DARJANA - Hoffnung

Am Abend machten sich Maýla und Dustý niedergeschlagen und verfrüht auf den Nachhauseweg. Auf das geplante Abendessen hatte nach dem Auftritt von Rabíýa keiner der Familienmitglieder mehr Lust. Die Verabschiedung war irgendwie merkwürdig. Ihre Mutter weinte, als Darjana sie den Gang hinunter zum Fahrstuhl brachte und auch ihr Vater war ungewohnt wortkarg. In seinen Augen lag eine eigenartige Schwermütigkeit, als er sie wie immer zum Abschied auf die Wange küsste.

Danach brachten Darjana und Ascon die Zwillinge gemeinsam zu Bett, und nachdem sie eingeschlafen waren, setzten sich die Eltern ins Wohnzimmer, um über die neuen Gegebenheiten zu reden. Darjana saß ihrem Mann gegenüber auf der Couch, obwohl sie jetzt dringend seine Nähe gebraucht hätte, aber er wollte in seinem geliebten Fernsehsessel sitzen bleiben.

„Wieso hast du gesagt, sie hätte keine Ahnung, in welcher Notlage sie sich befindet?“, griff Darjana den Satz auf, der ihr keine Ruhe ließ, und rückte gespannt auf dem Sofa nach vorne.

 „Darjana …“, begann er zögernd, „ich hatte gehofft, es dir nicht sagen zu müssen …“

„Was ist denn jetzt schon wieder Ascon?“, fragte sie alarmiert. Nur bei schlechten Nachrichten sprach ihr Mann ihren vollen Vornamen aus und sie hatte panische Angst vor weiteren schlechten Nachrichten.

„Na ja … ich bekomme draußen so einiges mit. Es verschwinden Frauen … spurlos … und die meisten davon sind schwanger“, brachte er stockend hervor.“

„Ach du meine Güte, wieso hast du mir nichts davon erzählt?“, Darjana war schockiert. Das wird ja immer besser, würde er mir auch einen ausbrechenden Krieg verschweigen? Er behandelt mich wie ein kleines Kind!

„Na ja … es ist viel passiert und ich wollte dich nicht damit belasten, Darling. Ich hoffe, du verstehst das.“

Darjana ignorierte diesen Satz. „Und jetzt denkst du, es könnte auch Rabíýa so passieren?“

„Du weißt, ich rechne immer mit dem Schlimmsten. Aber ich denke, dass jetzt noch keine große Gefahr besteht. Der Chip meldet die Schwangerschaft nicht gleich am Anfang, sondern erst nach vier Monaten, wenn es stimmt, was ich gehört habe. Aber wir wissen auch nicht, im wievielten Monat sie ist …“, Ascon atmete tief ein. „Man sieht es noch nicht, also dürfte sie noch nicht sehr weit sein.“

Darjana war zutiefst bestürzt. Sie mussten Rabíýa finden, bevor es zu spät war, so viel stand fest, aber die beiden hatten keine Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte. Bei ihrer Freundin Zhara war sie nicht und andere Freunde waren ihnen nicht bekannt.

„Wir kennen sie gar nicht, da siehst du es“, sagte Darjana und trank einen Schluck Tee. „Wir sind ratlos, haben keine Ahnung, was sie in ihrer Freizeit macht. Oh Gott, hoffentlich ist ihr nichts passiert!“

„Hm … ich hoffe, sie ist vernünftig und meldet sich. Ich weiß nicht, was wir noch machen könnten“, sagte Ascon und zuckte ratlos mit den Achseln.

Stille herrschte im Raum, Darjana grübelte und die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich ihr ganzes Leben verändert.

Wo ist Rabíýa? Hoffentlich geht es ihr gut … Ist sie vernünftig genug, um einzusehen, dass sie uns jetzt besonders braucht? Und meine Eltern, was machen wir bloß? Jetzt, da Rabíýa schwanger ist, können wir sie unmöglich aufnehmen. Zu acht in vier Zimmern … das geht wirklich nicht. Fragen über Fragen … ich werde noch verrückt!

„Das hast du jetzt davon, ich habe es dir gleich gesagt“, warf sie ihrem Mann lautstark vor. „Wir haben sie verjagt! Wer weiß, wo sie jetzt ist, hoffentlich passiert ihr nichts! Es ist mitten in der Nacht und sie ist ganz alleine irgendwo da draußen! Du bist schuld! Du ganz alleine bist schuld!“ Tränen liefen über ihre blassen Wangen, sie weinte hemmungslos und schlug die Hände vors Gesicht.

