21
KONOWA KONNTE ZWEI Elfen erkennen; einer stand etwa drei Meter von ihm entfernt, der andere hockte dahinter. Ihre Gestalten hoben sich von dem fallenden Schnee ab, sodass ihre Gesichter im Schatten lagen, aber ihre spitzen Ohren schlossen jedes Missverständnis aus.
Der vordere Elf hielt einen Bogen in der Hand, und der Pfeil zeigte direkt auf Konowas Herz. Die Sehne war bis zum Äußersten gespannt, und die Hände des Elfen waren vollkommen ruhig. Als Gewand trug er offenbar so etwas wie Palmblätter, Zweige, Gräser und anderen natürlichen Abfall, den man in der Wüste fand. Konowa wusste, dass ihre Dunkelelfen sich gerne in Blätter und anderes Material kleideten, welches sie von den Sarka Har nahmen, aber er konnte sich nicht daran erinnern, schon mal einen Dunkelelfen in einem solchen Aufzug gesehen zu haben.
Zögernd löste Konowa seinen Blick von der Pfeilspitze, die auf ihn gerichtet war, und betrachtete den anderen Elf. Im Unterschied zu seinem Partner trug er die Kleidung der Stämme der Hasshugeb und war zur Zeit vollkommen damit beschäftigt, nicht existente Schnurrbarthaare in seinem Gesicht zu glätten.
»Vater?« Konowa traute seinen Augen nicht.
Vor ihm stand, endlich wieder in Elfengestalt statt in der eines Eichhörnchens, Jurwan Blattflüsterer, der sich immer noch mit seinen nicht mehr länger existierenden Schnurrbarthaaren abmühte. »Was … wie bist du hierhergekommen? Du bist wieder ein Elf? Was ist passiert?« Er hörte Stiefelschritte auf den Stufen hinter sich und wandte sich dem zweiten Elfen zu. »Immer mit der Ruhe, Junge, ganz ruhig. Tyul, stimmt’s?«, meinte er. »Kein Grund zur Sorge, wir sind Freunde. Du erinnerst dich doch an uns, oder? Wir waren zusammen auf diesem großen Schiff. Ich bin der Sohn, Konowa. Vater, sag ihm, er soll den Bogen sinken lassen.«
Dieser blieb jedoch gespannt, und der Pfeil zeigte nach wie vor unerschütterlich auf Konowas Brust. Dann jedoch tauchten die Mündungen von Musketen neben ihm in den Augenwinkeln auf, als seine Soldaten anlegten und auf die Elfen zielten.
»Vater, es wird Zeit, vom Baum herunterzukommen und wieder ein Elf zu sein. Sag ihm, er soll seinen verdammten Bogen senken. Sofort!« Jurwan blinzelte und raste zu einer Leiter in der Nähe, die zu einer hölzernen Galerie hinaufführte, welche ein paar Meter unterhalb der Zinnen rund um den ganzen Innenhof des Forts führte. Wie der Blitz fegte er nach oben und war verschwunden.
Konowa stand mit offenem Mund da. So hatte er sich das Wiedersehen mit seinem Vater nicht vorgestellt.
»Die beiden haben im Augenblick nicht mehr Grips als eine Ziegelwand«, erklärte Yimt, der hinter der Tür heraustrat und sich zwischen Konowa und Tyul aufbaute. »Und sie sind so stumm wie Mönche. Ich habe bislang nicht ein einziges Wort aus ihnen herausbekommen.« Er deutete auf Tyul und wackelte mit dem Finger. »Was habe ich dir gesagt? Schießt man mit Pfeil und Bogen auf Freunde? Nein, nein, nein! Pfui! Böser Elf. Sehr böser Elf.«
Tyul entspannte die Sehne und ließ langsam den Bogen sinken. Konowa merkte, dass sein Mund immer noch offen stand, und klappte ihn langsam zu. Dann widerstand er der Versuchung, den Zwerg zu umarmen. Yimt sah furchtbar aus. Er trug keinen Tschako, sein Bart ähnelte einem Adlernest aus Zweigen, und seine Uniform schien mehr Löcher als Stoff zu haben. Und ein überaus ekliges Loch befand sich direkt in der Mitte seiner Brust. Es sah sehr nach einer Musketenkugel aus. »Du kleiner Teufel. Wo zur Hölle hast du gesteckt? Wir alle haben gedacht, du wärest tot.«
Schreie ertönen, als die Soldaten den Zwerg erkannten, aber Konowa brachte sie mit einer scharfen Handbewegung zum Schweigen. Er blickte an ihm vorbei und betrachtete den Innenhof des Forts.
