SAÝOSHA - Vermisst

„Was geht heute Abend?“, fragte Saýosha die Frau, die neben ihm auf dem gerade frei gewordenen Barhocker am Tresen Platz genommen hatte.

Nach der Aktion mit Raphaele in der Müllgrube hatte er in einer der öffentlichen Einrichtungen geduscht, sah supergepflegt aus und roch betörend. Danach war er ziellos durch die Stadt gelaufen und schließlich in der Gaststätte ‚Zur alten Eíche‘, eingekehrt, in der er vor seinem fünfjährigen Knastaufenthalt ab und zu den Abend verbracht und einige Frauen kennengelernt hatte. Ýoríck, der Wirt, hatte sich sehr gefreut, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen.

Nun war er schon eine gute Stunde hier und trank mittlerweile die vierte Flasche Bier. Bisher war es dem Sunnyboy fast immer gelungen, in einer Kneipe eine Frau abzuschleppen und diesmal dürfte das auch kein Problem sein. Er war charmant und kam bei Frauen gut an mit seinem kantigen Gesicht, dem Dreitagebart, den grau melierten Haaren, den Tattoos an den Armen und dem kleinen Knopf im rechten Ohr. In Jeans und Muskelshirt machte er außerdem eine sehr gute Figur.

Sie war viel jünger als er, er schätzte sie auf Mitte 20, aber das störte ihn nicht. Ihr kurzes schwarzes Haar umspielte ihr ovales, sehr schmales Gesicht und sie war von schlanker Figur, die er durch das weite Shirt halbwegs erahnen konnte. Hübsch, dachte er für sich und zwinkerte ihr zu. Ein Lächeln war die Antwort der jungen Frau. „Ýoríck, mach der Dame einen Drink auf mich“, rief er mit hochgezogenen Brauen, und seine wasserblauen Augen suchten den Wirt.

„Ich hab nur noch Bier“, tönte es aus der anderen Ecke der Kneipe und ein verschwitzter ungepflegter Mann mit fleckiger Schürze kam hinter dem Tresen hervor. „Alles andere ist aus. Die nächste Lieferung kommt erst übermorgen. Die haben alles gekürzt, ich kriege nur noch jeweils drei Flaschen Whisky, Rum und Wodka, und weiß der Geier, wann wieder Cola kommt.“ Er stellte zwei Flaschen Bier auf den Tresen und öffnete sie.

„Prost!“, die junge Frau ergriff eine Flasche und setzte sie schmunzelnd an ihren rot geschminkten Mund. Saýosha nahm die andere, nickte und prostete zurück. Ihr Lächeln und die wundervoll geschwungenen Lippen erinnerten ihn unwillkürlich an seine verstorbene Frau.

Er versuchte die Gedanken an das heftige Gewitter in dieser verhängnisvollen Nacht vor neun Jahren zu verdrängen, an die Blitzeinschläge in der ganzen Stadt, von denen einer ihr bescheidenes Reihenhaus getroffen hatte. Er schob die Erinnerung an die neugierig glotzenden Nachbarn, die Sirenengeräusche der Feuerwehr, die durch den dichten Verkehr viel zu spät kam, beiseite und versuchte, nicht an seine geliebte Frau Kelseý zu denken. Er war zu spät gekommen.

Schon von Weitem hatte er die Flammen und den Rauch gesehen und das Schlimmste befürchtet. Seine arme Frau war im Schlaf überrascht worden und an einer Rauchvergiftung gestorben, das hatten die späteren Ermittlungen ergeben. Als er kopflos Richtung Haus gerannt war, wurde er von einem Feuerwehrmann aufgehalten, der ihm beim Blick auf die lodernden Flammen schonend beizubringen versucht hatte, dass es für seine Frau keine Rettung mehr gab. Das war das erste Mal, dass er froh war, keine Kinder in die Welt gesetzt zu haben.

„Was hast du heute noch vor, schöne Frau?“, Saýosha fuhr sich durch die kurzen Haare und wandte sich seiner Nachbarin zu, um die grausamen Gedanken loszuwerden.

Diese plapperte fröhlich darauf los: „Was soll ich machen, außer hier rumzuhängen? Ich habe kaum etwas zu tun, mein Job ist futsch. Außerdem habe ich keine Familie mehr, und wenn ich ständig alleine zuhause bin, kriege ich Depressionen! Fernsehen darf ich nur vormittags, wo eh nichts läuft, und es gibt gerade soviel Wasser und Strom, dass es zum Kochen reicht. Also bleibt nur noch die Kneipe; hier bin ich wenigstens nicht allein. Mein Name ist Reece.“

Saýosha beobachtete sie interessiert, sie schien ihm zu gefallen. „Freut mich Reece, ich bin Saýosha. Saýosha Travennor. Bist du oft hier?“

„Ja im Moment fast jeden Abend. Ich wollte gerade etwas zu essen bestellen, hast du auch Hunger?“

