34
VISYNA STAND AUF der Backbordseite des Schiffes und hatte ihre Unterarme auf die Reling gestützt. Der Wind in ihrem Haar fühlte sich gut an, ebenso wie das Wissen, auf diesem Schiff zu sein, das schon bald diesen Ort verlassen würde. Sie winkte, als der Prinz, eskortiert von einem Regimentssoldaten, über die Pier marschierte, um an Bord der HMS Ormandy zu gehen, die ihn nach Calahr zurückbringen würde. Er verlangsamte seinen Schritt nicht, lüpfte aber seinen Tschako als Antwort.
»Unser zukünftiger König«, sagte Konowa, der neben sie an die Reling getreten war. Sie spürte das plötzliche Verlangen, näher an ihn zu rücken und sich in seine Arme zu schmiegen, aber das Frostfeuer machte es zu schwierig.
»Ein zukünftiger König«, sagte sie und drehte sich zu ihm herum. »Ich wünsche ihm alles Gute, aber die Zeit seines Imperiums ist vorbei. Mein Land ist frei.«
Konowa hob die Hände. »Du hast recht, entschuldige. Alte Gewohnheiten.«
»Wo wir gerade von alten Gewohnheiten sprechen: Kannst du diese Eichel nicht ablegen? In Elfkyna hast du das doch auch gemacht«, sagte sie und beobachtete aufmerksam sein Gesicht.
Er lächelte, setzte seinen Tschako ab und klemmte ihn zwischen die Beine. Dann griff er in seine Jacke, zog die Lederschnur hoch und über seinen Kopf, legte sie in seinen Tschako und stellte ihn auf das Deck des Schiffs. »Gib mir deine Hand«, sagte er und hielt ihr die seine hin.
Das tat sie, zog sie aber sofort wieder zurück, als schwarzes Frostfeuer zwischen ihren Fingerspitzen funkelte. »Das verstehe ich nicht, du hast die Eichel doch abgelegt.«
Konowa lächelte immer noch, aber sie sah die Traurigkeit in seinen Augen. Dann öffnete er die obersten vier Knöpfe seiner Jacke, zog die Revers zur Seite und schob das Unterhemd hoch. Ein schwarzer, eichelgroßer Fleck befand sich auf der Haut über seinem Herzen. »Das ist jetzt in mir. Der einzige Weg, wie ich diesen Schwur und ihre Macht über mich brechen kann, ist, sie zu vernichten.«
»Dann sollten wir aufbrechen«, sagte sie, richtete sich auf und trat von der Reling zurück. »Sie steht schon lange genug zwischen uns. Die Herrschaft einer Monarchin ist zu Ende gegangen, jetzt wird es Zeit, dass die der anderen auch ein Ende findet.«
»Habe ich dir schon einmal gesagt, wie hübsch du bist, wenn du gereizt bist?«, fragte Konowa sie und trat dicht an sie heran, ohne sie zu berühren.
»Nein, und ich erwarte, dass sich das ändert«, sagte sie und atmete tief ein, um so viel von seinem Duft aufzunehmen wie möglich. Sie leckte sich über die Lippen. »Befehle zu brüllen wie ein verrückter Bulle, funktioniert vielleicht in der Armee, aber als mein Elf musst du raffiniertere Techniken lernen, um zu bekommen, was du willst.«
Konowa sah sie mit einem Hunger an, den sie nur zu gerne gestillt hätte. Und sie wusste, dass er genauso groß war wie der ihre.
Er beugte sich vor und legte seine Lippen an den Rand ihres Ohres. Als sein Atem über ihre Haut fuhr, zitterte sie am ganzen Körper. »Willst du damit sagen, dass du mich zähmen möchtest?«
»Nicht … nicht wenn wir alleine sind«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang heiser vor Verlangen.
Er wollte gerade noch etwas flüstern, als ein lauter Schlag ertönte und das Schiff schwankte. Sie trat zurück und sah sich um. »Was war das?«
Konowa hatte seine Hand auf die Brust gelegt und die Augen geschlossen. »Nichts Gutes.«
Das Wasser im Hafen begann zu kochen, obwohl der Wind nicht aufgefrischt hatte. »Du bist die einzige Wetterhexe, die ich kenne. Kannst du mir sagen, was das hier bedeutet?«, fragte er. Männer liefen auf dem Deck umher und schrien. Die Stählernen Elfen tauchten an der Reling auf, die Musketen schussbereit in den Händen. Auf dem Unterdeck brüllten die Kanoniere des Schiffes und luden hastig ihre Geschütze.