Von hier aus sah es weit kleiner und weniger beeindruckend aus als von außen. In Wahrheit war es weniger ein Fort, sondern bestand eigentlich nur aus vier Steinmauern, die hastig zusammengemörtelt worden waren und ein Viereck bildeten, das etwa zehn mal zehn Meter maß. Die Mauern selbst waren kaum höher als vier Meter, aber da sie auf dem Gipfel dieses felsigen Hügels lagen, wirkten sie auf jeden, der einen Angriff von außen versuchte, sehr einschüchternd.
Verfallene Holzschuppen säumten die inneren Mauern. Sie dienten als Quartiere und Lagerräume. In einer Ecke befand sich eine rußige Feuerstelle. Wohin auch immer Konowa blickte, lagen Vorräte. Aus gewaltsam geöffneten Kisten quoll Packstroh, überall lagen zerbrochene irdene Krüge, aufgeschlitzte Jutesäcke und Holzfässer, deren Dauben zertrümmert waren. Die Elfen, die hier stationiert gewesen waren, hatten ganz offensichtlich alles mitgenommen, was sie tragen konnten, und sich bemüht, den Rest zu zerstören. Dann waren sie geflüchtet. Nach der Menge der Vorräte zu urteilen, die immer noch hier herumlagen, war es ganz offensichtlich, dass die Hasshugeb-Krieger den Platz bisher noch nicht geplündert hatten. Konowa vermutete, dass in diesem Fall nicht einmal mehr ein Nagel zurückgeblieben wäre.
Er sah Yimt an. »Hast du jemanden gefunden?«
»Hier ist es so ruhig wie in einem Grab«, erwiderte Yimt, »was du ja wahrscheinlich schon selbst gesehen hast.« Er deutete mit einem Daumen auf den Gang, aus dem sie gekommen waren.
Konowa nickte. Der Schock, zuerst seinen Vater und jetzt Yimt lebendig wiederzusehen, legte sich allmählich, und sein Verstand setzte wieder ein. »Visyna? Wo ist sie? Und der Rest von deiner Abteilung? Meine Mutter? Jir?«
»Alle lebten noch, als ich sie das letzte Mal gesehen habe«, erklärte Yimt.
Konowa war froh, dass die Soldaten hinter ihm standen. Ihm traten Tränen in die Augen. Visyna war am Leben. Ihm fiel wieder ein, wie sie sich das erste Mal in den Wäldern von Elfkyna getroffen hatten. Sie hatte zwar versucht, ihm mit ihrem Messer die Eingeweide herauszuschneiden, aber trotzdem dachte er gern an diese Begegnung zurück. Visyna war reinstes Feuer, aber es war ein Feuer von der Art, das seinen Geist härtete, bei dem er sich stark fühlte.
Er hustete, damit er sich die Augen wischen konnte, ohne dass es jemandem auffiel.
Yimt wartete, bis Konowa ihm bedeutete, dass er wieder in Ordnung war, dann trat er gewichtig vor, nahm Haltung an und salutierte. Das war nicht leicht für ihn, und er verzog das Gesicht, als er den rechten Arm hob. »Regimentssergeant Yimt Arkhorn bittet um Erlaubnis, zur Truppe zurückkehren zu dürfen, Sir!«
Konowa erwiderte den Gruß und streckte seine Hand aus. Yimt wirkte einen Moment überrascht, doch dann lächelte er, nahm die Hand und schüttelte sie. Der Griff des Zwergs war fest und stark. Erleichterung durchströmte Konowa. Er hatte das stählerne Rückgrat des Regiments wieder.
»Wir müssen uns unter vier Augen unterhalten, Major«, meinte Yimt dann. Er sprach so leise, dass nur Konowa ihn hören konnte.
Konowa drehte sich zu den Soldaten herum. »Korporal Feylan.«
Feylan stand stramm, während er sich bemühte, das breite Grinsen von seinem Gesicht fernzuhalten. Die anderen Soldaten merkten auf, als sie Feylans neuen Rang zur Kenntnis nahmen. »Postiere Männer am Haupttor und sieh zu, ob du das Regiment sehen kannst. Und der Rest soll alle Vorräte zusammensammeln, die hier noch zu finden sind, und sie am Tor lagern.« Konowa senkte die Stimme, während er weitersprach. »Und versuche, meinen Vater von da oben herunterzulocken.«
»Nimm ein paar Kiesel in die Hand und schüttle sie, dass sie klappern«, sagte Yimt zu Feylan. »Klingt zwar verrückt, doch es funktioniert. Aber sorg dafür, dass du irgendetwas parat hast, womit du ihn füttern kannst, sonst neigt er dazu, dich zu beißen.«
»Jawohl, Regimentssergeant«, erwiderte Feylan. »Ich kommandiere einen der Jungs dafür ab.« Er salutierte, drehte sich auf dem Absatz herum und blaffte Befehle. Die Soldaten machten sich hastig an ihre Aufgaben.