Als Saýosha den Kopf schüttelte, wandte sie sich dem Wirt zu. „Hast Du was zu essen, Ýoríck?“, fragte sie den älteren Mann, der heute besonders lustlos wirkte und hinter dem Tresen lautstark einige leere Bierflaschen in Kästen verteilte. „Nur noch Salzkartoffeln, Bratkartoffeln oder Ofenkartoffeln. Alles wahlweise mit Ketchup oder Mayo“, war die knappe, unfreundliche Antwort. „Fleisch habe ich schon seit Wochen nicht mehr bekommen. Müsste mal schauen, ob noch Gemüse da ist …“

Reece wartete darauf, dass Ýoríck nach hinten in den Vorratsraum gehen würde, denn sie hatte Appetit auf Gemüse, aber als dieser sich nicht von der Stelle bewegte, sagte sie: „Dann nehme ich die Ofenkartoffel bitte.“

Sie hatte Mitleid mit dem schmalen, kleinen Mann, der bei einem Unwetter fast seine ganze Familie verloren hatte. Die einzige Tochter, die ihm geblieben war, hatte sich schon seit Tagen nicht mehr blicken lassen. Sie war 20 und das Verhältnis zu ihrem Vater war schlecht, seit sie mit ihrem arbeitslosen Freund zusammen war. Ýoríck war der Meinung, sie solle sich von ihm trennen. Deshalb hatte es ständig Streit gegeben, sodass Sýnke schließlich ausgezogen war und sich seitdem oft wochenlang nicht meldete. Als alleinstehender Mann hatte Ýoríck daraufhin seine schöne Wohnung räumen müssen. Diese wurde für eine Familie mit vier Kindern benötigt, die ihr ganzes Hab und Gut durch ein Unwetter verloren hatte. Außerdem musste er fast alle Besitztümer verkaufen oder entsorgen und wohnte seither im Büro seiner Kneipe.

Reece besuchte fast täglich die ‚Alte Eíche‘ und erfuhr so von dem Schicksal des einsamen Mannes. Wenn nach Mitternacht kaum noch Gäste in der Kneipe waren, hatte sie sich oft mit ihm unterhalten und kannte inzwischen seinen weichen Kern, den er vor seinen Gästen hinter einer harten Schale verbarg. Er war kein sehr unterhaltsamer Gesprächspartner, aber mit genügend Alkohol machte sogar eine Unterhaltung mit ihm Spaß.

Er ist vielleicht fertig, der arme Kerl, das hat er auch nicht verdient, dachte sie für sich und versuchte, nicht auf ihren knurrenden Magen zu achten.

Die rustikale Kneipe war wie immer sehr gut besucht und im Hintergrund liefen Oldies. Die meisten Gäste hatten sich auf die paar nackten Holztische verteilt, die an der Wand angeordnet waren, andere standen in Gruppen mitten im Raum, tranken Bier und unterhielten sich laut. Die alte Eiche in der Mitte des Raumes schien dem Erbauer sehr wichtig gewesen zu sein. Es wurde erzählt, dass er deshalb die Gaststätte um den Baum herum hatte bauen lassen, der mindestens doppelt so alt wie die Kneipe war und ihr den Namen gegeben hatte. Rundum hatte man einen Tresen angebracht, der zum Abstellen der Flaschen genutzt wurde. Die gleichmäßig verteilten Plastikpflanzen und die brennenden Kerzen an den Wänden machten das Ambiente gemütlich und rundeten das Bild ab. Durch die kleinen Fenster konnte man an schönen Tagen die letzten Sonnenstrahlen des Tages hinter den Hochhäusern verschwinden sehen. Heute jedoch regnete es und dicke Regentropfen liefen an den Scheiben herunter.

Reece sah sich den Fremden, der ihr das Bier bezahlt hatte, genauer an. Nicht schlecht. Er ist sicher eine Versuchung wert, es gibt ja sonst keinen Spaß mehr und wer weiß, was uns in dieser irren Welt noch alles bevorsteht.“

„Kommst du öfter her? Ich habe dich hier noch nie gesehen“, fragte sie lächelnd ihren attraktiven Nachbarn.

„Jetzt wo ich dich hier gefunden habe, werde ich bestimmt Stammgast hier“, antwortete Saýosha mit einem breiten Grinsen und funkelnden Augen. Reece fühlte sich geschmeichelt und bekam einen roten Kopf.

In diesem Moment kam Ýoríck aus der Küche zurück und stellte die große dampfende Knolle - in Folie eingewickelt und mit einigen Kräutern liebevoll auf einem kleinen Teller angerichtet - vor Reece auf den Tresen. „Einmal Ofenkartoffel, guten Appetit!“

„Lass es dir schmecken“, fügte Saýosha hinzu.

Reece bedankte sich, machte sich hungrig über ihr Essen her und suchte nach einem Gesprächsthema, das nicht zu persönlich war, während der interessante Mann sie nicht aus den Augen ließ. „Du sag mal …“, kauend sah sie Saýosha an. „Stimmt es, dass das Land kleiner geworden ist und die Stadt bald aus allen Nähten platzen wird?“

„Ja, das stimmt leider! Schaust und liest du keine Nachrichten?“, fragte er erstaunt.

