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DIE WIRBELNDE MASSE, die einst ihr Emissär gewesen war, zerfetzte sich in noch winzigere Stücke und verstreute ihre Wut und ihren Einfluss unter den Schatten der toten Rakkes. Alwyn hatte erwartet, gegen die Kreatur kämpfen zu müssen, wie er es vor der Schlucht getan hatte, doch jetzt begriff er, dass dies unmöglich war. Sie hatte sich auf einen brennenden, schwarzen Kern aus Hass reduziert, der kaum größer war als Alwyns Faust, aber um sie herum wirbelte ein ständig wachsender Mahlstrom von schattenhaftem Tod, und jedes Element davon war ein furchteinflößendes Partikel von dem, was Faltinald Gwyn geworden war.

Schlimmer noch, der Riss, der in das Reich der Toten führte, weitete sich aus, und die manische Wut des Wesens zog immer mehr und größere Monster in diese Welt. Alwyn beugte sich vor und schob die Mauer aus Frostfeuer, die ihn umgab, in den Weg dieses kreischenden Strudels. Der Schmerz in seinem Stumpf flammte auf und ließ ihn zusammenzucken. Tränen traten ihm in die Augen. Sein Holzbein knarrte vor Anstrengung, und die vielfach miteinander verwobenen Sehnen des Holzes splitterten, als er durch den magischen Sturm ging.

Der Sturm reagierte wütend auf seine Präsenz, und ein heulender Wind peitsche auf Alwyn ein, während er den Abstand zu dem wirbelnden Kern verringerte. Schreie der Lebenden und Toten mischten sich zu einem chaotischen Donnern. Alwyn versuchte Luft zu holen, aber sobald er den Mund öffnete, spürte er, wie sich Eis auf seiner Zunge bildete. Die Kälte bohrte sich in ihn wie metallene Gabeln, die sich drehten und in seine Haut stachen, während ihn jeder Schritt näher zu dem Wesen brachte.

»Ich bin jetzt der Herr!«, kreischte das Wesen und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Alwyn.

»Warum fürchtest du mich dann?«, erwiderte Alwyn, der sich zu seiner ganzen Größe aufrichtete und den pulsierenden schwarzen Kern mit seinen grauen Augen fixierte. Er hatte seine volle Aufmerksamkeit, was bedeutete, die anderen hatten eine Chance. Der Gedanke wirkte merkwürdig tröstend. Die anderen waren immer noch wichtig, und er wusste, dass er ihnen ebenfalls noch etwas bedeutete.

Er trat vor, tastete sich mit seinem Holzbein voran. Das Holz splitterte und knackte, als es von dem Sturm malträtiert wurde. Schwarzer Frost kristallisierte auf dem Holz und löschte die letzte Spur der ganzheitlichen Macht aus, die dort einst von Mistress Rote Eule und Mistress Tekoy hinterlassen worden war. Sei dem, wie es war. Nachdem er das Holz in schützendes schwarzes Eis gehüllt hatte, beugte er sich vor und ging weiter durch den Sturm.

Er hatte Schmerz erwartet, und seine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Es war eine neue Art von Qual, so als würden Tausende von Messern seine Haut ritzen und dabei immer nur einen hauchdünnen Streifen abschälen. Aber es war nicht der Schmerz, der ihm wehtat. Teile von dem, was er war, woran er glaubte und wonach ihn verlangte, wurden zerfetzt und von diesem alles zermahlenden, heulenden Wind davongetragen.

Er schnappte flüchtige Visionen von Gedanken auf, die einst zu dem Ding im Zentrum des Sturms gehört hatten. Schmerz, Entsetzen, Elend und Tod dominierten, aber es gab auch andere, freundlichere Gedanken. Er sah eine wunderschöne, mit Juwelen geschmückte Karte und einen kostbar geschnitzten Tisch, der aussah wie ein Drache. Alwyn begann, den Sturm zu durchsieben, während er weiter auf sein Zentrum zuschritt, und sammelte so viele Stücke ein, wie er konnte, so klein sie auch sein mochten, sofern sie Freude und Hoffnung enthielten. Er ließ seine eigenen Ängste und seine Wut vom Winde verwehen, während er sie gleichzeitig, so gut er konnte, durch Bruchstücke von Güte ersetzte, die er fand. Die Aufgabe war sehr schwierig, aber er musste sich nur noch ein kleines bisschen länger am Leben erhalten. Denn der kochende Kern war bereits sehr nahe.

