SAÝOSHA - Lügen
Am nächsten Morgen saßen Saýosha und Reece gemeinsam bei einer Tasse Kaffee im Wohnzimmer und sahen sich auf ihren Slidern gespannt die Fotos von den Unterlagen an, die sie in der vergangenen Nacht in der Praxis von Dr. Zumbronn geschossen hatten.
„Siehst du, da steht es“, sagte Saýosha, der seinen Blick, genauso wie Reece, auf ein abgelichtetes Stück Papier aus der Akte von Kaýleen richtete. Er sprach das Wort „größer“ in das Gerät, damit sie den Text besser lesen konnten. „Sie haben deine Schwester in den Bunker gebracht. Aber warum nur vorübergehend? Und was soll …“
Das zweimalige Klingeln an der Tür unterbrach seine Frage. Er sah seine Freundin erstaunt an und Reece erwiderte seinen überraschten Blick. „Wer kann das sein?“
„Wir erwarten doch niemanden oder?“, fragte Reece im Hinausgehen und kurz darauf rief sie erfreut: „Schatz? Komm her, dein Freund Raphaele ist da!“
„Was? Rapha ist da?“, Saýosha eilte in den Flur, wo er beinahe über Reeces High Heels stolperte. Hier war es sehr eng, nicht einmal für eine Garderobe oder einen Schuhschrank war Platz. Reece hatte provisorisch einige Haken an der Wand angebracht, um Kleider aufzuhängen, und ihre Schuhe standen übereinandergestapelt an der Wand.
Raphaele lächelte. Es war nicht zu übersehen, dass er sich freute. Saýosha nahm ihn fest in die Arme und klopfte ihm ein paar Mal auf die Schulter. „Mensch da bist du ja! Was für ein Glück, wo hast du denn gesteckt? Was ist passiert?“, fragte er erleichtert.
„Jetzt lass ihn doch erstmal reinkommen, sich ausziehen und hinsetzen Schatz!“, sagte Reece, die offenbar sehr erleichtert war. Saýosha wusste, dass sie Angst hatte. Denn als er am gestrigen Abend ohne Raphaele zurückgekehrt war, hatte für sie kein Zweifel bestanden, dass auch er nicht mehr auftauchen würde.
Saýosha und Raphaele setzten sich auf die Couch, während Reece in der Kochnische eine weitere Tasse für den unerwarteten Heimkehrer aus einem Hängeschrank holte. Dabei musste sie sich strecken, ihr Pullover rutschte etwas noch oben und gab den Blick auf ihre Haut frei. Saýosha schmunzelte.
„Ich bin gespannt, was du zu erzählen hast“, sagte sie, während sie zum Tisch ging und Kaffee einschenkte. Dann setzte sie sich neben ihn und betrachtete sein Gesicht und seine Hände genau. „Verletzt bist du ja anscheinend nicht. Gott sei Dank!“
Raphaele hatte vermutlich ihre prüfenden Blicke gespürt und sah Saýosha an. „Also, wie ihr seht, ist mir nichts passiert! Du warst auf einmal weg, Kumpel! Ich habe dich gesucht, wo warst du denn? Mensch ich hatte Schmerzen und konnte kaum noch laufen! War echt ein klasse Zug von dir, mich einfach hängen zu lassen! Vielen Dank!“
„Waaas? Ich bin doch extra wegen dir nicht ins Haus rein!“, sagte Saýosha entrüstet. „Damit du mich nicht aus den Augen verlierst Mann! Aber plötzlich warst du verschwunden und mit dir dieses Bonzen-Auto! Wie vom Erdboden verschluckt! Wie kannst du so was Bescheuertes behaupten?“ Er sah Raphaele an, als habe dieser sich gerade in ein bellendes Huhn verwandelt. Mit vielem hatte er gerechnet, aber damit nicht. Er hatte Raphaele als ehrlichen Menschen kennengelernt, der für andere eher zu viel als zu wenig tat. Aber, dass er auf einmal log … damit konnte er überhaupt nichts anfangen.
Auch Reeces Augen wurden immer größer.
