armen heftig um sich schlug, als versuchte sie, das Feuer zu löschen.
In diesem Moment bemerkte Visyna, dass die Kreatur auch einen Säbel schwang, der einen blauen Schweif durch die Luft zog.
»Konowa!«, schrie Visyna und rannte auf ihn zu. Zwei Meter vor ihm blieb sie stehen. Er trug die zerfetzten und rauchenden Reste eines Umhangs, der furchtbar qualmte, während er von Hunderten winziger grüner Flammen verbrannt wurde.
»Bist du mit einem Zauber belegt worden?«, erkundigte sie sich, verblüfft, weil sie keine fremde Magie entdecken konnte.
»Au, au! Verflucht, au!«, schrie Konowa und riss sich die Reste des Umhangs von den Schultern. Dann warf er sich in den Schnee und rollte sich hin und her. »Ein Karnickel, das an meinem Finger nuckelt, meine Fresse! Aua!«, schrie er, aber seine weiteren Flüche waren nicht zu verstehen, da er sein Gesicht in den Schnee presste.
Schließlich richtete er sich auf, vollkommen mit Schnee bedeckt, während er immer noch mit dem Säbel gefährlich herumfuchtelte. »Ich werde diesen verdammten Zwerg in seinen verfluchten … Jir!«, konnte er noch sagen, bevor ein Schemen an Visyna vorbeifegte und gegen Konowa prallte. Elf und Bengar landeten in einem Schneehaufen.
Konowa rappelte sich hoch, während ein aufgeregter Jir ihn wieder umzuwerfen drohte, als er um ihn herumsprang. Die Wunde an seiner Schulter war offenbar vollkommen vergessen. Frostfeuer schlug einen Bogen zwischen ihnen, aber Jir schien es nicht zu bemerken.
»Major!«, sagte Hrem, trat vor und legte seine riesige Hand auf Konowas Schulter. »Großartig, Sie zu sehen, Sir. Wo ist der Rest des Regiments?«
Konowa klopfte sich immer noch Schnee und Funken von der Kleidung und schien die Frage nicht gehört zu haben.
»Geht es dir gut, mein Sohn?«, fragte Chayii und streckte eine Hand nach ihm aus, die sie jedoch zögernd wieder zurückzog, als schwarzer Frost auf seiner Uniform glitzerte.
»Mutter. Oh, mir ist nur ein bisschen warm unter meiner Jacke, das ist alles … Hört zu, ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Wir müssen hier weg, und zwar schnell.« Er drehte sich zum Fort herum, hielt jedoch inne und warf seiner Mutter über die Schulter einen Blick zu. »Vater hat wieder sein altes elfisches Ich … das heißt, fast jedenfalls.«
Diesmal trat Chayii vor und umarmte ihren Sohn. Frostfeuer funkelte an den Stellen, wo ihre Arme ihn berührten, aber sie hielt ihn fest.
»Ich habe dich auch vermisst, aber … na ja, das ist jetzt nicht gerade der beste Zeitpunkt«, meinte Konowa. Seine Soldaten standen da und starrten ihn vollkommen verdattert an.
Chayii ließ ihn los und trat zurück, aber vorher hob sie die Hand und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Visyna durchfuhr ein sehnsüchtiger Stich, und sie wünschte sich, sie wäre jetzt an Chayiis Stelle.
Visyna senkte den Kopf und setzte sich in Bewegung. Sie wünschte sich so sehr, dass er zu ihr lief, sie in seine Arme riss und nicht auf dieses blöde Frostfeuer achtete. Der Gedanke machte sie wütend. Ich bin kein empfindliches Pflänzchen!, sagte sie zu sich selbst. Sie hob den Kopf, straffte die Schultern, marschierte auf ihn los und blieb unmittelbar vor ihm stehen.