»Schlaues Bürschchen, dieser Feylan«, bemerkte Yimt. »Er hat schon raus, dass er bestimmte Aufgaben delegieren muss.«
»Er will zur Marine gehen, kannst du das glauben?«, meinte Konowa.
»Stein und Bein, ist er denn zum Idioten geworden? Auf einem Schiff wäre sein Talent verschwendet«, erklärte Yimt, dessen Wangen sich röteten. »Kaum verlasse ich das Regiment ein paar Tage, schon verlieren die Jungs die Übersicht. Gut, dass ich wieder da bin.« Yimt fuhr mit einem Stiefel durch den Schnee, dann blickte er hoch in Konowas Augen. »Wie geht es ihm?«
Konowa hatte gehofft, Yimt würde nicht nach Renwar fragen, aber er konnte ihm die Wahrheit nicht vorenthalten. Er wusste, dass die Zeit knapp war, aber er nahm sie sich trotzdem, um den Zwerg über die jüngsten Ereignisse auf den neuesten Stand zu bringen. Yimt riss die Augen auf, als er den Knochendrachen beschrieb und dann von den marschierenden und fliegenden Sarka Har berichtete. Als Konowa jedoch Renwars Verwandlung schilderte, ließ er den Kopf hängen.
»Es tut mir leid, Yimt«, sagte Konowa, der sich mit dem Zwerg weit mehr als nur wie ein Offizier mit seinem Regimentssergeanten verbunden fühlte. »Rallie glaubt, dass noch Hoffnung für ihn besteht, und ich hoffe sehr, dass sie recht hat. Aber er gleitet immer weiter in diese andere Welt hinüber.«
Yimt hob den Kopf. Seine Miene verriet nichts, aber Konowa kannte den Schmerz, den er empfinden musste.
»Er war einfach nicht für das Leben als Soldat gemacht. Sicher, auf seine Weise ist er zäh genug, auf eine Art, wie ich es nie sein könnte, aber ein Bursche wie er verdient mehr, finde ich.«
Konowa legte eine Hand auf Yimts Schulter. »Das tun wir alle. Und vielleicht, mit etwas Geschick, einem Haufen Dusel und einem wie dir, der den Truppen in den Hintern tritt und ab und zu herumbrüllt, werden wir anderen es vielleicht ebenfalls schaffen.«
Yimt lächelte, dass seine zinnfarbenen Zähne glänzten. »Das gefällt mir, Major. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, zwei zappelige Elfen durch die Wüste zu führen, ist nicht damit vergleichbar, bei einem richtigen Regiment zu dienen. Freilich sehe ich hier keins, also müssen die Stählernen Elfen, wie ich fürchte, genügen.«
Konowa gelang es, weiterhin zu lächeln, als er Pimmer erblickte, der auf sie zukam. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Regimentssergeant«, sagte der Diplomat und reichte ihm die Hand. »Ich habe in der kurzen Zeit, die ich beim Regiment bin, viele Geschichten über Sie gehört, und wenn auch nur die Hälfte davon wahr ist, dann brenne ich förmlich darauf, ein paar mehr zu hören.«
Yimt schüttelte die Hand des Vizekönigs und ignorierte den schwarzen Frost, der glitzerte, als sich ihre Haut berührte. »Ist mir gleichfalls eine Ehre, dich zu treffen, Vizekönig. Man stolpert nicht jeden Tag über einen Diplomaten in einem Spähtrupp«, meinte Yimt und warf Konowa einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Und dazu noch einen gut bewaffneten.«
Pimmer strahlte und zuckte gleichzeitig zusammen, während er vorsichtig seine Hand zurückzog und dann die Pistole tätschelte, die in dem Ledergürtel steckte, der die diversen Schichten von Umhängen zusammenhielt. »Na ja, hier draußen ist es nicht gerade besonders sicher. Man weiß nie, hinter welchem Busch die Gefahr lauert. Ich halte es für das Beste, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.« Er sah zu Konowa hinüber und fuhr hastig fort: »Außerdem hat mir der Major einen Schnellkurs in Militärtaktik erteilt. Das alles ist ausgesprochen faszinierend.«
Bevor das Gespräch noch weiter ausufern konnte, mischte sich Konowa ein. »Was ist mit dir und den anderen passiert? Und wie um alles in der Welt hast du meinen Vater und Tyul gefunden?«