„Jetzt bin ich ja wieder da Leute ok?“, Raphaele versuchte, vom Thema abzulenken, aber Reece ließ nicht locker. „Jetzt warte mal Rapha … ich finde, ihr solltet das erstmal klären. Du sagst, Ýosha war weg und er sagt es umgekehrt? Nicht wahr Schatz?“
Saýosha nickte, und zu Reece gewandt sagte er: „Ich verstehe es auch nicht Süße, ich bin doch nicht bescheuert!“ Dabei fuchtelte er ratlos mit seinen Armen in der Luft herum.
„Meinst du ich?“, Raphaele blieb felsenfest bei seiner Version der Vorfälle des gestrigen Abends, aber Saýosha begann, an seinem Verstand zu zweifeln.
Vielleicht habe ich ihn doch übersehen? ... Klar, einen Zweimetermann, den übersehe ich einfach? Das gibt’s doch nicht! ... Aber wenn er sich geduckt oder kurz hingesetzt hat? ... Habe ich wirklich alles abgesucht? ... Habe ich lange genug gewartet?
Er zog die Augenbrauen nach oben, auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten. Gleichzeitig stütze er seinen Kopf auf seiner Hand ab, so, als ob dieser vom Grübeln plötzlich schwerer geworden wäre. Dann stellte er Raphaele eine Frage: „Ok, aber wenn das stimmt, was du sagst … wieso kommst du dann jetzt erst? Also ich meine, das ist doch mittlerweile über 15 Stunden her!“
Raphaele antwortete: „Ich habe mich in den Baustellen verlaufen, sorry.“
Saýosha fiel vom Glauben ab. „Also jetzt mach aber mal einen Punkt! Wie kann man sich denn in den Baustellen verlaufen? Es gibt doch keine bessere Orientierung als die Hochhäuser! Du warst doch nicht mehr betrunken oder?“
„Na ja ich musste mich erstmal ausruhen, wegen meinem Fuß“, verteidigte sich Raphaele, hob sein Bein ein wenig hoch und deutete auf seinen Schuh. „Hab mich in einen Hauseingang gesetzt und bin dort eingeschlafen. Als ich dann wach wurde und los bin, war es dunkel und ich wusste nicht mehr, woher wir gekommen waren! Sieht doch alles gleich aus!“ erwiderte er und trank an seinem Kaffee.
„Also ich weiß nicht Rapha, so langsam zweifele ich an mir selbst“, sagte Saýosha betreten. „Vielleicht war es ja wirklich so.“
„Ja natürlich war es so! Oder warum sollte ich das erzählen, wenn es nicht stimmt, hm?“, erwiderte Raphaele und Saýosha ließ in seinem Kopf die Situation noch einmal Revue passieren.
Reece drehte abwechselnd ihren Kopf nach links zu dem Rückkehrer und nach rechts zu ihrem Freund. Keiner sagte ein Wort. Die Stimmung im Wohnzimmer war bis zum Zerreißen gespannt, bis Raphaele mit lautem Husten die Stille unterbrach. Es hörte sich an, als wenn er einen Kloß herauswürgen wollte. Sein Kopf lief rot an und Reece klopfte ihm einige Male fest auf den Rücken. Als der Hustenanfall vorbei war, atmete er tief durch. „Danke Reece … sorry …“, dann sah er sie an fragte: „Äh … ich wollte noch was fragen … Kann ich erstmal hier schlafen? Da steht ja noch das Bett deiner Schwester, das würde mir reichen.“ Er drehte sich etwas herum und zeigte nach hinten auf Kaýleens Schlafstätte.
Reeces freundliches Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und sie blickte ratlos zu Saýosha, der perplex mit den Achseln zuckte. Er sah ihr an, dass sie ganz und gar nicht begeistert war. Er vermutete, dass Reece das Gefühl hatte, Kaýleen zu verdrängen, wenn jemand anderes in ihrem Bett schlafen würde. Außerdem war in der kleinen Wohnung schon für zwei Leute zu wenig Platz. Wenn Raphaele jetzt auch noch hier wohnen würde, hätten sie beide keinerlei Privatsphäre mehr.
„Ich muss mir das überlegen Rapha. Ok?“, brachte sie stockend hervor.
Wieder beherrschte erdrückendes Schweigen den Raum. Keiner wusste so recht, was er sagen sollte. Saýosha ging in Gedanken noch immer Schritt für Schritt die Situation des gestrigen Abends durch, und ihm war klar, dass sich Reece gerade die neue Wohnsituation ausmalte, von der auch er nicht begeistert war.