»Wenn ich weben könnte, hätte ich vielleicht eine Idee, aber ich habe mich überanstrengt. Es tut mir leid«, antwortete sie.
Konowa trat vor und lächelte sie an. »Du musst dich nicht entschuldigen, ich habe gehört, was du getan hast. Die ganze Geschichte, angefangen von dem Moment, wo du, meine Mutter und Rallie in ihrem Karren aus dem Chaos in Nazalla aufgebrochen seid bis zu dem Moment, wo wir uns im Fort getroffen haben. Du hast nicht nur einfach überlebt, sondern dabei auch noch vielen das Leben gerettet.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Ich glaube, ich habe ein paar Dinge gelernt, während ich dich beobachtet habe.«
Das Schiff schwankte erneut von einem unsichtbaren Schlag. »Also gut, das muss aufhören«, erklärte Konowa und zog seinen Säbel halb aus der Scheide. »Kann irgendjemand irgendetwas sehen?«
Die Antwort bestand aus zwei Teilen. Eis bildete sich auf dem Wasser, obwohl die Temperatur an der Oberfläche nicht gefallen war. Augenblicke später zuckten lange, schwarze Zweige aus dem Wasser auf der Steuerbordseite des Schiffs und kletterten die Seite der HMS Schwarzer Stachel hinauf, woraufhin das Schiff sich zum Meer hin neigte.
An Deck brach die Hölle los. Soldaten feuerten blindlings auf jeden Zweig, den sie sehen konnten. Musketenkugeln zischten durch die Luft, prallten ab, verursachten aber nur wenig Schaden. »Nicht schießen, nicht schießen, ihr blöden Idioten!«, brüllte Yimt. Es fielen noch einige Musketenschüsse, bevor die Ordnung wiederhergestellt werden konnte. Das Schiff schwankte, als immer mehr Zweige an der Seite hochkrochen und sich festklammerten.
»Sie sind unter uns«, erklärte Visyna und blickte auf ihre Füße. Sie konnte zwar die Schrecknisse akzeptieren, die ihr offen begegneten, aber ein unsichtbarer Feind unter ihr war furchteinflößend. Sie trat von der Reling zurück.
Konowa drehte sich um und sah sie an. »Und da wunderst du dich, warum ich Bäume hasse?«
Rallie und Chayii tauchten auf Deck auf. Sie führten Jurwan zwischen sich. Der Elfenmagier sagte zwar immer noch nichts, aber er folgte den Ereignissen mit offensichtlichem Interesse, und es sah so aus, als würde er bald wieder normal. Jedenfalls hoffte Visyna das sehr.
»Wenn ihr noch ein paar Tricks im Ärmel habt, wäre jetzt der richtige Moment, sie hervorzuholen«, meinte Konowa zu den Frauen. Dann ging er zu seinem Vater und sah ihm in die Augen. »Wir könnten deine Hilfe wirklich gut gebrauchen, Vater.«
Das Schiff schwankte erneut heftig, und etliche Haltetaue rissen.
»Sie versuchen uns von der Pier loszureißen«, sagte Visyna, die wieder zur Reling zurückgestolpert war. Sie hielt sich fest und blickte ins Wasser hinunter. Es war schwarz und schäumte wie kochendes Öl. Dann richtete sie sich auf und bemerkte eine Bewegung auf der Pier.
»Da sind Jir und Tyul!«
Sie drehte sich um und streckte den Arm aus, aber nur Chayii hörte sie. Die Elfe lief zu ihr und stellte sich neben sie.
Eine donnernde Breitseite von der Ormandy erleuchtete die Nacht. Sie zuckten beide zusammen. Hölzerne Gebäude in der Nähe der Pier explodierten in einem Schauer von Splittern. Jir und Tyul ging zu Boden, sprangen jedoch im nächsten Moment wieder hoch und rannten zum Schiff. Rakkes schnitten ihnen den Weg ab, und es gab einen Kampf. Der Elf war ein Schemen aus präzisen Schlägen, während der Bengar mit wilder Wut durch die Reihen der Bestien brach.
