Am darauffolgenden Tag meldete sich Kaatje krank.
Gestern nach Feierabend war sie nach Hause gegangen und hatte mit Patrízío über die Vorfälle gesprochen. Zutiefst bestürzt hatte er ihr zugehört, jedoch wusste auch er nicht, wie er seiner Frau hätte helfen können, und wie sie am besten mit der Situation umgehen sollte.
Zuerst hatte Kaatje vorgeschlagen, mit den Bunkerinsassinnen darüber zu reden.
„Bist du verrückt Engelchen?“, hatte Patrízío gesagt. „Das kannst du nicht machen, es wird eine Panik ausbrechen und alles wird noch viel schlimmer werden!“
„Aber ich kann ihnen doch überhaupt keine Hoffnung mehr machen. Wie soll ich mich denn jetzt verhalten Schatz? Ich kann doch nicht so tun, als wenn nichts gewesen wäre!“
„Tja, da ist guter Rat teuer“, auch Patrízío war nichts mehr eingefallen. Er strich sich mit seinen langen, schlanken Fingern über sein akkurat rasiertes Kinn. „Am besten meldest du dich morgen erstmal krank, bevor du einen Fehler machst. Du kannst noch einmal in Ruhe über alles nachdenken und überlegen, wie es weitergehen soll. Was hältst du davon?“
Es war überhaupt nicht Kaatjes Art, einfach blauzumachen, aber in dieser Situation hielt sie es auch für die einzige Möglichkeit. „Du hast recht mein Schatz, vielleicht finden wir ja morgen eine Lösung. Gerade habe ich das Gefühl, ich kann nicht mehr denken. Das war einfach zu viel heute.“ Dann hatte sie ihren Slider zur Hand genommen und eine Textmessage an das Büro von Sýard Sonnaý gesendet, in der sie sich krankgemeldet hatte. Als Erklärung gab sie Kreislaufprobleme an.
Danach waren die beiden ins Bett gegangen.
Heute hatte Patrízío Frühschicht und weckte Kaatje nicht, als er das Haus verließ.
Gegen neun Uhr wurde Kaatje vom Klingeln des Telefons geweckt. „Hallo?“, sagte sie verschlafen in ihren Slider und schaltete den Lautsprecher an.
Trínes Stimme klang aufgeregt. „Guten Morgen Kaatje habe ich dich geweckt?“
Kaatje setzte sich im Bett auf. „Was ist denn passiert? Du klingst so komisch?“
„Ja, es ist etwas passiert Kaatje, etwas ganz Schreckliches. Ich habe eben einen Anruf bekommen, es geht um den Chef.“
„Was ist denn mit ihm? Er ist doch außer Haus?“, Kaatje riss sich zusammen, denn sie musste andauernd gähnen. Sie hatte Mühe, Trínes Worten zu folgen und rieb sich mehrmals mit den Händen über ihr Gesicht.
Trínes Stimme bebte jetzt. „Ja Kaatje, es ist schlimm … äh … Vaíth Klíesch ist tot!“
„Wie bitte? Hatte er einen Unfall?“, mit einem Schlag war Kaatje hellwach.
„Ja anscheinend, es hieß, er sei auf seiner Dienstreise tödlich verunglückt. Mehr weiß ich auch nicht. Ich wollte es dir nur schnell mitteilen.“
„Ach du lieber Gott, das darf doch alles nicht wahr sein! Und jetzt? An wen sollen wir uns denn wenden, wenn etwas ist?“
„Zuerst an Sýard Sonnaý wurde mir gesagt. Der Nachfolger für den Chef wird heute noch bestimmt. Es wird jemand von uns sein, soviel habe ich rausbekommen“, sagte Tríne und Kaatje konnte ihr Grinsen vor sich sehen. „Du wahrscheinlich!“
„Hm okay …“, Kaatje war nicht überrascht, sie war die Dienstälteste und somit die logische Nachfolgerin von Klíesch; jedoch wusste sie nicht, ob sie sich darüber freuen sollte.
„Freust du dich nicht? Du weißt doch, was das bedeutet?“, Tríne konnte die gleichgültige Reaktion ihrer Kollegin anscheinend nicht nachvollziehen.
„Doch doch Tríne, ich fühle mich nur nicht wohl.“ Da ist schon der erste Zwiespalt! Am liebsten würde ich ihr erzählen, was ich gestern beobachtet habe, aber irgendetwas sagt mir, ich soll es nicht tun. Oh Gott, wie soll ich bloß damit zurechtkommen?
„Dann gute Besserung, bis morgen? Du kommst doch morgen wieder?“, fragte Tríne.
„Ich weiß es noch nicht Tríne. Wenn es mir besser geht, komme ich. Bis dann!“
„Ach so … das hätte ich beinahe vergessen“, rief Tríne laut. Sie schien zu befürchteten, dass Kaatje das Gespräch schon getrennt hatte.