Hier, in der Nähe des Zentrums, wirbelte der Sturm langsamer, aber der Irrsinn wurde größer und erschwerte es Alwyn, sich zu konzentrieren. Wahnsinniges Gelächter erfüllte seine Lungen. Bin ich das? Werde ich zu so etwas?

Er blieb einen Meter vor dem schwarzen Kern stehen. Er hing direkt vor seinen Augen in der Luft, eine unendliche Schwärze, die so irrsinnig war, dass sie permanent zerbarst und sich unter dem Druck ihrer eigenen Verrücktheit neu erschuf. Er versuchte sich daran zu erinnern, warum er gekommen war, aber es gelang ihm nicht. Die Schwärze wurde größer, und sein Verständnis von dieser Welt und der nächsten wurde verschwommen. Er schüttelte sich, als sein Körper und sein Wesen sich allmählich in dem Sturm auflösten. Der Stoff seiner Uniform schmolz dahin, bis er nackt und ungeschützt dastand.

Etwas Kleines, Weißes flog vorbei, gerade am Rand seines Blickfeldes. Es kam erneut vorbei und prallte gegen seinen Arm. Er spürte, wie ein heißes Feuer in ihm loderte und sich Hitze von dem Punkt, wo es aufgeschlagen war, ausdehnte. Während es sich ausbreitete, veränderte es Renwars Gestalt, und er wusste wieder, wer und was er war. Er sah an sich herunter und bemerkte Rallies Federkiel, der aus seinem Arm herausragte, mitten in der Eicheltätowierung: Aeri Mekah … ins Feuer.

Er lächelte und blickte zu dem schwarzen Kern vor ihm.

»Dein Schmerz ist zu Ende«, sagte er, streckte beide Hände aus und umfasste die Schwärze.

Die Wut des Sturms stach in seine Haut, der Wind kreischte, und die Luft schien zu zerbersten, als der Wahnsinn, aus dem Faltinald Gwyn ausschließlich bestand, begann zusammenzubrechen. Alwyn drückte zu, zerquetschte Zeit und Raum zu einem immer kleiner werdenden Punkt von nichts. Alles, was Alwyn jemals gekannt und geliebt hatte, wurde ihm entrissen, als seine Energie sich ausschließlich darauf fokussierte, das Wesen zu vernichten und den Riss zu schließen. Klauen und Reißzähne schlugen und schnappten nach ihm, verletzten ihn, rissen Fleisch, Knochen und Erinnerungen von ihm weg. Pechschwarze Flammen von Frostfeuer veräzten und heilten die Wunden, ersetzten Fleisch und Blut durch eisige Flammen.

Tränen liefen ihm über das Gesicht und bildeten Eiszapfen auf seinen Wangen. Er schloss die Augen und drückte fester zu, nahm dem Wesen den Schmerz, fügte seinen eigenen hinzu und schuf so eine Wand in dem Riss zwischen dieser Welt und der nächsten. Alles Tote wurde von dem Wirbelwind erfasst, als Alwyn all seine Macht konzentrierte. Die Monster wurden zerfetzt und flogen in die Schwärze hinein, gefolgt von den Schatten der Rakkes. Aber trotzdem wurde der Mahlstrom nicht schwächer.

Er rutschte weg, als die Zweige seines Holzbeins brachen. Er sank auf ein Knie, und sein Griff um das Wesen löste sich. Die Mauer bekam Risse, und die Toten auf der anderen Seite sahen die Gelegenheit, sich erneut zu befreien.

»Helft mir!«, schrie er, obwohl er nicht wusste, ob seine Stimme überhaupt laut genug war.

Schatten der Stählernen Elfen tauchten neben ihm auf. Er öffnete die Augen, als sie zur Wand traten, um sie zu stützen, aber selbst sie genügten nicht. Die Kreaturen dahinter spürten das, und der Sturm wirbelte noch schneller. Alwyn schrie auf und hätte losgelassen, doch in dem Moment drang eine Stimme aus weiter Ferne zu ihm.

»Tritt ihm in den Arsch, und bring die Sache zu Ende, Ally. Ich weiß verdammt genau, dass ich dir nie beigebracht habe, einfach aufzugeben!«

Yimt!

Alwyn drehte sich um und blinzelte sich die Tränen aus den Augen.

Der Zwerg stand am Rand des Sturms und sah Alwyn direkt an. Die Tränen in seinen Augen waren unübersehbar.