Aber es würde nicht genügen. Es waren einfach zu viele Rakkes. Immer mehr strömten zu der Horde, die die beiden umzingelte. Jetzt endlich hatten die Rakkes die Möglichkeit, zwei ihrer Schlächter zu erledigen, und sie hatten nicht vor, sie entkommen zu lassen.
»Nicht schießen!«, schrie Chayii und winkte, wenn auch vergeblich, um die Aufmerksamkeit des Kapitäns der Ormandy zu erregen.
»Das ist ihre einzige Hoffnung«, sagte Visyna; allerdings bezweifelte sie, dass selbst das Kanonenfeuer die beiden retten konnte. Sie konnte Jir und Tyul jetzt nur noch sporadisch sehen, da immer mehr Rakkes durch die qualmenden Ruinen der Gebäude zum Hafen strömten.
Das Schiff schwankte erneut, und der beißende, scharfe Geruch von Frostfeuer waberte durch die Luft. Sie drehte sich um und sah, wie Konowa mit seinem Säbel auf die Zweige einschlug, während Rallie hastig auf irgendwelche Papiere kritzelte. Jurwan stand zwischen ihnen, beobachtete alles, griff aber nicht helfend ein.
Als sich Visyna umdrehte, war Chayii verschwunden. Sie blickte über die Reling und sah, wie die Elfe mühelos über eines der Haltetaue balancierte, auf der Pier landete und dann zu Tyul und Jir rannte. Rakkes traten ihr in den Weg, und Musketenfeuer von der Ormandy beharkte das Dock.
»Chayii, komm zurück!«
Die Elfe drehte sich nicht herum, sondern rannte weiter. Ein halbes Dutzend Rakkes näherte sich ihr in einem Halbkreis. Die Schwarzer Stachel erhob sich fast zwei Meter in die Luft und fiel dann ins Wasser zurück. Eine eisige Gischt stieg auf und überzog alles. Das Schiff neigte sich weiter nach Backbord, und Visyna verlor den Halt und rutschte. Das Deck erzitterte, als sich Kanonen aus ihren Halterungen rissen. Die Schreie und das Gebrüll, das Ächzen und Splittern des Holzes, all das mischte sich mit dem Geheul der Rakkes und dem Knattern der Musketen.
Noch im Fallen traf Visyna eine Entscheidung; sie entspannte sich und glitt durch einen schmalen Spalt in der Reling. Dann packte sie eines der Haltetaue und rutschte daran herunter, wobei sie sich derart die Hände verbrannte, dass diese rot glühten. Sobald sie die Pier erreicht hatte, rannte sie hinter Chayii her, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich tun wollte. Sie fühlte sich so hohl wie ein Schilfrohr. Ihr Körper verfügte nur noch über eine letzte Kraftreserve, die sie noch nie zuvor angezapft hatte.
Hinter ihr gellten Schreie, als die Männer die beiden Frauen bemerkten, die über die Pier rannten. So also fühlt sich das für Konowa an, dachte sie, während sie so schnell sie konnte über die freie Fläche rannte. Kein Plan, nur ungehemmter Rausch.
Sie erreichte Chayii, als die Rakkes sich ihnen bis auf fünf Meter genähert hatten. Sie bückte sich, hob eine zerbrochene Fassdaube auf und schwang sie als Waffe. Konowas Herangehensweise an gefährliche Situationen war nur die eine Seite der Medaille, das wurde ihr zunehmend klarer.
»Was machst du hier draußen?«, schrie sie Chayii an, während sie sich der alten Elfe näherte, bis sie Rücken an Rücken standen, als die Rakkes sie umzingelten.
»Ich kann Tyul und Jir nicht alleine zurücklassen. Sie sind Unschuldige. Sie folgen uns dorthin, wohin wir sie führen. Es ist unsere Pflicht, sie zu beschützen«, sagte sie.
Visyna konnte plötzlich Konowas Enttäuschung und seinen Grimm über die Elfen der Langen Wacht begreifen. Sie dachten tatsächlich in höchst uneigennützigen Begriffen, bis hin zu dem Punkt, dass sie den sicheren Tod in Kauf nahmen. Und sie war hierhergerannt, um ihr beizustehen!
