Auch Ascon wusste nicht mehr weiter. Er fragte sich, was in seine Frau gefahren war. Am meisten beunruhigte ihn allerdings Darjanas Gleichgültigkeit über das Verschwinden ihrer Tochter.

Nachdem auf dem Fernsehbild das Wort ‚Inaktiv‘ zu lesen war, saß er einige Zeit im dunklen Wohnzimmer und wartete ab, bis er seine pulsierende Halsschlagader nicht mehr spürte und sein Atem ruhiger wurde. Dann versuchte er erneut, Rabíýa zu erreichen, aber ihr Slider war immer noch ausgeschaltet. Er blätterte sein Telefonverzeichnis durch, überlegte, wo sie sein könnte und wählte wiederum den Telefoncode ihrer Freundin Zhara, die ihm aber auch nichts Neues berichten konnte. Ratlos legte er seinen Slider wieder auf den Tisch und starrte an die Decke. Dann ging er langsam und gedankenversunken zum Sideboard, öffnete die Glastür und nahm eine Flasche Cognac und einen Schwenker heraus. Er setzte sich wieder in seinen Sessel und schenkte sich ein, trank den Alkohol in einem Zug und stellte Flasche und Glas zurück auf den Tisch. Im Raum herrschte Totenstille und er versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

Was ist nur aus uns geworden?, fragte er sich. Dari schläft schon wieder. Unsere Ehe geht immer mehr kaputt, inzwischen streiten wir fast nur noch. Sie hat überhaupt keine Lust mehr auf mich, der letzte Sex ist über einen Monat her.

Wenn sie doch nur wäre, wie früher … Sie ist nicht mehr die Frau, die ich einst verehrt, bewundert und schließlich geheiratet habe. Seit der Geburt der Kinder bin ich doch nur noch der Ernährer der Familie. An welcher Stelle sind wir falsch abgebogen?

Rabíýa bekommt ein Baby aber das ist nicht genug! Jetzt ist sie auch noch weg und ich weiß nicht, wo ich sie noch suchen soll! Das darf nicht wahr sein, ich hätte es nie gewagt, mich so meinen Eltern gegenüber zu verhalten! Dari scheint das alles überhaupt nicht zu interessieren. Stattdessen geht sie shoppen. Das muss man sich mal vorstellen!

Und was wird aus Maýla und Dustý? Herr jeh! Wir müssen einfach eine Lösung finden!

Und ich? Wo bleibe ich? Ich gehe arbeiten, mache den Haushalt, kümmere mich um die Kinder und verdammt noch mal … ja! Ich habe doch auch ein bisschen Glück verdient!

Eine gefühlte Ewigkeit schaute er seinen Slider an. Dann nahm er ihn zur Hand und ließ einen Code aus seiner Kontaktliste wählen. Er hielt den Slider an sein Ohr und begann zu sprechen: „Hey guten Abend, ich bin’s … Geht’s dir gut? ... Können wir uns sehen? ... Ja sofort, wenn du willst … bis gleich Toní.“ Dann kappte er die Verbindung.

In diesem Moment legte sich Darjana ins Bett. Sie war unruhig und spürte, dass Ascon ihr etwas verheimlichte. In der Hoffnung, etwas über das merkwürdige Verhalten ihres Mannes herauszufinden, hatte sie vor dem Zubettgehen die Tür zum Schlafzimmer ein kleines Stück offenstehen lassen.

Im Schlafzimmer war es still, der Wind schien nachgelassen zu haben. Sie achtete auf jedes Geräusch und starrte den Vollmond an, der durch die zugezogenen Gardinen leuchtete. Sie hörte leise ihren Mann sprechen, er schien zu telefonieren. Kurz darauf vernahm sie seine Schritte im Flur; dann wurde die Haustür leise zugezogen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie musste sich im Bett aufsetzen und legte ihre Hände an die pochenden Schläfen. Mit geschlossenen Augen überlegte sie. Er geht? Wohin denn jetzt schon wieder? Spazieren?