„Uns wurde schon eine neue Kollegin zugeteilt, denn wenn du Chefin wirst, fehlt ja eine Wächterin. Sie muss sehr ehrgeizig sein, denn sie ist erst 25 Jahre alt. Glínda Evans heißt sie. Sie soll nachher schon ihren Dienst antreten. Kennst du sie?“
„Hm … nein, noch nie gehört. Dann hoffen wir mal, dass sie zu uns passt! Danke für die Infos Tríne, bis bald!“
„Bis dann Kaatje.“
Jetzt war die Situation noch verzwickter als zuvor. Kaatje ging ins Bad, duschte ausgiebig, wusch sich die Haare und dachte über den Anruf ihrer Kollegin nach.
Unglaublich, der Chef ist tot, verunglückt! Hm, das muss man auch erst einmal verdauen!
Nun gut. Wenn ich Klíeschs Position einnehme, erfahre ich auf alle Fälle mehr. Und als Erstes werde ich Darrýl entlassen, dann wird das Leben im Bunker für die Frauen leichter.
Fertig angezogen, aber mit noch nassen Haaren, die sie in ein Handtuch gewickelt hatte, rief sie Tríne noch einmal an.
„Hallo, ich bin’s noch mal. Kannst du bitte den Frauen Bescheid sagen, dass ich morgen wieder da bin?“
„Oh schön, dann geht es dir wieder besser? Ja klar, mach ich!“, fragte Tríne und ihre Stimme klang erfreut.
„Ja ich hatte leichte Kreislaufprobleme und habe mich nicht getraut, rauszugehen, aus Angst, dass ich umkippe. Aber inzwischen ist es wieder gut“, log Kaatje. „Wahrscheinlich habe ich nur wieder mal zu wenig getrunken.“ Sie wollte unbedingt am nächsten Tag wieder in den Bunker und stellte ihre Bedenken hinten an. Wichtiger war erst einmal, Darrýl zu stoppen. Wer weiß, was ihm ohne Chef und in ihrer Abwesenheit einfallen würde. „Ist Darrýl heute da?“, fragte sie ihre Kollegin.
„Ja, aber er ist noch mit der Neuen unterwegs.“
„Ah okay, wie ist sie denn so?“
„Ich habe sie nur kurz gesehen, dann kam ein Anruf, dass sie mit Darrýl rausfahren soll. Auf den ersten Blick fand ich sie aber nicht sehr sympathisch … irgendwie.“
„Wir werden schon mit ihr klarkommen. Hat Darrýl das Formular für Freilassung von Kaýleen Grewe unterschrieben?“, fragte Kaatje, der plötzlich alle möglichen wichtigen Dinge wieder einfielen.
„Hm warte mal … nein, das liegt noch hier, seine Unterschrift ist nicht darauf!“, antwortete Tríne, nachdem sie die Akte mit der Aufschrift ‚Kaýleen Grewe‘ gefunden und geöffnet hatte.
Mann, macht er das extra?, dachte Kaatje. Die arme Frau geht da drinnen kaputt!
„Kannst du ihm bitte ausrichten, er soll das schnellstens machen? Frau Grewe ist schon viel zu lange eingesperrt!“
„Ja natürlich Kaatje, wie ich das hier sehe, ist sie wirklich schon sehr lange alleine in ihrem Zimmer. Hoffentlich hat das keine bösen Folgen. Ich sag's ihm sofort, wenn er kommt, ok?“
„Ja bitte, mach das. Ich leg dann mal auf, melde dich bitte, wenn es etwas Neues gibt. Ich bin den ganzen Tag zuhause.“
„Ja mache ich gerne!“, antworte Tríne und trennte die Verbindung.
Himmel noch mal, dieser verfluchte Darrýl!
Kaatje war außer sich vor Wut. Am liebsten wäre sie sofort losgefahren, um ihn zu ermorden, aber wieder wurde ihr klar, dass dafür zu viel auf dem Spiel stand.
Nachdem sie zum Frühstück Rohkost gegessen hatte, föhnte sie sich die Haare und band sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammen. Dann trainierte sie den ganzen Vormittag an den Fitnessgeräten in ihrer Wohnung, bis sich Tríne erneut gegen 13 Uhr meldete.
„Hey, schön von dir zu hören“, sagte Kaatje, die gerade auf dem Fahrrad saß. Sie unterbrach ihr Training und wischte sich mit dem bereitliegenden Handtuch den Schweiß von der Stirn.
„Danke, aber ob das schön ist, weiß ich noch nicht“, begann Tríne zögernd.
„Warum, was ist denn jetzt wieder los? Ist wieder jemand gestorben?“, fragte Kaatje nach. Dabei atmete sie so heftig, dass ihre Kollegin besorgte fragte: „Alles in Ordnung mit dir?“
„Ja alles gut, ich trainiere nur gerade, damit mein Kreislauf wieder in Schwung kommt.“
„Ach so, okay. Nein, nein Kaatje, es ist niemand gestorben, aber ich war zu voreilig. Ich weiß gar nicht, wie ich dir das sagen soll, aber …“
„Aber was?“, Kaatje stieg von ihrem Fahrrad ab.
„Ja also … Sonnaý hat gerade angerufen.“
Kaatjes Herz begann heftig zu klopfen, sie ahnte nichts Gutes. „Ja und? Jetzt sag schon!“
„Ja also … Darrýl ist gerade umgezogen in Klíeschs Büro. Er übernimmt seinen Posten.“
Kaatje wurde kreidebleich.