»Du, Konowa Flinkdrache, bist mein Elf!« Nach allem, was sie durchgemacht hatte, nach all dem Schmerz, der Furcht und der Unsicherheit war sie sich dessen vollkommen sicher. Sie hatte ihn gefunden. Sie hob die Arme, schlang sie um seinen Hals und zog ihn zu sich herunter. Frostfeuer brannte in ihren Händen, aber selbst wenn es Drachenzähne gewesen wären, hätte sie nicht losgelassen. Ihre Lippen trafen sich. Der Kuss war anders als alles, was sie jemals erlebt hatte. Er war wie ein eiskalter Blitz, süß und klar wie frisches Quellwasser. Konowa schlang den rechten Arm um ihre Taille und zog sie dichter an sich. Das Frostfeuer funkelte auf ihrem Rücken, aber sie bemerkte es kaum. Sie verlor sich gänzlich in einem so wundervollen Gefühl, dass der Schmerz einfach warten musste. Sie hätte ewig dort in seinen Armen stehen können, aber lange, bevor sie dafür bereit war, ließ er sie los. Sie konnte ihn immer noch auf ihren Lippen schmecken.
»Ich hlauhe, heine hippen hind haub«, sagte er. Seine Wangen waren rot.
»Heine hauch«, erwiderte sie, aber es interessierte sie nicht im Geringsten.
Pfiffe und anerkennendes Glucksen verkündete, dass die Stählernen Elfen, die um sie herumstanden, die ganze Angelegenheit voll und ganz billigten.
»Da ist immer noch die Sache mit den Rakkes«, erklärte Hrem, während er mit seinem Uniformärmel die Seite seines Kopfes betupfte, wo ein dünnes Rinnsal aus Blut aus der Wunde sickerte. »Wie viele Soldaten sind hier bei Ihnen, Major?«
»Holgt hir«, sagte Konowa, blieb stehen und rieb sich mit dem Handrücken über die Lippen, bevor er es erneut versuchte. »Folgt mir, dann zeige ich es euch.« Mit diesen Worten drehte Konowa sich um und setzte sich in Richtung Fort in Bewegung. Jir sprang neben ihm her und rammte seinen Schädel gegen Konowas Knie, was diesen beinahe umgeworfen hätte. Konowa streckte die Hand aus und kraulte den Kopf des Bengars. Auf dem Fell des Tieres glitzerte schwarzer Frost.
Visyna lächelte. Sie schlang ihren Arm unter den von Chayii, und die beiden Frauen folgten den Soldaten als Letzte ihrer Gruppe. Sie waren von wütenden Monstern umzingelt, die sie vernichten wollten, waren in dem umfassenden Netz einer wahnsinnigen Elfenhexe gefangen und befanden sich mitten in einer verschneiten Wüste, und doch war das überwältigende Gefühl, das sie empfand, Glück. Sie hatte ihren Elf gefunden, und er empfand das Gleiche für sie. Nichts in dieser oder einer anderen Welt hätte übertreffen können, wie gut sie sich dabei fühlte.
»Ich kann mich daran erinnern, wie Yimt mir das erste Mal von dir erzählt hat«, sagte Chayii, während sie nebeneinander hergingen. »Ich muss zugeben, dass ich das nicht sonderlich schätzte.«
Visyna konnte nur lächeln. Ihre Wangen taten tatsächlich schon weh, weil sie nicht aufhören konnte zu grinsen. »Und jetzt?« Sie stellte die Frage, obwohl sie die Antwort kannte.
»Und jetzt frage ich mich, wann ich wohl Enkelkinder bekommen werde.«
Visynas Grinsen erlosch. »Wir, also, wir haben bis jetzt nur …«
Chayii drückte ihren Arm und lächelte sie an. »Ich habe nur einen Scherz gemacht«, sagte sie. »Jedenfalls für den Moment.«
Visyna bemerkte, dass Konowa langsamer ging und versuchte, ihr Gespräch zu belauschen. Sie nutzte die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln.
»Was war das für ein grünes Feuer, und warum hatten die Rakkes so große Angst davor?«, erkundigte sie sich.
Konowa ging noch langsamer, bis er neben ihr war. »Kupferstaub und Kupferspäne. Sie brennen grün. Wie es scheint, glauben die Rakkes, dass es sich dabei um einen ekligen todbringenden Käfer handelt, den sie instinktiv fürchten. Ich wünschte, ich hätte das schon vor ein paar Monaten gewusst.«
»Vor ein paar Monaten waren Rakkes noch ausgestorben«, erklärte Visyna.
