Saýosha verließ den Fahrstuhl des Hochhauses. Im Eingangsbereich fiel ihm ein Fahrrad auf, welches ungesichert dort abgestellt war. Es schien funktionstüchtig zu sein; kurzerhand schwang er sich auf den Sattel und trat kräftig in die Pedale. Wem auch immer du gehörst, du bist ein Geschenk des Himmels! So bin ich viel schneller! Danke! Ich bringe dich auch wieder zurück!

Obwohl es leicht zu regnen anfing, fuhr er freudig Richtung Bunker und nach kurzer Zeit befand er sich wieder auf der Baustelle vor dem Hochhaus, an dem er Raphaele verloren hatte. Er hielt an, um auf den gestrigen Nachmittag zurückzublicken und versuchte, sich an die Einzelheiten zu erinnern. Kopfschüttelnd saß er auf seinem Drahtesel, den linken Fuß hatte er auf den Boden gestützt.

Er hat mich gesucht und ich war verschwunden. Ich glaube, ich spinne! Wie kann er so etwas behaupten? Er weiß doch genau, dass es nicht so war! Irgendwas stimmt doch mit ihm nicht!

Vorsichtig blickte er sich um, es waren weder grün bekleidete Männer, noch die protzige Limousine von gestern zu sehen. Also betrat er das riesige unfertige Gebäude und stellte das Fahrrad in einer Ecke ab. Die unverputzten, kahlen Wände wirkten kalt und die Aufzugschächte waren noch leer. Durch die fehlende Verglasung der hohen Fenster zog es mächtig. Er trat vorsichtig näher und stellte fest, dass die Trennwände für sechs Aufzüge noch nicht eingebaut waren. Ein riesiges ungesichertes Loch, in der Größe von Reeces Zimmer, führte etwa zwei Stockwerke nach unten, und als er am Rande des Schachtes nach oben sah, wurde ihm schwindelig, sodass er sich an der Mauer festhalten musste. Es tat sich ein gigantischer Schlund auf, der hoch oben schmaler zu werden schien.

Er ging durch die stille, menschenleere Halle. Alle Türen waren verschlossen und ließen sich nur mit dem passenden Code öffnen, den man in ein Zahlenfeld eingeben musste, das links neben der Tür auf Augenhöhe angebracht war. Schon gestern hatte er von draußen die Zahlenfelder gesehen und deshalb ein Stück Klarsichtfolie eingepackt, die Reece zum Abdecken der Lebensmittel verwendete. Dieses legte er auf das Nummernfeld und drückte es mit einem Wattebausch, den er in Reeces Badezimmer gefunden hatte, fest, sodass die Folie nicht auffiel. Saýosha arbeitete hoch konzentriert und sehr genau. Einige Male musste er die Ränder mit seinem scharfen Messer korrigieren; das hauchdünne Plastik musste haargenau passen. Dabei blickte er sich immer wieder um und sah durch die Glastür nach draußen, ob sich dort etwas oder jemand bewegte. Er stand hier direkt auf dem Präsentierteller und war jederzeit bereit, davonzusprinten, falls er entdeckt werden würde.

Als er fertig war, wischte er die Folie gründlich mit Watte ab. Keinesfalls durften seine Fingerabdrücke zurückbleiben, denn dann würde er nicht genau sehen können, welche Tasten gedrückt worden waren und die Arbeit wäre umsonst gewesen. Außerdem wusste er nicht, ob er mit den heutigen Bedingungen einfach nur Glück hatte. Es war ruhig, und niemand schien sich für ihn zu interessieren. Bauarbeiter, die ab und zu an der Tür vorbei liefen, schienen ihn nicht zu bemerken.

Dass sein Freund Raphaele ihn in seiner Not verraten hatte, und dass einer der Bauarbeiter normalerweise eine grüne Uniform trug, wusste er ja nicht.

Er wischte noch einmal kräftig über die Klarsichtfolie. So, das müsste reichen. Zufrieden packte er sein Messer und den Wattebausch wieder in seinen Rucksack. Dann verließ er auf seinem Fahrrad das Hochhaus.