Yimt humpelte zu einer leeren Kiste. »Entschuldigung, Sir, bin noch nicht ganz auf der Höhe im Moment, aber nach einer kleinen Atempause bin ich wieder voll einsatzbereit.« Der Zwerg ließ sich auf die Kiste fallen, die zwar protestierend stöhnte, aber nicht unter ihm zusammenbrach. »Dein Vater und Tyul haben mir den Hintern gerettet. Diese Bestien, damit meine ich die Rakkes, hatten mich umzingelt, und ich muss zugeben, dass ich bereits anfing, mir leichte Sorgen zu machen. Aber dein Vater und Tyul haben diese Monster in Streifen geschnitten, fast so wie Zwiebeln. Natürlich ist keiner der beiden noch ganz richtig im Oberstübchen. Ich dachte erst, der Jüngere wollte mich erledigen, aber stattdessen hat er mir einen Felsbrocken einfach aus der Hand geschossen. Er mag vollkommen durchgeknallt sein, aber schießen kann der Junge …!«
Konowa blickte zu Tyul hinüber. Der Elf saß mitten im Hof und schien zu meditieren. Vielleicht schlief er auch. »Mein Vater hat also nichts gesagt?«
»Jedenfalls nichts, woraus ich hätte schlau werden können. Ab und zu fängt er an zu keckern. Zuerst dachte ich, es wäre Elfisch, aber ich glaube, es ist Eichhörnchenisch. Trotzdem, dass er zumindest äußerlich kein Eichhörnchen mehr ist, muss irgendwie auch ein gutes Zeichen sein. Und außerdem trägt er jetzt wieder Kleidung.«
Konowa schloss sich dieser Einschätzung an, nämlich dass es eine Verbesserung war. Er hatte seinen Vater wieder zurück, jedenfalls zum Teil. Der alte Elf war zäh. Wenn er es bis hierher geschafft hatte, würde er auch den Rest des Weges nach Hause alleine bewältigen können.
»Also dann … Was ist mit dir passiert?«
Yimt deutete auf das Loch in seiner Uniform über seiner Brust. »Mit freundlichen Grüßen von dieser hinterlistigen, feigen Schlange namens Kritton!« Er spie die Worte förmlich aus.
Konowa starrte immer noch auf die vom Frostfeuer verbrannte Narbe, die durch das Loch in der Uniform zu sehen war, als Yimts Worte in sein Bewusstsein sickerten.
»Kritton? Er ist hier?«, erkundigte Konowa sich ungläubig. »Wie kann das sein?«
»Ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, wie es ihm zurzeit geht, aber das Warum kann ich dir erklären.« Yimt schilderte die Szene in der Bibliothek. »Diese Mistkerle haben diese Höhle geplündert wie Ratten einen Käseladen. Sie haben mehr Tand, Trödel und Artefakte auf Karren geladen, als man zählen kann. Aber selbst das wäre noch entschuldbar«, fuhr Yimt fort und zeigte damit, dass er das Recht des Soldaten, sich im Verlauf einer ordentlichen Schlacht ein paar Gegenstände zu greifen, ziemlich großzügig auslegte, »wenn Kritton den Leuten nicht den Floh ins Ohr gesetzt hätte, dass sie unbedingt Rache nehmen müssten. Er hat ihnen wirklich das Hirn von innen nach außen gekehrt. Jeder von ihnen hätte diesem Elf eine Musketenkugel in den Schädel feuern können und wäre ein Held gewesen, aber keiner hat auch nur die geringsten Anstalten dazu gemacht. Und dann hat mich dieser heimtückische Mistkerl von einem Elf erschossen.«
Konowa schloss einen Moment die Augen, dann öffnete er sie wieder und sah an Yimt vorbei. »Wir haben die verstümmelten Leichen der Rakkes gefunden. Ich habe viele dieser Schnitte erkannt. Wir haben im Hyntaland gelernt, auf diese Weise Wild zu häuten. Kritton ist reines Gift, aber sie hätten sein Gebräu nicht schlucken müssen. Sie haben ihre Wahl getroffen. Doch darüber kann ich mir jetzt keine Gedanken machen. Das Regiment steht direkt draußen vor dem Fort.«
»Aber wie um alles in der Welt konnten Sie einen Musketenschuss aus nächster Nähe überleben?«, wollte Pimmer wissen. »Haben Sie so etwas wie eine Rüstung unter Ihrer Uniform getragen?«
Yimt lächelte und zeigte dabei seine zinnfarbenen Zähne. »Sozusagen. Der Brustkorb eines Zwergs ist wie Eisen; zum Teil bestehen unsere Knochen sogar tatsächlich aus Eisen. Das liegt an dem Crute, den wir ständig kauen. Hätte er mir in den Bauch geschossen, wäre das eine ganz andere Geschichte gewesen, aber zu meinem Glück hat der Mistkerl direkt auf mein Herz gezielt.«
»Unglaublich. Du steckst wirklich voller Überraschungen, mein Freund. Hast du eine Ahnung, wohin sie wollten?«, erkundigte sich Konowa.