Grübelnd zog sie unter der Decke ihre Beine an, legte ihre Arme um sie und sah auf die Schlafzimmeruhr mit den einfachen Zeigern und Ziffern, die über die Tür gediegen blau leuchtete. Es war 21.30 Uhr, noch nicht zu spät. Sie nahm ihren Slider von Nachttisch, der durch die Bewegung leuchtete und sofort betriebsbereit war. „Toní anrufen“, sprach sie ins Mikrofon. Es tutete aus dem Minilautsprecher, aber die Freundin meldete sich nicht. Stattdessen wurde die Verbindung nach dem dritten Klingelzeichen getrennt. Darjana sah fassungslos ihren Slider an.

Was ist denn das? Warum bricht Toní einfach die Verbindung ab? Es kann sich doch nur um ein Versehen handeln, oder? Was ist denn nur mit Toní los? Schon heute Nachmittag im Auto wollte sie ein Telefonat nicht annehmen. Sie behauptete, dass sie nicht mit Unbekannten redete. Bullshit! Denkt sie denn, ich sei mit dem Klammersack gepudert?

Auch der zweite Versuch, ihre Freundin zu erreichen, scheiterte. Diesmal meldete sich sofort der Anrufbeantworter. Darjana schüttelte den Kopf und begriff nicht, warum Toní offensichtlich nicht mit ihr reden wollte. Sie fühlte sich äußerst unbehaglich.

Sie erinnerte sich an ein Ereignis vor ein paar Monaten. Damals hatte sie den Eindruck, dass Ascon sie für dumm verkaufen wollte.

Ok, sie hatte ihren 20-jährigen Hochzeitstag vergessen. So etwas war ihr noch nie passiert. Sie schob es auf den Stress, der in der Familie geherrscht hatte. Rabíýa war immer schlechter in der Schule geworden und ließ bis heute niemanden mehr an sich heran. Die Zwillinge waren sehr anstrengend, denn an ein Leben in der Stadt waren sie noch nicht gewöhnt. Den beiden fehlten Spielplätze und Freizeiteinrichtungen. Ihr Bambini-Tennistraining, das ihnen so viel Spaß gemacht hatte, hatten sie aufgeben müssen, da auch die Tennisplätze neuen Wohngebäuden weichen mussten.

An diesem wichtigen Tag hatte sie mit starker Migräne auf der Couch gelegen. Keine zehn Pferde hätten sie aus dem Haus bekommen können. Sie hatte zuerst überhaupt nicht gewusst, warum Ascon stinksauer die Wohnung verlassen hatte, aber etwas später war es ihr wieder eingefallen. Sie hatte ihr wichtiges Datum einfach vergessen!

Damals hatte Ascon seinen Slider ausgeschaltet, obwohl er das noch nie gemacht hatte, genauso wie jetzt Toní. Die ganze Nacht. Am nächsten Morgen hatte er ihr erzählt, er habe im Auto geschlafen und der Akku seines Sliders sei leer gewesen. Das konnte sie zwar nicht nachvollziehen, aber sie wollte es glauben.

Jetzt befand sie sich in einer ähnlichen Situation. Ihre beste Freundin, die sie jetzt dringend gebraucht hätte, ignorierte sie.

„Toní, Textmassage“, wies sie ihren Slider an, dann diktierte sie die Nachricht: „Ich bin’s, ich weiß nicht mehr weiter, alles läuft schief. Ascon ist weg. Senden“

Sie starrte das kleine Gerät an und hielt es so fest, dass das Blut aus ihren Fingern wich, doch sie wartete vergebens auf eine Antwort. Ein paar Minuten später unternahm sie noch einen Versuch: „Toní, Textmassage. Sorry, ich noch mal. Es ist dringend, bitte melde dich, ich kann echt nicht mehr. Du musst mir helfen. Brauche dringend deinen Rat! Kuss Dari!“ Der Slider jedoch schwieg.

Darjana fühlte sich wie eine Sprengladung kurz vor der Explosion. Das war alles zu viel. Sie spürte, wie ihr Herzschlag in ihrem Kopf hämmerte. Wütend trommelte sie mit den Fäusten auf die Bettdecke und hatte Angst, zu platzen. Am liebsten hätte sie laut geschrien.