»Chayii, hör doch, Jir und Tyul sind geborene Killer! Wir sind es, die ihre Hilfe brauchen«, sagte sie und schwang die Fassdaube vor sich, obwohl sie wusste, dass sie ein ergrimmtes Rakke damit schwerlich aufhalten würde. Sie spielte mit dem Gedanken, vom Schiff Hilfe herbeizurufen, aber immer mehr Zweige waren aus dem Wasser aufgetaucht und klammerten sich an das Schiff, während die anderen Schiffe unaufhörlich ihre Kanonen abfeuerten, sodass man in dem Tumult absolut nichts hören konnte.
»Ich bin nicht ohne einen Plan hierhergekommen, mein Kind«, antwortete Chayii. Ihre Stimme klang überraschend ruhig.
»Also gut, dann führ ihn aus!«
Chayii drehte sich herum und legte eine Hand auf Visynas Schulter. »Sag meinem Sohn, sag ihm … dass ich nichts lieber getan hätte, als meine Enkelkinder schrecklich zu verwöhnen.«
Bevor Visyna antworten konnte, drehte sich Chayii erneut um und hob die Hände zum Himmel. Sie begann zu singen, in der Sprache der Elfen, und augenblicklich veränderte sich die Welt um Visyna. Tiefe, mächtige, weit entfernte Stimmen erfüllten die Luft. Sie erinnerte sich daran, dass sie so etwas schon einmal gehört und gefühlt hatte, damals, als Tyul seine Schwurwaffe eingesetzt hatte, aber dies hier war anders. Etwas fügte seine Macht zu diesem schweren Dröhnen hinzu, etwas aus der Nähe.
»Was machst du da?«, fragte sie, als sie spürte, wie die Textur der Natürlichen Ordnung um sie herum zu reißen begann.
Die alte Elfe sang weiter und ignorierte sie. Die Rakkes heulten und fletschten ihre Zähne, aber keines von ihnen wagte es, sich ihnen zu nähern. Es wurde heller. Zuerst konnte Visyna die Quelle dieser Helligkeit nicht erkennen, doch dann sah sie, dass der Hauptmast der Schwarzer Stachel glühte. Sie blinzelte und schaute noch einmal hin. Sie hätte schwören können, dass einen winzigen Moment lang ein gewaltiger Baum dort gestanden hatte, wo sich der Mast befand.
»Chayii?«
»Ich tue, was ich tun muss, mein Kind«, erwiderte sie. In ihrer Stimme schwang so etwas wie Freude mit, jedenfalls empfand Visyna das so. »Wir sind die Diener dieser Welt. Wenn wir sie durch unser Opfer retten können, ist es nur ein geringer Preis, den wir zahlen.«
Visynas Widerspruch wurde durch eine Explosion von reinem, goldenen Licht hinweggewischt. Sie drehte sich um und betrachtete staunend, was sie da sah. Der Mast der Schwarzer Stachel, der einst der Stamm von Jurwans Ryk Faur gewesen war, nach dem man das Schiff benannt hatte, löste sich in eine Million strahlender Energiepunkte auf. Sie wirbelten umher, als wären sie von einem Wind erfasst, den nur sie spüren konnten, bevor sie sich zu der Form einer schimmernden, durchscheinenden Wolfseiche vereinten, die stolz auf dem Deck des Schiffs stand.
Die Blätter der Wolfseiche auf dem Schiff begannen zu fallen, wirbelten immer schneller und schneller. Eine strahlend weiße Eichel war an jedem Blatt befestigt.
»Eure Zeit hier ist zu Ende«, sagte Chayii zu den Rakkes. »Werdet wieder eins mit dem Mukta Ull.« Keckerndes Gejammer erhob sich unter den Rakkes. Visyna drehte sich wieder um und sah, wie Chayii die Hände spreizte. Im nächsten Moment fegte ein Wind von hinten über sie hinweg und schleuderte sie zu Boden. Die Blätter und ihre Eicheln blitzten über ihr in funkelnden Lichtstreifen. Jedes Blatt und jede Eichel traf ein Rakke mit der Gewalt einer Kanonenkugel und beendete das ängstliche Geheul.
Die Rakkes starben dort, wo sie standen. Eben noch hatten sie in ihrer primitiven Wut getobt, im nächsten Moment gab es einen gewaltigen Lichtblitz und einen winzigen Augenblick lang das geisterhafte Nachbild eines Wolfseichen-Schösslings.