Als wollte es ihr widersprechen, brüllte ein Rakke in der Nacht. Etliche andere erwiderten den Ruf. Sie sammelten sich zu einem neuen Angriff.
»Sie mögen dumm sein, aber sie sind sehr hartnäckig«, meinte Konowa. »Wir müssen uns schneller bewegen.«
Visyna streckte die Hand aus und berührte seinen Arm, obwohl sie wusste, dass es brennen würde. »Alle sind müde und verletzt. Wir können von Glück reden, dass wir noch stehen.«
Konowa wurde langsamer, drehte sich um und sah sie an. Sein Gesicht war eingefallen, und er sah genauso erschöpft aus, wie sie sich fühlte. »Ich weiß, und es tut mir leid, aber wir müssen uns wirklich beeilen, von hier wegzukommen.«
»Und du bist ganz alleine hergekommen, unseretwegen?«
Konowa lächelte. »Nicht ganz. Ich habe einen zweiten Soldaten als Hilfe mitgebracht.«
Es ging steil bergauf, und sie sah die dunklen Umrisse von großen Felsen vor sich. Von einem dieser Felsen löste sich ein Schatten und kam auf sie zu.
»Konowa!«, stieß Visyna alarmiert hervor und trat vor Chayii, um sie zu decken.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen … Er ist nicht sonderlich gefährlich, jedenfalls solange er den Mund nicht aufmacht.«
Wie der Geist, der er hätte sein sollen, materialisierte Yimt aus dem Schnee und blieb stehen. Seine Metallzähne glänzten wie polierte Diamanten. »Ich bin nicht tot, falls ihr euch wundert.«
Eine Minute lang verschwand der Zwerg, als Hrem und Scolly ihn umarmten. Inkermon und Zwitty näherten sich ihm vorsichtig, streckten ihre Rechte aus, um ihm kurz die Hand zu schütteln, aber Hrem umarmte die beiden und zog sie in die Traube. Welche Animositäten auch immer zwischen den Soldaten und ihrem Sergeanten geherrscht hatten, sie waren, jedenfalls für den Moment, vergessen.
»Also gut, lasst ihm ein bisschen Luft zum Atmen«, befahl Konowa. Der Haufen aus Leibern teilte sich, und Yimt zog seine Caerna zurecht, als sein Blick auf Visyna und Chayii fiel.
»Mistress Rote Eule«, sagte er und wandte sich an Chayii. Er lüpfte seinen Tschako und verbeugte sich vor der Elfe. »Mistress Tekoy«, sagte er und wiederholte die Geste. »Wenn ich recht verstanden habe, haben Sie dieser Welt einen großen Dienst erwiesen.«
»Es hieß: er oder wir«, sagte Visyna. Sie bemerkte, dass Konowa die Augen aufriss, doch dann nickte er anerkennend. Sie erwiderte das Nicken und wünschte sich, Konowa würde ihr für etwas anderes gratulieren. Jemandem das Leben zu nehmen, war nie etwas, worüber man froh sein konnte.
»Ganz recht«, erwiderte Yimt. »Das versuche ich diesem Kerl in seine Birne einzutrichtern, seit ich ihn gesehen habe.« Er hielt inne, als er die Soldaten betrachtete, und sein Lächeln verschwand. »Teeter?«
»Er ist im Kampf gefallen.« Hrems Stimme klang verdächtig erstickt.
Yimt nickte. »Ja, das passt. Also«, sagte er und klatschte in die Hände, »wir trinken später einen auf ihn. Jetzt müssen wir uns an den Aufstieg machen.«
»Das willst du vielleicht wiederhaben«, sagte Hrem und hielt dem Zwerg den Drukar hin.
Yimts Mund öffnete und schloss sich, aber es kam kein Wort heraus. Er streckte die Hand aus und nahm die Klinge entgegen, die er ebenso anstarrte, wie Visyna Konowa angeschaut hatte. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich den noch einmal wiedersehe«, brachte er schließlich heraus.