Raphaele hatte Magenschmerzen, es fiel ihm unsagbar schwer, dieses Schauspiel abzuliefern, ihm war aber klar, dass er keine andere Wahl hatte. Sein Herz schlug vor Aufregung so unruhig wie ein kaputtes Uhrwerk. Irgendwie musste er es schaffen, dass er hier wohnen durfte, dann wäre alles einfacher. Aber bei diesem Gedanken fühlte er sich alles andere als wohl. So ein Mist, warum hab ich nicht besser aufgepasst?
Er dachte zurück an den gestrigen Abend. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war Saýosha, der in unerreichbarer Ferne im Eingangsbereich des neu gebauten Hochhauses gestanden und ungeduldig mit seinen Armen herumgewedelt hatte. Offenbar wollte er ihm klar machen, dass er sich beeilen sollte, doch Raphaele hatte keinen Schritt mehr laufen können. Bei jeder Belastung fühlte es sich an, als würde ihm jemand ein Messer in seinen Fuß bohren, der auf das doppelte seiner Größe angeschwollen zu sein schien. Schweiß stand auf seiner Stirn und er hatte sich zentimeterweise weitergequält. Komm, noch etwa dreißig Meter, beiß die Zähne zusammen, das schaffst du Rapha!, war das Letzte gewesen, was ihm durch den Kopf gegangen war, bevor er einen dumpfen Schlag auf seinen Hinterkopf spürte, es um ihn herum schwarz wurde und er ohnmächtig zusammenbrach.
Als er aufgewacht war, befand er sich mit knurrendem Magen in einer düsteren Zelle ohne Essen und Trinken. Er war sich sicher gewesen, zurück im Knast zu sein, aber dass man Gefangene im Dunkeln verhungern und verdursten ließ, davon war ihm nichts bekannt. Die ganze Nacht über hatte er auf seiner Pritsche das Öffnen der Tür zum Verhör erwartet, aber nichts war passiert. Am frühen Vormittag besuchten ihn dann zwei Männer in grünen Uniformen, und ihm wurde bewusst, dass das nicht das Gefängnis war. Dort trug man Blau.
Die beiden Unbekannten hatten ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er ihre Anweisungen zu befolgen habe. Ansonsten würden sie den Ausbrecher der Polizei ausliefern und der Tod wäre ihm sicher. Offensichtlich wussten die Uniformierten auch, wo sich seine Mutter befand, denn sie hatten damit gedroht, Caramída zu foltern, falls Raphaele nicht erwartungsgemäß funktionieren würde. Künftig hatte er haarklein über alles zu berichteten, was die Menschen in seiner Umgebung über die verschwundenen Frauen herausgefunden hatten.
Raphaele hatte seine Mitarbeit zugesichert und unterschrieben, nachdem er fassungslos den Worten der Uniformierten gelauscht hatte. Unglaublich! Die Männer wissen schon die ganze Zeit, dass ich aus dem Gefängnis nach ‚Phérsír‘ geflohen bin und denen ist bekannt, wo ich mich aufgehalten habe. Die wissen sogar von meiner Mutter! Aber sie ist am Leben, Gott sei Dank!
Der Größere der beiden gab Raphaele die Kopie eines Schriftstückes, das er gegengezeichnet hatte, dann brachten ihn die Uniformierten mit verbundenen Augen zu dem Platz zurück, an dem er das Bewusstsein verloren hatte.
Jetzt, auf dem Sofa mit Reece und Saýosha, die beide so froh gewesen waren, ihn zu sehen, fühlte sich Raphaele überhaupt nicht wohl in seiner Haut. Sein ehemaliger Knastbruder war der beste Freund, den er je hatte. Er hatte ihm zum Ausbruch verholfen, sich sogar selbst strafbar gemacht und in große Gefahr gebracht. Noch nie hatte jemand etwas Derartiges für ihn getan.
Bei jeder Lüge, die er den beiden erzählte, drehte sich ihm der Magen um. Er war sich nicht sicher, ob er jemals wieder in einen Spiegel würde blicken können; das war schlimmer als zehn Jahre Knast. Aber hatte er eine Wahl? Er liebte seine Mutter über alles, sie war die einzige Angehörige, die ihm geblieben war. Immer wieder stellte er sich dieselbe Frage: Warum ausgerechnet ich? Vielleicht weil ich durch meine Vergangenheit und durch meine Mutter so wunderbar erpressbar bin? Schweine!