Er freute sich auf seine Freundin, seit Langem war er wieder einmal verliebt. Die Stunden, die er mit Reece verbracht hatten, waren herrlich. Auf der einen Seite spannend, kurzweilig und lustig, auf der anderen Seite hocherotisch, wenn sie alleine waren und sich in ihrem Bett vergnügten. Sie war eine starke Frau, obwohl sie mit ihrer zierlichen Figur manchmal sogar zerbrechlich wirkte. Mit ihr konnte er sich alles vorstellen, und er hoffte, dass dieses wunderbare Gefühl niemals enden würde.

Dennoch musste Saýosha grübeln, während er kräftig in die Pedale trat. Er hatte ihr immer noch nichts von dem Streit mit seinem Bruder erzählt. Auch von seiner Vergangenheit wusste sie nichts. Er überlegte, was er ihr sagen sollte, falls sie ihn fragen würde, woher er den Trick mit der Folie kannte. Ach Schatz, das hat mir einer im Knast beigebracht!, schoss es ihm durch den Kopf, aber bei dieser Aussage wäre Reece wohl aus allen Wolken gefallen. Irgendwann musste er es ihr sagen, er wollte sich auf keinen Fall in Lügen verstricken. Nur wann? Wie?

Inzwischen hatte sich der Himmel verdunkelt und er schaltete das Licht an seinem Fahrrad ein. In der Ferne konnte man schon die ersten grellen Blitze sehen, und ein böiger, unangenehmer Wind kam auf. Saýosha strampelte, als wenn es um sein Leben ging, um dem aufziehenden Unwetter zu entkommen. Außerdem wollte er noch wollte er noch einen Elektroschocker besorgen. Es donnerte laut. Beinahe gleichzeitig leuchteten mehrere Blitze am Himmel auf, und der ein oder andere laute Knall verriet einen Blitzeinschlag.

Reece fiel ihm beim Betreten der Wohnung stürmisch um den Hals und gab ihm einen langen Kuss. Er hob sie ein Stück hoch, und während er sie küsste, drehte er sich mit ihr eine Runde im Kreis. Sie hatte sich vorgenommen, ihn nicht mit ihrer Angst vor Raphaele zu beunruhigen. Zum Glück es war ja gut gegangen.

In Saýoshas Abwesenheit hatte sie – zum zweiten Mal in dieser Woche - das große Fenster in ihrer Einzimmerwohnung geputzt, ihre fünf kleinen Küchenschränke ausgeräumt, gereinigt und wieder eingeräumt. Ebenso war sie mit dem Kühlschrank verfahren, nur, um nicht mit Raphaele auf der Couch sitzen zu müssen. Als sie schon gar keine Lust mehr hatte, putzte sie noch den Herd, obwohl sie abwechselnd fror und schwitzte. Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht, eine Erkältung hatte sich in ihren Körper geschlichen. Die Aktion gestern Abend auf der Feuerleiter hatte ihre Spuren hinterlassen und sie hoffte, dass sich ihr Geliebter nicht ebenso fühlte, er würde seine Kräfte für die vor ihm liegenden Aufgaben benötigen.

„Du warst schnell Schatz“, sagte sie erfreut und ihre grünen Augen strahlten wie große Smaragde.

„Ja, ich hab mir ein Fahrrad ausgeliehen, es stand da unten ganz alleine!“ Wieder war dieses breite, sympathische Grinsen auf Saýoshas Gesicht zu sehen, und Reece lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Sie strahlte ihn an und gab ihm einen Kuss auf seine schmalen Lippen. „Außerdem ging alles reibungslos vonstatten, ich habe alles erledigt, morgen sind wir einen Schritt weiter!“

Er streifte seinen Rucksack ab, zog Jacke und Schuhe aus, legte den Arm um Reece und ging mit ihr ins Wohnzimmer. Dort begrüßte er seinen Freund, der sofort die Zeitschriften zusammenräumte.