Yimt kratzte sich den Bart. »Ich glaube, sie versuchen nach Hause zu kommen.«
»Diese Gänge führen nie im Leben bis zur Küste. Irgendwo müssen sie wieder an die Oberfläche kommen …«
Konowa sah sich um. »Vizekönig, gibt es irgendeinen Hinweis auf Ihrer Karte, dass es noch andere Geheimgänge zu diesem Ort hier gibt?«
Pimmer drehte eine andere leere Kiste um, kniete sich unter größeren Schwierigkeiten hin und bereitete die Karte darauf aus. Dann hielt er Konowa die Sturmlaterne hin, die der packte und über die Karte hielt.
»Ich habe diese Karte bereits eine Weile studiert, aber ich fürchte, dass ich keinen Tunnel erkennen kann, der in das Fort führt.«
»Was ist das für ein Gekritzel da drüben?«, fragte Yimt und deutete mit einem Finger auf eine kleine Felsformation außerhalb des Forts, etwa hundert Meter von dessen Südseite entfernt.
Pimmer beugte sich über die Karte und sah genauer hin. »Das ist nur die Latrine. Auf Birsooni heißt das ›Ein Loch aus dunkler Erde‹, was ich als ›Mitternachtserde‹ übersetzt habe, das, wie wir alle wissen, Sch…«
Konowa hustete. »Sie würden niemals eine Latrine so weit außerhalb des Forts bauen. Könnte es auch eine Tunnelöffnung bezeichnen? Ohne Licht würde da unten alles dunkel aussehen.«
»Aber warum so weit da draußen? Warum sollte man den Gang nicht direkt im Fort enden lassen?«
»Möglicherweise aus geologischen Gründen«, meinte Yimt. »Vielleicht war es zu schwierig, einen Tunnel durch diese Steine zu graben. Hier sieht alles so aus, als wäre es sehr schnell errichtet worden, ohne dass ein ausgebildeter Steinmetz auf die Einzelheiten geachtet hätte.«
»Was auch immer der Grund ist, es könnte ein Tunnel sein«, meinte Konowa. »Und wenn es einer ist, müssen wir ihn untersuchen.«
Pimmer rieb sich das Kinn, als würde er sich die nächsten Worte sehr sorgfältig überlegen. »Ich will ja kein Spielverderber sein, aber würde das nicht viel Zeit kosten? Zeit, die wir nicht haben?«
Das musst ausgerechnet du sagen! »Dann nehmen wir uns die Zeit eben«, antwortete Konowa und sorgte dafür, dass sein Ton keinen Widerspruch duldete. »Regimentssergeant, wenn das Regiment ankommt, will ich, dass dieser Felshaufen dort durchsucht wird. Wenn es ein Tunneleingang ist, will ich wissen, was sich da unten befindet. Vizekönig, sehen Sie sich die Karte noch einmal ganz genau an. Sollte es noch andere Merkwürdigkeiten geben, die einen Tunnel oder ein Loch oder so etwas bezeichnen könnten, will ich das sofort wissen.« Er redete schneller, als er eigentlich beabsichtigt hatte, aber es kümmerte ihn nicht. Visyna und Kritton waren beide am Leben, und sie waren irgendwo in der Nähe. Er wusste es. Und er würde sie finden.
»Das wirft allerdings ein ganz neues Licht auf die Dinge«, meinte Pimmer, stand auf und begann, mit der Karte direkt vor seinem Gesicht herumzulaufen. Konowa sah zu, wie er zu der Stelle ging, wo Tyul saß, und sich vor ihm auf den Boden setzte. Er breitete die Karte zwischen ihnen aus, schützte sie mit einem Teil seiner Umhänge vor dem Schnee und begann zu reden. Der Elf ignorierte ihn, was Pimmer aber irgendwie nicht zu bemerken schien.