Unbeholfen wanderten seine Augen an der gegenüberliegenden Küchenzeile entlang, die nur durch eine schmale Theke vom Wohnzimmer abgetrennt war, durch den kleinen, gemütlich eingerichteten Wohnraum, bis sein Blick am Slider von Reece hängen blieb. Er fasste sich ein Herz, sah jedoch weder Saýosha noch dessen Freundin an. „Ach … ich sehe, ihr habt Unterlagen fotografiert?“, sagte er und deutete auf das kleine Gerät, das noch auf dem Tisch lag. „Was habt ihr denn herausgefunden?“
Saýosha nahm den Slider von Reece in die Hand. Unbedarft erzählte und zeigte er ihm alles, was sie bisher entdeckt hatten. „Die Drahtzieher sind die von einem ‚Projekt I1‘ - steht hier - aber wer die sind und was die vorhaben, kann man aus den Unterlagen leider nicht erkennen. Kaýleen ist im Bunker, das wissen wir jetzt sicher. Wir hatten es ja schon vermutet. Leider haben wir aber keine Unterlagen von deiner Mutter gefunden. Ich schätze, sie ist auch dort eingesperrt. Was meinst du Rapha?“ Er schaltete den Slider von Reece wieder aus und legte ihn auf den Tisch zurück.
„Ja möglich“, murmelte Raphaele, obwohl er genau wusste, dass seine Mutter tatsächlich dort eingesperrt war. Er hörte seine eigene Stimme so, als wäre sie meilenweit entfernt. Er musste den Unwissenden spielen, und das fiel ihm fast noch schwerer, als zu lügen. Seine unfreiwillige Rolle als Spitzel überforderte ihn völlig. Verlegen nippte er an seinem Kaffee.
Saýosha beobachtete ihn. „Alles in Ordnung Kumpel?“
„Äh … ja klar, was soll denn sein?“, antwortete dieser, blickte stur in sein pechschwarzes Getränk und versuchte, eine Unschuldsmine aufzusetzen. Es war ihm unmöglich, seinem Freund in die Augen zu schauen. Mensch Rapha! Reiß dich zusammen!, sagte er zu sich selbst. Denk dran, was die gesagt haben!
„Also ich weiß nicht Rapha, irgendwas stimmt doch nicht“, Saýosha ließ nicht locker.
„Ja ... du bist … wie soll ich sagen … irgendwie seltsam, finde ich auch“, meinte Reece, die die beiden die ganze Zeit über schweigend beobachtet hatte. Saýosha bestätigte sie: „Los Kumpel, rück mit der Sprache raus, wir machen uns Sorgen!“
„Es ist wirklich alles in Ordnung“, war Raphaeles Reaktion. Ihm ging dieses Schauspiel vollkommen gegen den Strich. Er schwitze jetzt stark und der Schweiß stand auf seiner Stirn. Noch nie in seinem Leben war ihm derart unbehaglich zumute gewesen, nicht einmal damals bei der Gerichtsverhandlung, als er unschuldig wegen Mordes verurteilt wurde, um sein restliches Leben im Gefängnis zu verbringen.
„Nun gut … lange genug ausgeruht. Ich fahre jetzt noch mal zum Bunker. Ich denke, ich nehme den Bus, wenn es nicht allzu voll ist. Wer kommt mit?“, fragte Saýosha, der ungeduldig an seiner Unterlippe kaute.
Reece schüttelte den Kopf. „Ich nicht Schatz, bitte! Ich bin noch fix und fertig von gestern, so eine Aktion schaffe ich kein zweites Mal. Das halten meine Nerven nicht aus. Sei bitte nicht böse ja?“
„Nein Süße, wie könnte ich dir böse sein“, Saýosha zwinkerte und warf ihr verliebt einen Kuss zu.
Raphaele versuchte, sich herauszureden, er wollte ihn keinesfalls begleiten. „Also ich kann leider auch nicht mit, ich muss endlich meinen Fuß schonen, sonst wird er nie besser“, sagte er und hielt ihn in die Höhe. „Seht ihr? Er ist ganz dick!“
Reece betrachtete seinen rechten Fuß und Raphaele hoffte, dass sie ihm nicht widersprechen würde. Das tat sie auch nicht; sie nickte.
