In Zelle 403 des Gefängnisses ‚Borlínth‘ hatten sie sich vor gut drei Monaten kennengelernt. Saýosha hatte in seiner kleinen Unterkunft die Tage bis zu seiner Entlassung gezählt. Der kleine Raum war in den fünf Jahren, die er hier einsitzen musste, sein spärliches Zuhause geworden. Saýosha hatte auf seiner Pritsche gelegen, von der bereits der Lack abblätterte und sich die Zeitungsausschnitte von halb nackten Frauen angesehen, die über ihm an der eigentlich kahlen, mausgrauen Wand hingen, als die Tür aufgegangen und sein neuer Zellengenosse hereingekommen war. Einen Tag zuvor hatte er seine Einzelzelle mit Raphaele teilen müssen. Die meisten Insassen bewohnten mittlerweile eine Zelle zu zweit, denn das Gefängnis platzte aus allen Nähten. Eine zweite Pritsche hatte gerade noch so in den engen Raum gepasst, in dem auch ein kleines Waschbecken und die Toilette untergebracht waren.
„Scheiß Überstunden andauernd“, hatte Raphaele gesagt und sich die völlig verdreckten Hände gewaschen. Er hatte sich seines schmutzigen Arbeitsanzugs entledigt und seine Anstaltskleidung aus dem Schrank geholt. Blaue Hose, blaues Hemd. Auf dem Rücken waren in gelber Leuchtschrift die Ziffern ‚5347‘ aufgenäht. Blau macht nicht aggressiv, hatte die Gefängnisleitung behauptet, als er vor zehn Jahren hier eingeliefert worden war.
Saýosha hatte vom Bett aus seinen neuen Mitbewohner beobachtet. Raphaele war eine ganz willkommene Gesellschaft, so angenehm es in dieser erdrückenden Enge sein konnte. Die Zelle war nur zwölf Quadratmeter groß und viel zu klein für zwei Häftlinge. Saýosha kannte die Gründe für die Überbelegung. Sie hatten sich schnell unter den Insassen herumgesprochen. Eine Erweiterung des Gebäudes war nicht mehr möglich und die Einsturzgefahr war zu groß, wenn man es noch weiter in die Höhe ziehen würde. Ein seitlicher Ausbau stand ebenfalls nicht zur Debatte, da links und rechts des Gefängnisses Wolkenkratzer klebten. Eine zusätzliche Vollzugsanstalt zu bauen, stand für die Verantwortlichen auch nicht zur Diskussion. Man durfte kein Geld mehr für Verbrecher ausgeben, eher entledigte man sich dieser. Viel wichtigere, kostspielige Dinge standen im Vordergrund.
Raphaele hatte sein Hemd gewechselt und zugeknöpft, Hose und Schuhe angezogen. Er war sehr groß und durch das tägliche Krafttraining hatte er sich in seiner Zeit hinter Gittern zum Muskelprotz entwickelt. „Ich muss los, meine Mutter kommt gleich zu Besuch“, hatte er gesagt und seine Augen begannen, zu strahlen. „Wie immer am Mittwoch.“
„Ach, Mami kommt?“, Saýosha grinste breit.
Sofort war Raphaele auf ihn zugestürmt und hatte ihn mit beiden Händen am Kragen gepackt. „Noch ein Ton, und du bist ein toter Mann, kapiert?“
„Schon gut … ganz ruhig …“ Der überrumpelte Saýosha hielt die Hände hoch, um seiner Resignation Ausdruck zu verleihen. „Ja … schon okay, tut mir leid Bruder.“
„Rede nie wieder so über meine Mutter! Sie ist alles was ich habe, verstehst du das? Sie hat die ganzen Jahre zu mir gehalten und hat mich jede Woche besucht, bei Wind und Wetter! Zig Anwälte hat sie mir geschickt, aber keiner hat es geschafft, mich hier rauszuholen. Mord ist nun mal kein Kavaliersdelikt. Na ja, nur noch zehn Jahre.“
Saýosha nickte. „Tut mir leid. Ehrlich.“ Oh ha! Hinter dieser Furcht einflößenden Fassade verbirgt sich wohl ein sensibler Kern.
„Bis nachher“, der Neue hatte sich verabschiedet und war hinausgegangen. Er schaute auf die großen Uhren, die an den Wänden angebracht waren, und eilte die schmalen Gänge und Treppen hinunter zum Besucherraum, der jetzt nur noch durch eine Tür von ihm getrennt war. Nachdem ein Schließer dieses Hindernis beseitigt hatte, konnte er den Besucherraum betreten. Seine Mutter saß in der Mitte des Raumes an einem der vielen Tische, die hinter- und nebeneinander im Raum angeordnet waren. Bei seinem ersten Besuch hier hatte er deren Anzahl auf circa 50 geschätzt.