Konowa drehte sich zu Yimt um, der fragend zu ihm hochblickte.
»Was ist?«
»Nichts weiter, Major. Nur, als ich dich das letzte Mal so fröhlich erlebt habe, hast du irgendetwas umgebracht«, erklärte Yimt.
Werde ich verrückt?, dachte Konowa. Er war gerade durch ein Feld voller Schrecken marschiert; war das hier seine Reaktion darauf? Aber das war nicht der Grund. Er bemühte sich, die Gefühle zu verstehen, die in ihm brodelten. Es ging um … Gleichgewicht. Sein ganzes Leben lang war er wütend gewesen und hatte geglaubt, dass er eines Tages Frieden finden würde und sich endlich mit der Welt und seinem Platz darin abfinden könnte. Aber er hatte das alles vollkommen missverstanden. Seine Wut hatte ihm zwar viel Schwierigkeiten gemacht, aber sie hatte ihm auch ein Ziel gegeben. Wenn er sie verlor, würde ihm das etwas sehr Wichtiges wegnehmen. Er brauchte seine Wut, aber er brauchte auch mehr. Er musste Teil von etwas sein. Für eine sehr lange Zeit hatte das Regiment diese Funktion erfüllt. Es war seine Familie gewesen. Die Zeit im Wald während seiner Verbannung war die reinste Hölle gewesen. Er begriff, dass er trotz seiner äußeren Tollkühnheit gar nicht so anders war als alle anderen. Er wollte ein Teil von etwas sein, das mehr war als er selbst. Und vielleicht konnte er das mit Visyna bewerkstelligen. Sicher wusste er nur, dass die Zeit kommen würde, wo er gewisse Entscheidungen treffen musste. Dauerhafte, unwiderrufliche Entscheidungen.
Konowa sah Yimt an und beschloss, dass er es riskieren konnte, ein wenig von dem zu enthüllen, was in ihm vorging. »Wie nennst du das, wenn du plötzlich etwas begreifst, das deinem ganzen Leben einen Sinn verleiht? Als würde etwas sichtbar werden, nachdem ein Nebel sich verflüchtigt hat?«
Yimt schnippte mit den Fingern. »Du, Major, hast gerade das erlebt, was man wissenschaftlich eine Er-leuch-tung nennt. Ist nach irgend so einem Kerl von früher benannt. Das bedeutet, dass man unvermittelt etwas versteht. Als wenn man nach einer Nacht in der Kaserne aufwacht und eine Minute lang nicht weiß, warum das Bett nass und klumpig ist und dein Bart stinkt wie das falsche Ende einer Ziege, was nicht heißen soll, dass eine Ziege ein richtiges Ende hätte, und man sich dann plötzlich an die Ehefrau erinnert, die einen mit einer Streitaxt aus dem Haus gejagt und angebrüllt hat, dass man ja nicht zurückkommen sollte, bis man wieder nüchtern ist.«
»Ah, das klingt … nachvollziehbar«, antwortete Konowa, der überrascht feststellte, dass er tatsächlich eine Ahnung von dem hatte, was der Zwerg meinte, wenn er nicht sogar die ganze Bedeutung dessen begriffen hatte. »Ich werde das wahrscheinlich bedauern, aber … eine Ziege?«
»Wie sich herausstellte, bin ich in den Laden des örtlichen Käsehändlers gestolpert, der ein paar Häuser weiter an der Straße lag, und hab einen Tisch mit geronnenem Käse als Bett auserkoren. Es endete damit, dass ich fünfundsiebzig Pfund eines ziemlich kräftigen Cheddar kaufen musste. Zu meinem Glück hatte die Frau ein paar Pflaumen in Reserve, weil ich, nachdem ich zwei Wochen nur Käse gegessen habe …« Was immer Yimt noch sagen wollte, wurde glücklicherweise von einem Schrei am Tor unterbrochen.
»Major, Sie sollten besser herkommen und sich das ansehen!«
Noch bevor Konowa das Haupttor erreicht hatte, wusste er, dass es Schwierigkeiten geben würde. Er rannte die letzten paar Meter und kam bei den Soldaten, die Wache hielten, zum Stehen. Sie alle deuteten hinaus in die Wüste.