»Tut mir leid, dass wir nicht auch den Schmetterbogen retten konnten«, meinte Hrem.
Yimt wischte die Entschuldigung mit einer Handbewegung beiseite. »Der hat mir gute Dienste geleistet, aber als Kritton auf mich geschossen hat, habe ich ihn verloren, und er ist zerbrochen, als er auf den Boden gefallen ist. Das war zwar hart, aber ich musste ihn zurücklassen. Doch ich habe eine ziemlich widerliche kleine Überraschung in der Bibliothek gefunden, die mich mehr als reichlich dafür entschädigt hat«, sagte er mit funkelnden Augen.
Zwei Rakkes tauchten aus der Dunkelheit auf und stürmten auf die Gruppe zu. Sie beendeten die Plauderei.
Jirs Krallen blitzten, und eine der Bestien stürzte in den Schnee, wobei sich ihre Beine in ihren Eingeweiden verfingen. Das zweite Rakke hauchte sein Leben aufgespießt auf Yimts Drukar aus, als der Zwerg die Klinge der Kreatur in die Brust rammte.
Der Geruch von heißem Blut waberte durch die Luft, und das Heulen der Rakkes wurde wilder.
»Er funktioniert noch«, sagte Yimt und versuchte, die Klinge aus der Leiche zu ziehen.
»Jetzt müssen wir aber wirklich verschwinden«, sagte Konowa und führte sie zu den Felsen. »Der Weg ist steil und rutschig, also passt auf, wohin ihr tretet, aber bewegt euch, so schnell ihr könnt.«
»Ich brauche ein bisschen Hilfe«, meinte Yimt, der sich immer noch abmühte, den Drukar aus der Brust des Rakke zu ziehen.
Hrem trat zu ihm, setzte einen Stiefel auf den Brustkorb des Rakke, zog und riss die Klinge heraus.
»Es ist immer gut, einen großen, starken Mann dabeizuhaben«, meinte Yimt und klopfte Hrem anerkennend auf den Unterarm. »Jetzt schafft euren Hintern diesen Berg hinauf und passt auf, dass ihr nicht über die Stricke stolpert. Ach ja, und passt schön auf die toten Rakkes auf. Die gehören jetzt zu uns.«
Visyna sah den Zwerg an. »Da oben sind auch Rakkes?«
Yimt schien etwas erklären zu wollen, aber bei Jirs Knurren änderte er seine Meinung. »Hoffen wir, dass wir später noch genug Zeit zum Plaudern haben. Aber jetzt beeilt euch!«, sagte er und scheuchte sie zu den Felsen.
»Moment mal, kommen Sie nicht mit?«
Die Soldaten drehten sich um, als Visyna diese Frage stellte, und sie konnte die Sorge auf ihren Gesichtern erkennen. Nachdem sie gerade erst herausgefunden hatten, dass ihr Sergeant noch lebte, wollten sie ihn auf keinen Fall erneut verlieren.
»Immer mit der Ruhe, Mädchen und Jungs, euer alter Sergeant verschwindet nicht. Ich lasse mich nur ein bisschen zurückhängen, um diese Kreaturen davon abzuhalten, zu frech zu werden und uns zu folgen.«
»Dann bleibe ich bei dir«, erklärte Hrem, sprang von einem Felsen herunter und ging zu ihm zurück.
»Dein Herz ist genauso groß wie dein Kopf, und das rechne ich dir sehr hoch an, aber zwischen diesen Felsen ist für einen riesigen Kerl wie dich nicht genug Platz. Geh weiter und hilf den anderen. Ich komme schon klar und werde nicht weit hinter euch sein.« Er richtete sich ein bisschen auf. »So, und jetzt wird es Zeit, den Stricken zu folgen.«
»Yimt von der warmen Brise, es ist sehr gut, wieder in Ihrer Gesellschaft zu sein«, sagte Chayii.