Caramída musste schon eine Weile gewartet haben. Entspannt hatte sie ihn angelächelt, war aufgestanden, hatte ihn herzlich in die Arme genommen und ihn fest an sich gedrückt. Blicke anderer Besucher waren ihnen gefolgt, denn die kleine, füllige Frau verschwand beinahe in den Armen ihres Sohnes. Raphaele war mindestens zwei Köpfe größer als sie.
„Hallo Mama, schön, dass du da bist!“ Er bückte sich und gab ihr einen Kuss auf die zarte Wange, atmete ihren angenehm vertrauten Geruch ein und setzte sich an den einfachen blauen PVC-Tisch.
„Wie geht es dir?“, fragte sie ihn und nahm ihm gegenüber ebenfalls Platz.
„Na ja wie soll‘s mir schon gehen, es ist jeden Tag dasselbe, Mama, seit zig Jahren.“ Raphaele hatte versucht, fröhlich zu klingen. Er wollte nicht, dass sich seine Mutter um ihn sorgte. Sie hatte es nicht leicht in ihrem Leben und Gejammer konnte er ihr ersparen; sie hatte sowieso keine Möglichkeit, ihm zu helfen.
„Tja, was soll ich sagen? Das ist schrecklich aber du hast es dir so ausgesucht mein Junge. Hättest dir denken können, was passiert, wenn du deine Frau erstichst. Und du hattest noch Glück! Die, die heutzutage jemanden töten, werden sofort erschossen!“
„Ja ich weiß, aber ich war’s nicht, Mama. Sie haben den Falschen verurteilt, warum glaubst du mir denn nicht?“ Bei dem Gedanken an seine geliebte Mojka, die er mit 30 Messerstichen getötet haben sollte, traten ihm Tränen in die Augen.
Caramída zuckte mit den Achseln. „Es ist nun nicht mehr zu ändern, mein Junge.“
Raphaele war sehr dankbar, dass Caramída ihn regelmäßig besucht hatte. Es war die einzige Abwechslung im öden und langweiligen, oftmals brutalen Knastalltag gewesen. Jeden Mittwoch hatte er sich erneut gefreut, sie zu sehen und meist hatte sie ein kleines Geschenk für ihn dabei.
„Schön, dass du da bist und dass du mich all die Jahre nie im Stich gelassen hast“, hatte er – dankbar lächelnd - gesagt und ihre Hände über den Tisch hinweg in seine riesengroßen Pranken genommen, sodass sie darin verschwunden waren.
„Du bist mein Kind, egal, ob du es warst oder nicht. Ich werde immer für dich da sein!“ Sie gab ihm eine Packung Zigaretten, die er gut tauschen konnte und sie unterhielten sich über die Lage in der Stadt, in der seltsame Dinge vor sich gingen. Es schien, als ob in diesem Leben niemand mehr zufrieden war.
„Nächste Woche ist es soweit, ich muss umziehen“ Caramída hatte das Thema gewechselt und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe schon kräftig entrümpelt und warte nur noch auf die Möbelträger.“
„Das ist eine Frechheit“, entgegnete Raphaele, während er ihre kalten Hände liebevoll streichelte, „warum wirst du in deinem Alter dazu gezwungen?“
„Ja mein Schatz, das ist gemein, aber ich habe keine andere Wahl. Der Wohnraum wird für eine Familie benötigt. So ziehe ich halt in diese Frauen-WG. Das wird schon werden, und es spart auch Geld. Mach dir keine Gedanken, mein Junge.“
Raphaele liebte seine Mutter sehr und hatte sich daraufhin große Sorgen um sie gemacht. Offensichtlich wurden draußen die Wünsche der Menschen überhaupt nicht mehr berücksichtigt. Es ging nur noch darum, die vielen Leute irgendwo unterzubringen. Für persönliche Gefühle und Bedürfnisse gab es keinen Platz mehr in dieser Gesellschaft, die so eng beieinander war, sich aber immer weiter voneinander zu entfernen schien.
Das war das letzte Gespräch zwischen Mutter und Sohn gewesen, bevor Caramída verschwand.
Raphaele war eine Woche später enttäuscht und den Tränen nahe vom Besucherraum zurückgekehrt und hatte sich bei Saýosha Luft gemacht. „Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist sie nicht gekommen! Es muss etwas passiert sein! Wenn ihr etwas dazwischengekommen wäre, was schon einige Male bei einer unerwarteten Geburt der Fall war, hätte sie mir das durch die Gefängnisleitung ausrichten lassen. Hier stimmt etwas nicht. Ich muss aus diesem verdammten Knast raus, koste es, was es wolle!“