»Rakkes, Sir, Hunderte und Aberhunderte dieser Mistviecher! Sie kommen von überall her!«
Das Frösteln, das Konowa über den Rücken lief, hatte nichts mit der schwarzen Eichel zu tun. Das Regiment hatte den Fuß des Hügels noch nicht erreicht, die Rakkes aber wohl.
»Sie sind wie aus dem Nichts aufgetaucht, Major. Gerade noch war alles ruhig, und in der nächsten Minute waren sie überall.«
Konowas Hand verkrampfte sich um den Rand des hölzernen Tores. Die schneebedeckte Wüstenebene unter dem Hügel war von Hunderten von Rakkes übersät. Sie sprangen aus allen Richtungen durch den Schnee und strebten zielstrebig auf das Regiment zu, das jetzt mehrere hundert Meter vom Beginn des Weges entfernt in der Wüste gestrandet war, der zum Tor hinaufführte. Und tief im Herzen der wogenden, dunklen Masse von Rakkes wirbelte ein Strudel aus schwarzem Licht. Bilder einer gekrümmten, verstümmelten Gestalt tauchten in seiner Mitte auf. Die Rakkes hielten sich von dieser wirbelnden Finsternis fern. Konowa fluchte leise.
»Was ist das da für ein Ding?«, erkundigte sich Korporal Feylan und deutete mit seiner Muskete darauf.
»Ein Vizekönig zu viel«, erwiderte Konowa. Korporal Feylan legte seine Muskete an, um darauf zu feuern.
Konowa streckte die Hand aus und drückte den Lauf der Waffe sanft nach unten. »Das sind mindestens eintausend Meter. Du würdest dieses Ding nicht einmal treffen, wenn du diesen Schuss einen ganzen Monat lang geübt hättest. Und außerdem bezweifle ich, dass eine Musketenkugel diesen Strudel überhaupt durchdringen kann.«
Feylan schien es zunächst trotzdem versuchen zu wollen, setzte dann aber die Muskete ab. »Wir können nicht einfach hier herumstehen, Sir. Wir müssen etwas unternehmen. Das Regiment marschiert mitten in eine tödliche Falle. Sie werden in Fetzen gerissen werden.«
»Immer mit der Ruhe, Feylan, du denkst nicht nach. Erstens sind wir hier oben nur eine Handvoll Leute, die kaum etwas bewerkstelligen können, deshalb würde ich im Augenblick nur sehr ungern die Aufmerksamkeit auf uns lenken.«
Feylan hob seine Muskete erneut. »Aber genau darum geht es doch, Major. Wenn wir ihre Aufmerksamkeit erregen, hat das Regiment eine Chance.«
Konowa packte Feylan am Kragen und schob ihn nach vorne, ein Stück an dem Haupttor vorbei. »Was siehst du da unten überall auf den Felsen liegen?«
»Noch mehr tote Rakkes.«
»Aber sie sind nicht einfach nur tot, hab ich recht? Sie wurden gefoltert. Ihre Leichen wurden verstümmelt und zur Schau gestellt. Wen, glaubst du, werden alle diese Rakkes, die gerade hier aufgetaucht sind, für den Schuldigen halten?«
»Die Personen, die hier oben im Fort …« Feylans Stimme verebbte.
»Ganz genau.« Konowa ließ den Kragen des Soldaten los und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir sind hier oben relativ sicher, solange wir nichts Dummes tun. Und selbst wenn die Rakkes den Hügel heraufklettern, wird es ihnen verdammt schwerfallen, in die Festung zu kommen. Dieses Fort ist zwar nicht gewaltig, aber es liegt auf einem Haufen verdammt steiler Felsen, und das zählt eine Menge.« Er legte seine Hand auf Feylans Schulter und drückte sie. »Manchmal, mein Junge, ist das Klügste, was man tun kann, gar nichts zu tun.«
»Aber … wollen Sie damit sagen, wir hocken hier einfach untätig herum und sehen zu?«
Konowa deutete hinab zur Wüste. Schwarzer Frost bildete sich in gezackten Klingen vor den heranströmenden Rakkes. Eisige Flammen loderten vom Boden hoch und erloschen flackernd. An ihrer Stelle standen plötzlich die Schatten der Toten des Regiments. Die todbringenden Reste von Regimentssergeant Lorian saßen auf dem großen, schwarzen Schlachtross Zwindarra. Konowa schüttelte sich unwillkürlich. »Wir lassen die Finsteren Verstorbenen tun, was sie am besten können.«
Lorian griff an, beugte sich tief über Zwindarras dicken Hals. Das Ross glitt mehr durch den Schnee, als dass es galoppierte, und krachte in drei Rakkes. Verschwommene Bilder von zischenden Hufen und Lorians geisterhaftem Säbel zuckten zwischen den Rakkes hin und her, und das Blut ergoss sich in Strömen auf den Schnee.