Saýosha hingegen sah ihn skeptisch an. „Hm.. okay, verstehe. Schade. Dann gehe ich alleine, wir müssen vorwärtskommen, wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt …“
Raphaele senkte den Blick und fixierte seine Kaffeetasse. Er befürchtete, dass ihn sein Freund durchschaut hatte. In diesem Moment hatte er das Gefühl, als ob die Worte ‚Spion‘ auf seiner Stirn stehen würden.
Saýosha gab seiner Freundin einen Kuss, stand auf und verabschiedete sich. Im Hinausgehen drehte er sich noch einmal um, und warf Reece einen Handkuss zu, den sie dankbar lächelnd erwiderte. Dann sagte er zwinkernd zu Raphaele: „Pass gut auf mein Mädel auf!“
Raphaele war erleichtert, dass die beiden ihn nicht weiter bedrängten. Das Ausspionieren war schlimm genug für ihn, aber noch zusätzlich eine Komödie abliefern, wenn sie unterwegs waren … das hätte er nicht fertiggebracht. Deshalb hatte er seinen verletzten Fuß als Entschuldigung vorgeschoben. Doch wie lange würde er diese Ausrede benutzen können? Jeder noch so verletzte Fuß heilt irgendwann.
Reece hingegen war nicht glücklich, ihren Freund gehen lassen zu müssen, und dann noch mit diesem komischen Kerl alleine in der Wohnung zu sein, passte ihr überhaupt nicht. Irgendwie hatte sie Angst vor ihm, den Grund dafür konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht weil sie ihn nicht kannte, oder weil er so bullig daher kam … oder einfach nur ein Bauchgefühl.
Es war äußerst wichtig, dass sie Fortschritte bei der Suche nach Kaýleen machten, deshalb hatte sie keine andere Wahl. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was ihre Schwester jetzt durchlitt. Außerdem wollte sie Raphaele keinesfalls alleine in ihrer Wohnung lassen; sie traute ihm nicht über den Weg. Dass sie befürchtete, sich gestern Abend in der schwindelnden Höhe und in dem eisigen Wind erkältet zu haben, war nur ein weiterer Grund, zuhause zu bleiben. Sie fühlte sich schon seit dem Aufstehen müde und schlapp.
Trotzdem räumte sie das Geschirr ab und erledigte den Abwasch, während Raphaele in einer Zeitschrift las. Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, sprach er sie an. „Na alles fertig? Wie ist das denn jetzt, kann ich hier bei euch bleiben oder nicht?“, fragte er direkt und ohne Vorwarnung.
Was bildet der sich ein? Meint er, jetzt, wo Ýosha nicht da ist, kann er mich überreden? Da hat er sich aber kräftig in den Finger geschnitten!
Überhaupt ist die Frage eine Frechheit! Soll er sich doch eine eigene Bleibe suchen, ich bin doch nicht die Heilsarmee! Das Bett gehört Kaýleen und niemand anderem! Außerdem kenne ich ihn überhaupt nicht!
Das Bett ihrer Schwester war noch so, wie Kaýleen es am Morgen vor ihrem Verschwinden hinterlassen hatte. Ab und zu setzte sich Reece darauf und atmete den Geruch ihrer Schwester ein, der noch in den Laken festsaß. „Rapha, ehrlich? Ich weiß es nicht. Wir besprechen das, wenn mein Schatz wieder zurück ist. Ich möchte das nicht alleine entscheiden, denn ich würde Nein sagen. Ich hoffe, du verstehst das. Es ist einfach zu eng für drei Leute.“
„Ok dann warten wir eben auf Ýosha“, entgegnete Raphaele, und Reece war klar, dass ihm die Abweisung nicht gefallen hatte. Sie stand vor dem Tisch und wusste nicht, wohin. Außer der Couch, die ihr Besucher mit Zeitschriften belagert hatte, stand nur noch das Bett als Sitzgelegenheit zur Verfügung.
Als Raphaele aufstand, um zur Toilette zu gehen, trat sie erschrocken einen Schritt zurück und er sah sie mit leichtem Kopfschütteln an. Reece wurde in diesem Moment klar, dass er ihre Angst bemerkt hatte.