»Ich wusste vom ersten Moment an, als ich dich sah, dass ich eine Menge Arbeit damit haben würde, aus dir einen Soldaten zu machen«, sagte Yimt, »aber genauso wusste ich, dass es mir gelingen würde. Du willst mich doch nicht ausgerechnet jetzt eines Besseren belehren, oder doch?«

Alwyn lachte und weinte gleichzeitig. »Yimt! Du lebst!«

»Natürlich, was zum Teufel denn sonst? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich von irgendwelchen räudigen Rakkes unterkriegen lasse, oder?«

Plötzlich fand Alwyn die Stärke, die er brauchte. Er drückte noch einmal zu, mit aller Kraft, und diesmal konnte das Wesen nicht mehr widerstehen. Die Monster und die Schatten der Rakkes wurden tief in den Abgrund der fernen Vergangenheit geschleudert. Er saugte den Schmerz des Wesens auf und beraubte es damit seiner Macht.

»Ich … es gibt so viel, was ich dir sagen möchte!«, schrie Alwyn. Sein ganzes Wesen bestand aus Qualen, aber es gelang ihm trotzdem zu lächeln. Yimt lebte.

»Spar dir deinen Atem, Ally!«, schrie Yimt zurück. Seine Stimme brach, und er schluchzte. »Ich spreche für uns beide. Du bist der dürre, übermäßig empfindliche, weinerliche und gleichzeitig eisenharte und zähe Sohn, den ich nie hatte. Ich bin verdammt stolz auf dich.«

Während die Lebenskraft in seinen Händen in ihren letzten Zügen lag und flackerte, lächelte Alwyn. Er zerquetschte die letzten Partikel, die einst Faltinald Gwyn gewesen waren, und versiegelte den Riss zwischen den Welten. Der Sturm um ihn herum flaute ab, und als die Luft aufklarte, konnte er einen vollkommen ungehinderten Blick auf Yimt werfen. Der Zwerg hatte Haltung angenommen und grüßte Alwyn militärisch.

Alwyn erwiderte den Gruß, als der Schlitten, umhüllt von schwarzen Flammen, neben ihm rutschend zum Stehen kam. In dem Moment erreichte das Frostfeuer die Fässer mit Schwarzpulver, die explodierten und die Dunkelheit durch eine glühend weiße Sonne vertrieben, die heller strahlte als tausend Sterne.

 

Schnee blitzte auf und verpuffte. Alles wurde vollkommen weiß und dann schwarz, als die Nacht zu zerbersten schien. Eine zischende Welle aus kalter und heißer Luft spülte über Visyna hinweg und nahm ihr den Atem. Helle Farbflecken wirbelten vor ihren Augen, während Eisscherben im Frostfeuer knackten und zwischen glühend heißen, orangeroten Flammen zersplitterten. Einen Augenblick später ertönte das Dröhnen einer Explosion, und die Druckwelle in ihrem Gefolge fegte alles hinweg.

Es fühlte sich an, als hätte sich der Boden selbst erhoben und sie angesprungen, nicht, als wäre sie hingestürzt und aufgeschlagen. Abwechselnd fegten Wellen von eisiger Kälte und glühender Hitze über sie hinweg und wälzten sich in gewaltigen Wolken durch den Himmel. Visyna versuchte den Kopf zu heben, aber sie wurde sowohl durch ihre Erschöpfung als auch durch die Druckwelle der Explosion auf den Boden gepresst.

Unfähig zu atmen und zu schwach, sich zu rühren, wurde ihr Blickfeld grau; sie spürte, wie ihr ganzer Körper taub wurde. Nein, nicht so! Sie kämpfte gegen den Drang an, die Augen zu schließen und bewusstlos zu werden, zog die Arme an sich heran, bis sie sich auf ihre Ellbogen hochstemmen konnte. Mühsam, als läge sie in den Wehen, richtete sie ihren Körper in eine sitzende Position auf.

Sie hob einen Arm, um ihr Gesicht zu schützen, als sie nach vorn blickte, in dem Versuch, Konowa zu entdecken. Aber vor ihr waren so viel flackerndes Licht und Schatten, dass sie fast eine Minute brauchte, um den Punkt zu finden, an dem sie ihn zuletzt gesehen hatte. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie hoffte, seinen Körper auf dem Boden liegen zu sehen. Es klang pervers, noch während sie das dachte, aber es war vollkommen logisch. Wenn er tot war, wäre nichts mehr von ihm übrig, aber wenn er nur verletzt war, war er noch da.

Sie suchte den Schnee vor sich nach irgendeiner Spur von dem Körper des Elfen ab, den sie liebte. Sie fand ihn nur einen Moment später. Doch trotz des Grauens, das sie bisher schon gesehen hatte, war sie auf das, was sich ihren Augen darbot, nicht vorbereitet.