„Kunststück“, sagte Reece, „ich darf seit zwei Wochen nur nachts von vier bis fünf Uhr fernsehen!“

Saýosha lachte. „Prima Uhrzeit! Naja … das Festland wird immer kleiner, Reece. Das Meer kommt langsam näher und die Menschen, die in der Nähe des Wassers wohnen, flüchten in die Stadt, aus Angst vor Überschwemmungen. Inzwischen haben schon Tausende ihre Bleibe verloren.“

„Wie furchtbar, die armen Leute!“, erwiderte sie und schob sich eine Gabel mit Kartoffelfruchtfleisch in den Mund.

„Nicht nur sie sind arm, auch wir hier, in der Stadt. Ich habe keine Wohnung mehr, die haben mich rausgeschmissen. In meinem Zimmer wohnt jetzt eine Familie mit einem Kind und ich lebe auf der Straße.“ Dass er fünf Jahre seines Lebens im Knast verbracht hatte und nun wegen Diebstahls vorbestraft war, verschwieg er ihr. „Bedarf nennt man das. So wie mir geht es vielen Männern. Schau dir Ýoríck an, seit er alleine ist, muss er in der Kneipe wohnen. Unglaublich!“

„Ja ich weiß, der Arme! Die ganze Stadt quillt über vor Menschen und es gibt immer mehr Obdachlose! Ich gehe nur noch ungern alleine raus auf die Straße, ständig werde ich blöd angemacht!“, erwiderte sie, aber als sie Saýosha sah, der diese Bemerkung offenbar persönlich nahm und eine Augenbraue nach oben zog, fügte sie schnell hinzu: „Oh nein, du nicht, du bist einer der Netten!“

„Na das will ich doch hoffen!“, rief er und lachte laut. „Aber ich kann dich verstehen. Nachher bringe ich dich nach Hause, wenn du magst.“

„Ja, gerne … vielen Dank!“, rief Reece erfreut und nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Letzte Woche habe ich ein Gespräch mitbekommen zwischen zwei Männern, die dort drüben am Tisch saßen. Sie haben gesagt, es würde bald alles besser werden, die Regierung hätte einen Plan oder so … Ich konnte es nicht genau verstehen, aber es hatte etwas mit der Überbevölkerung zu tun. Mehr habe ich leider nicht mitbekommen, weil sie zu weit weg waren und dann die Musik auch wieder anfing. Weißt du etwas darüber Saýosha?“

„Ach, es wird viel geredet, du solltest nicht alles glauben, was du hörst, Süße. Ich weiß jedenfalls nicht, was für ein Plan das sein soll.“

Reece war inzwischen fertig mit Essen. Sie schaute ihren Nachbar interessiert an, er gefiel ihr und schien nett zu sein. Dass er keine Wohnung hatte, war nichts Ungewöhnliches für sie. Mittlerweile hatte sich herumgesprochen, dass Wohnungen nur an Paare, Frauen-Wohngemeinschaften und Familien mit Kindern abgegeben wurden. Sie schob ihren leeren Teller weg und fasste sich ein Herz: „Du hast gesagt, du schläfst auf der Straße … hm … was hältst du davon, wenn du nachher mitkommst zu mir?“

„Gerne“, erwidere Saýosha und zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Darf ich dir noch ein Bier spendieren?“

„Ja gerne, Herr Travennor“, sagte sie mit einem Zwinkern und ihre schönen smaragdgrünen Augen strahlten. „Ich lebe nicht weit von hier in einer kleinen Wohnung, da sind wir ungestört. Eigentlich wohne ich mit meiner Schwester zusammen, aber sie ist im Moment nicht da, so haben wir unsere Ruhe.“ Sie lächelte ihn an. „Ich hoffe doch, du kannst über Nacht bleiben?“

„Ich wüsste nicht, was dagegen spricht“, entgegnete er und grinste breit übers ganze Gesicht.

Reece fielen seine makellosen weißen Zähne auf und ein winzig kleiner, silberfarbener Ohrstecker, der in seinem rechten Ohrläppchen steckte. Irgendetwas hatte dieser Mensch neben ihr, und dieses Etwas zog sie magisch an. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe, und wenn er mit ihr sprach, löste dies ein heftiges Kribbeln in ihrem Bauch aus. Sie wollte mit ihm alleine sein und war sich im Klaren darüber, dass es nicht bei netten Gesprächen bleiben würde. „Lass uns gehen, wir trinken bei mir noch ein Bier okay?“

„Okay“, Saýosha nicke zustimmend, bezahlte die Rechnung, die auch Reeces Essen beinhaltete, nahm ihre Hand und sie verließen gemeinsam das Lokal. Sie schlenderten gut gelaunt und etwas angetrunken den noch immer belebten Gehweg entlang bis zu Reeces Wohnung. „Das ist ja ein Ding“, sagte er, als sie den Hausflur betraten. „In diesem Haus wohnt auch mein Bruder!“

Schon im Aufzug küssten sie sich und freuten sich auf eine gemeinsame schöne Nacht, die erst mit dem Sonnenaufgang zu Ende gehen, aber ihr ganzes Leben verändern würde.

C. C. Howard - Projekt I1 - Der Anfang
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