Was ist bloß los mit uns? Seit Tagen habe ich kaum geschlafen, nicht viel gegessen und die Katastrophen geben sich die Türklinke in die Hand. Oh Gott und jetzt auch noch dieser Kredit! Ich kann ihn nicht zurückzahlen und kann nicht einmal mit Ascon darüber reden. Er ist ein gefühlloser Eisklotz geworden, er wird mir nicht helfen!

Meine Güte … vor ein paar Jahren war ich die glücklichste Frau der Welt! Wir hatten ein tolles Haus, führten eine wunderbare Ehe und es gab so gut wie nie Streit.. Ich will das wieder zurück!

Plötzlich hörte sie die Stimme ihrer mütterlichen Freundin Caramída, und sie sah sie im Geiste vor sich. Die 80-jährige sagte: „Dari, Menschen verändern sich nicht von heute auf morgen, sie haben nur keine Lust mehr, sich zu verstellen. Du kannst es nicht jedem Recht machen, denk an dich!“

Wie schön wäre es, jetzt mit ihr sprechen zu können!, dachte Darjana mit Tränen in die Augen. Wo ist sie nur? Caramída hat immer einen guten Rat, sie wüsste jetzt genau, was ich tun soll!

Sie nahm ihren Slider und wählte den Telefoncode der Hebamme, doch diesmal kam erst gar keine Verbindung zustande. Kein Anrufbeantworter, kein Tuten. Nichts.

Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so alleine gefühlt. Niedergeschlagen und leise weinend sank sie in die Kissen. Sie fühlte sich so elend wie an dem Tag, als sie ihr kleines Mädchen fremden Leuten überlassen musste. Damals war sie tagelang nicht ansprechbar gewesen. Sie hatte gedacht, es gäbe kein jämmerlicheres Gefühl als dieser Trennungsschmerz. So kann man sich irren.

Noch einmal setzte sie sich hoffnungsvoll im Bett auf und fasste sich ein Herz: „Ascon anrufen.“ „Guten Tag, sie sind mit dem Anschluss von Ascon Travennor verbunden. Leider kann ich ihren Anruf nicht persönlich entgegennehmen, freue mich aber, wenn sie eine Nachricht hinterlassen.“

„Rabíýa anrufen.“ „Dieser Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.“

 „Toní, Textmassage“, sagte sie erneut. „Toní, was ist denn los? Warum antwortest du nicht? So kenne ich dich gar nicht, ich hoffe, es ist dir nichts passiert.“

Seit ihrer Schulzeit waren sie befreundet. Sie hatten sich kennengelernt, als die damals achtjährige Darjana von einem Jungen aus ihrer Klasse verprügelt worden war. Dieser wollte unbedingt die Hausaufgaben von ihr abschreiben, aber Darjana sah nicht ein, die mühevoll erarbeitete Seite einfach herzugeben. Dass Benjí daraufhin komplett ausgerastet war, hatte sie nicht erwartet. Er zog sie heftig an den Haaren und trat ihr in den Bauch. Die Mitschüler, die im Schulhof um sie herum standen, hatten tatenlos zugesehen. Bis die kleine mollige Toní gekommen war. Sie hatte damals einen Selbstverteidigungskurs besucht und streckte kurzerhand den unbeliebten Mitschüler zu Boden. Seitdem waren sie unzertrennlich. Inzwischen kannten sie sich 47 Jahre, in denen sie Freud und Leid miteinander teilten und immer füreinander da waren. Dass Toní auf einen Hilferuf von ihr nicht reagierte, das hatte es vorher noch nie gegeben.

Darjana hatte das Gefühl, ihr Gehirn sei groß für ihren Kopf. Sie krallte ihre Fingernägel in die Bettdecke, zog sich diese über den Kopf und schloss die Augen. Was war nur los? Noch nie war Ascon einfach abgehauen. Noch dazu, ohne etwas zu sagen. Laut weinend kauerte sie sich unter ihrer Bettdecke zusammen und dachte an den Inhalt der Musikspieluhr, der alles Leid beenden könnte.

C. C. Howard - Projekt I1 - Der Anfang
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