Die anderen Schatten folgten dem Beispiel ihres Regimentssergeanten und schlugen sich mit wilder Rücksichtslosigkeit durch die Rakkes. Konowa konnte sich nicht erinnern, so etwas schon einmal gesehen zu haben. Ohne Zweifel hatte etwas oder jemand sie heftig angespornt.
»Major, auf ein Wort?«
Konowa drehte sich herum. Pimmer stand hinter ihm, die Pistole in der einen und ein in braunes Leder gewickeltes Teleskop in der anderen Hand. Die Karte der Birsooni steckte sauber gefaltet in seinem Gürtel, und seine kleine Messingsturmlaterne hing jetzt an einem dicken Strick um seine rechte Schulter. In seinen diversen Hasshugeb-Umhängen wirkte der Vizekönig wirklich wie ein Wüstenkrieger.
»Sie hatten recht«, erklärte Pimmer.
»Womit?«, fragte Konowa. Er hatte eigentlich wirklich keine Zeit für so etwas, aber als er »Sie hatten recht« hörte, gewährte ihm das zumindest eine kleine Atempause. Es kam nicht oft vor, dass Konowa diese magischen Worte hörte.
»Die Karte. Wie sich herausgestellt hat, bedeutet dieser Eintrag tatsächlich Tunnel, nicht Loch. Ich glaube, Sie sollten sich das mal ansehen.« Er reichte Konowa das Teleskop und deutete auf die Leiter, die zu den südlichen Zinnen hinaufführte.
»Das ist gut zu wissen, aber eine Besichtigung muss für den Augenblick noch etwas warten«, sagte Konowa und drehte sich wieder zu der Schlacht auf dem Wüstenboden um. Zuerst glaubte er, dass Nebel aufgezogen wäre, doch dann wurde ihm klar, dass es der gefrierende Dunst des spritzenden Blutes war. Sein Magen verkrampfte sich. Der schwarze Wirbel bewegte sich weiter vorwärts, aber bis jetzt machte er keinerlei Anzeichen, dass er sich in den Kampf einmischen wollte. Das machte Konowa Sorgen. Dann legte sich eine Hand auf seinen Arm, und als er herumwirbelte, sah er in das ernste Gesicht des Vizekönigs. »Ich fürchte, ich habe mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich weiß, dass es ein Tunnel ist, denn während wir beide hier gerade angeregt plaudern, kommen dort Leute heraus.«
Konowa riss dem Vizekönig das Fernrohr aus der Hand und rannte über den Hof. »Behaltet diesen missgestalteten Emissär im Auge, aber unternehmt nichts. Ich bin gleich wieder da!«, schrie er über die Schulter zurück. Am Fuß der Leiter kam er rutschend zum Stehen und raste sie hinauf, fast ohne die Sprossen zu berühren. Dann sprang er auf die Holzplanken des Wehrganges, der sich an der Wand befand. Sie wackelten alarmierend, aber er achtete kaum darauf, als er zu der Stelle rannte, wo sich Soldat Meswiz an der Spitze der Zinnen festhielt. Der Soldat deutete zur Wüste hinab.
»Sie sind wie Karnickel aus ihrem Bau neben diesen Felshaufen aufgetaucht. Zuerst dachte ich, ich hätte Halluzinationen, aber sie sind wirklich da.«
Konowa spähte in die Nacht hinaus. »Bist du sicher? Vielleicht sind es nur umherstreifende Rakkes. Ich kann kaum etwas erkennen.«
»Ich weiß, dass ich Leute mit Musketen gesehen habe, Sir. Das heißt, ich bin mir ziemlich sicher, dass es Leute mit Musketen waren.«
Konowa richtete das Fernrohr dorthin, wohin der Soldat zeigte. Alles war schwarz.
»Was ist los mit dem Ding?«
»Die Abdeckung auf der Linse …«, sagte Soldat Meswiz.
»Verdammt!«, murmelte Konowa, riss die Abdeckung herunter und richtete das Teleskop erneut aus. Er bemühte sich, die entsprechende Stelle wiederzufinden. »Ich kann nichts sehen … Moment mal, da sind irgendwelche Gestalten.« Irgendetwas an dem kommt mir bekannt vor … Er drehte die größere der beiden Röhren, um das Bild schärfer zu stellen.
Dann ließ er das Teleskop sinken.
Kritton.