Bevor sich Visyna wieder aufrappeln konnte, schlug der Wind um und blies hinaus aufs Meer. Sie hörte, wie Jir vor Angst jaulte, und blickte hoch. Der Bengar und Tyul taumelten hilflos in der Gewalt des Windes, und wurden von noch mehr dieser schimmernden Blätter durch die Luft davongetragen. Visyna fragte sich, wo die beiden wohl landen würden.
Das Schiff schwankte und erhob sich auf einer kochenden Welle. Die Sarka Har, die sich an dem Rumpf der Schwarzer Stachel festgeklammert hatten, wurden zerfetzt und zerbrachen. Der Wind heulte, und die gewaltigen Taue, die das Schiff an der Pier hielten, zerrissen, als wären es Fäden. Die Schwarzer Stachel trieb in das Hafenbecken hinaus und nahm dabei Fahrt auf. Das gewaltige Bild von Jurwans Wolfseiche bog sich im Wind und fungierte als Hauptsegel.
»Konowa!« Visyna streckte die Hände aus, fest entschlossen, gegen die Macht anzukämpfen, die ihn erneut von ihr entfernte, aber sie wusste, dass ihre Kraft dieser Aufgabe nicht gewachsen war. Schweigend sah sie zu, wie das Schiff in der Nacht verschwand, bis nichts mehr zu sehen war.
Es dauerte eine Weile, bis Visyna bemerkte, dass alles ruhig geworden war. Nicht ein einziges Rakke heulte. Es gab keine Schreie, kein Gebrüll, keine Musketenschüsse. Sie setzte sich auf. Die Dunkelheit war zurückgekehrt. Sie rieb sich die Augen und drehte sich zu Chayii herum.
»Oh, Chayii!« Die Elfe lag mit dem Gesicht nach unten auf der Pier. Visyna packte ihre Schultern und drehte sie sanft herum. Sie fühlte es, als sie ihren Körper berührte.
Chayii war tot.
Dann spürte sie eine Essenz neben sich und blickte hoch. Das nebelhafte Bild eines Waldes tanzte vor ihren Augen. Es war so schnell verschwunden, dass sie nicht sicher war, ob es Wirklichkeit gewesen oder ihrer Fantasie entsprungen war. Sie entschloss sich zu glauben, dass es real gewesen war; Chayii, die zwischen den Bäumen einherging und leise sang, während sie den Wald pflegte.
Visyna blinzelte und drehte sich weg, blickte aufs Meer hinaus. Sie ließ Chayiis Leichnam behutsam sinken, stand auf und trat an den Rand der Pier. Holzsplitter, zerfetzte Seile und große Fetzen von Segeltuch schwammen auf dem Eis, das das Wasser vor der Pier bedeckte, die einzigen Zeugen dafür, dass die Schwarzer Stachel hier gelegen hatte. Ein großer, aufgewühlter Pfad durch das Eis ließ erkennen, wo sie aufs Meer hinausgesegelt war.
Bei dem Geräusch schneller Schritte hinter ihr drehte sie sich um. Etliche Soldaten näherten sich ihr von der Ormandy. Sie hielten ihre Musketen schussbereit, während sie sich nach Rakkes umsahen. Ein Sergeant trat vor und salutierte kurz. Er blutete aus einer Wunde über seinem linken Auge, schien das aber nicht zu bemerken.
»Es sind weitere Rakkes hierher unterwegs, Mistress. Seine Hoheit sagt, Sie sollen umgehend an Bord der Ormandy kommen.«
Visyna nickte wie betäubt und ließ sich zu dem Schiff führen. Sie sah, wie zwei Soldaten zu Chayiis Leiche traten und sich bückten, um sie aufzuheben. Dann hielten sie inne und sahen sie an.
»Bitte«, war alles, was sie herausbringen konnte. Die Soldaten bückten sich erneut, hoben den Leichnam der Elfe mit überraschender Sanftheit hoch und trugen sie zum Schiff.
Visyna folgte ihnen und ging an Bord der Ormandy, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sie überquerte das Deck und stellte sich an die Steuerbordreling, um aufs Meer hinauszusehen. Die kalte, salzige Luft belebte etwas in ihrem Innern, und sie straffte sich, während sie die Reling umklammerte und die raue Maserung des Holzes auf ihren Handflächen spürte.
»Ich werde dich finden, Konowa Flinkdrache. Ich werde dich finden.«