»Sie schmeicheln mir, Madam«, erwiderte Yimt. »Aber jetzt schaffen Sie Ihr hübsches kleines Selbst diese Felsen hoch und nehmen Sie den Rest dieser Bande mit.«
»Alle Mann klettern«, sagte Konowa. »Sofort. Und glaubt es oder nicht, das ist wirklich ein Befehl!«
Visynas Gesicht rötete sich, und sie konnte den vertrauten Drang, Konowa eine bissige Bemerkung zuzuwerfen, nur mit Mühe unterdrücken. Vielleicht war es aber auch nur die Nachwirkung des Kusses. Diesmal jedoch suchte sie nicht nach einem Vorwand für einen Kampf, sondern für eine Möglichkeit, ihn näher zu sich heranzuziehen. Sie sehnte sich danach, seinen Körper wieder an ihrem zu fühlen. Es war unglaublich ärgerlich, dass sie jetzt, wo sie sowohl körperlich als auch emotional zueinandergefunden hatten, immer noch wegen des Schwurs getrennt waren. Sie fragte sich, ob das ihr Verlangen nach ihm verstärkte, aber sie glaubte es nicht. Sie wollte ihn, und sie wusste, dass er sie auch begehrte.
»Los geht’s«, sagte Yimt, drehte den Drukar in seinen Händen und schien nicht darauf zu achten, dass er dabei Blut in alle Richtungen verspritzte. »Ich bin direkt hinter euch.«
Visyna drehte sich zögernd um und begann den Anstieg. Sie streckte eine Hand aus und führte Chayii über einen geborstenen Felsbrocken. Es war so etwas wie ein Weg, den Konowa und Yimt auf ihrem Abstieg mit einem ziemlich schmutzigen Seil auf dem Schnee markiert hatten. Sie blieb stehen, als sie das Seil genauer betrachtete. Offenbar war er ebenfalls mit Kupferspänen bedeckt.
»Weißt du, warum grünes Feuer oder Insekten die Rakkes so sehr verängstigten?«, fragte sie Chayii.
»Willst du wissen, ob ich schon am Leben war, als die Rakkes noch durch die Welt streiften?«
Visyna verfluchte sich innerlich. »Ich wollte damit nicht andeuten … ich meinte nur …« Sie seufzte und sah die Elfe an. »Also gut, ja, ich vermute, dass ich genau danach gefragt habe.«
Chayii wischte sich etwas Schnee aus dem Haar und dachte über die Frage nach. »Ich war noch nicht da. Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, die älter sind als ich, mein Kind.«
Visyna akzeptierte den sanften Tadel mit einem Lächeln. »Aber ich bezweifle, dass es viele gibt, die so weise oder so freundlich sind.«
»Ich habe meine guten Momente«, antwortete Chayii.
Ein paar Meter unter ihnen brüllte Yimt. »Nun kommt schon, ihr räudigen Dreckskerle! Ihr wollt frisches Fleisch? Hier bin ich! Ich bin vielleicht ein bisschen zäh, aber nichts, was ihr Bestien nicht herunterwürgen könntet!«
Visyna drehte sich herum. Yimt stand auf einem Felsbrocken, hatte seinen Drukar lässig auf die Schulter gelegt und eine Hand fest auf seine Hüfte gestützt, während seine Caerna fröhlich im Wind flatterte und sich aufbauschte.
»Meiner Treu«, stellte Visyna fest.
»Allerdings«, antwortete Chayii. »Wirklich beeindruckend.«
Visyna glaubte nicht, dass ihre Wangen noch heißer werden konnten. »Wir sollten wohl besser weiterklettern«, sagte sie, weil sie dringend das Thema wechseln wollte.
»Ja, ich glaube, das sollten wir«, erwiderte Chayii, beobachtete jedoch noch einen Augenblick länger den Zwerg. Dann drehte sie sich um, um weiterzuklettern, und sah, dass Visyna sie beobachtete. »Ich liebe meinen Narren von Ehemann sehr, aber wie wir bei der Langen Wacht sagen: ›Du kannst die Nüsse eines anderen Baums ruhig bewundern, solange du sie nicht pflückst.‹«
Ich habe mich geirrt, dachte Visyna und legte kurz die Hand auf ihr Gesicht. Meine Wangen können noch heißer werden.