Ascons Reaktion auf ihre Vorwürfe machten das alles nicht besser. „Nun übertreib nicht wieder Dari! Es ist gerade erst zehn Uhr! Außerdem ließ sie uns ja keine Chance für eine Erklärung“, sagte er gelassen und trank an seinem Tee.

„Was hat das damit zu tun? Du hast gesehen, wie übel sie drauf war! Hast du das nicht gemerkt? Vielleicht hat sie kurz vorher erst erfahren, dass sie ein Baby bekommt, was meinst du? Wer ist überhaupt der Vater? Wusstest du, dass sie einen Freund hat?“

„Jetzt hör doch damit auf Dari! Wenn du mir dauernd Vorwürfe machst, kommen wir auch nicht weiter!“, sagte er. Dann stand er auf, nahm seine Slider vom Tisch und steckte ihn ein. „Ich halte es nicht mehr aus, ich muss kurz runter an die frische Luft!“ Mit diesen Worten verließ er die Wohnung.

Darjana blickte ihm fassungslos hinterher und saß noch einige Minuten ernst und mit gesenktem Blick auf der Couch. Dann trank sie ihren Tee und ging müde und erschöpft zuerst ins Bad und dann ins Bett. An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Sie wunderte sich über den nächtlichen Spaziergang ihres Mannes. Das hatte er noch nie gemacht, aber immerhin war es sein gutes Recht, frische Luft zu schnappen. Sicher war auch er mit der Situation überfordert und wollte einfach einmal durchatmen.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Haustür summen hörte. Ascon kam zurück. Sie hörte, wie er seinen Mantel im Flur aufhängte und ins Wohnzimmer ging. Darjana lag oft nachts wach und kannte jedes Geräusch in der Wohnung. Sie war enttäuscht, dass er nicht zu ihr ins Bett gekommen war. Sie fühlte sich elend und machte sich große Vorwürfe, den Streit provoziert zu haben, dennoch nahm sie sich vor, ihn vorerst nicht darauf anzusprechen.

Was habe ich nur falsch gemacht, ich wollte doch nur vernünftig mit ihm reden. Warum sieht er denn nicht, was vorgeht? Wir kommen überhaupt nicht weiter. Er hat sich so verändert, wir haben doch immer alles miteinander besprechen können ...

In diesem Augenblick wurde die Schlafzimmertür geöffnet. Darjana lag mit geschlossenen Augen im Bett und spürte ihren Mann auf sich zukommen. Sie beschloss, sich schlafend zu stellen, denn sie wollte nicht mit ihm reden. Sie hätte sich gewünscht, dass er sich zu ihr ins Bett gelegt und sie in den Arm genommen hätte. Dass er sich entschuldigen würde und alle Probleme vergessen waren. Sie musste jedoch erstaunt feststellen, dass Ascon das Schlafzimmer wieder verließ.

Zum Glück wurde sie bald von der Müdigkeit übermannt, der Tag mit ihren Eltern war sehr anstrengend gewesen. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf, wurde oft wach und ging zur Toilette, weil sie nicht sofort wieder einschlafen konnte. Noch immer war das Wohnzimmer schwach erleuchtet. Sie stellte sich vor, dass Ascon in seinem Fernsehsessel in eine Zeitschrift vertieft war, denn in der Nacht funktionierte der Fernseher nicht.

Gegen fünf Uhr wurde sie erneut wach. Ascon lag schlafend und leise schnarchend neben ihr, das Gesicht zur Wand gedreht. Sie stand auf, zog ihren Bademantel an, ging ins Wohnzimmer, nahm die Musikspieldose aus der Schublade im Schrank und setzte sich auf die Couch. Dann öffnete sie den Deckel, nahm den Schlüssel heraus und steckte ihn in die dafür vorgesehene Öffnung. Nach ein paar Umdrehungen erklang das alte Schlaflied und sie begann, in Erinnerung an die verlorene Welt, erneut zu weinen.

Nachdem es verklungen war, blieb sie noch einen Moment stillschweigend und nachdenklich sitzen. Dann nahm sie den doppelten Boden aus der Schachtel und kontrollierte, ob der wichtige Inhalt noch vorhanden war. Zufrieden schloss sie den Deckel, stand auf, ging zurück ins Schlafzimmer und schlief endlich ein.

C. C. Howard - Projekt I1 - Der Anfang
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