„Schön, dass du wieder da bist, Kumpel“, sagte Raphaele sichtlich erfreut.

„Es ist alles reibungslos verlaufen. Diesmal waren keine Uniformierten da, Gott sei Dank!“

„Ja Schatz, da hast du Glück gehabt. Was hast du denn gemacht?“, wollte Reece wissen.

„Nun ja … ich habe Folie auf ein Nummernfeld neben einer Tür geklebt. Morgen fahre ich wieder hin ziehe die Folie ab. Wenn ich sie dann ins Licht halte, sehe ich, welche Zahlen gedrückt worden sind und ich muss nur noch die Reihenfolge herausfinden. So ist der Plan!“, sagte er schmunzelnd.

„Oh wow, das ist genial!“, Reece war erstaunt, begeistert und dankbar, dass sie ihn kennengelernt hatte.

 „Morgen werde nicht vor verschlossenen Türen stehen!“, fuhr er lachend fort. „Werden wir doch mal sehen! Wäre natürlich genial, wenn die für alle Türen den gleichen Code hätten, aber das werden wir sehen!“

Reece umarmte ihn. „Und wie willst du morgen vorgehen?“

„Erstmal muss ich den passenden Code haben. Ich hoffe, dass das funktioniert und dann muss ich spontan entscheiden. Ich habe vorsichtshalber noch einen Elektroschocker besorgt.“ Er griff in seinen Rucksack und zeigte den beiden stolz und augenzwinkernd seine neueste Errungenschaft, die er gerade erst erstanden hatte.

„Das ist gut Schatz, aber bitte sei vorsichtig“, jetzt erst begriff Reece den Ernst der Lage. Sie wollte unbedingt ihre Schwester finden, aber dass sich ihr Geliebter wegen ihr in große Gefahr begab, wurde ihr erst nach und nach so richtig bewusst. Oftmals fragte sie sich, warum er dies tat.

Stillschweigend hatte Raphaele den Gesprächen der beiden Verliebten gelauscht. „Kumpel, wie ist es denn jetzt mit hier wohnen?“, fragte er aus heiterem Himmel und auf eine Art, die Saýosha mehr als stutzig zu machen schien. Reece sah in an, schüttelte kaum merklich den Kopf und putzte sich die Nase.

„Du hast dich erkältet Süße! Ist mir vorhin schon aufgefallen. Soll ich dir einen Tee machen?“, fragte er mit besorgtem Blick und Reece hatte das Gefühl, als wenn ihr die Sonne ins Herz scheinen würde.

„Danke Schatz, das ist lieb von dir, aber ich habe schon zwei Tassen getrunken“, antwortete sie dankbar lächelnd.

„Ich gehe euch auch bestimmt nicht auf die Nerven und es ist ja nicht für lange!“ Raphaele griff das Thema wieder auf.

Reece blickte zu Saýosha. Das darf nicht wahr sein, er gibt einfach keine Ruhe! Merkt er nicht, dass wir das nicht wollen?

„Du weißt, hier ist es eh schon eng und wir müssten zu dritt in einem Raum schlafen. Für frisch Verliebte ist das keine gute Lösung. Das ist dir doch klar oder?“, Saýosha schien ihre Gedanken lesen zu können.

Raphaele aber blieb beharrlich. „Ja das weiß ich doch! Aber wohin soll ich denn, ich habe doch sonst niemanden! Schau mal aus dem Fenster, bei dem Wetter kannst du mich doch nicht auf die Straße setzen!“ Nervös fuhr er sich mit den Fingern durch seine langen Haare und Reece sah in seinen Augen Verzweiflung.

„Hm … okay, dann bleib halt erstmal hier Kumpel. Ich denke, auch Reece bringt es nicht fertig, dich rauszuwerfen. Stimmt's Süße?“

Reece nickte stumm. Es war ihr nicht recht aber anscheinend hatte sie keine andere Wahl.

C. C. Howard - Projekt I1 - Der Anfang
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html
part0000_split_061.html