DARJANA - Die Lösung
Während Großmutter Maýla noch in Erinnerungen schwelgte, herrschte beängstigende Stille im Raum, die nur von Dustýs heftigen, pfeifenden Atemzügen durchbrochen wurde, doch plötzlich holte das Öffnen der Wohnungstür die Familienmitglieder in die Gegenwart zurück. Einige Sekunden später stand Rabíýa im Flur.
„Da bist du ja schon, wie schön!“, rief Darjana. „Oma und Opa sind da! Komm, setz dich zu uns und trink auch ein Glas Tee!“
„Lass mich in Ruhe, ich gehe auf mein Zimmer“, tönte es aus dem Flur, wo die 16-jährige gerade ihre Jeansjacke auszog und sich auf den Weg ins Wohnzimmer machte. Offensichtlich war sie wieder einmal schlecht gelaunt.
Ascon erhob sich von seinem Sessel und sah seine Tochter eindringlich an, die mit verschränkten Armen und bockigem Gesicht in der Tür stand. „Erst wirst du deine Großeltern und uns begrüßen. Dann kannst du dich einen Moment ausruhen, bis ich dich hole. Wir haben etwas Wichtiges mit dir zu besprechen. Aber wolltest du nicht bis morgen bei Zhara bleiben?“
Rabíýa antworte mürrisch: „Nee kein Bock.“ Sie umarmte kurz, wortlos und widerwillig die Familienmitglieder. Darjana wusste, dass ihre Tochter diese lästige Prozedur genauso wie die Zwillinge hasste. Dann ging sie hinaus und mit einem lauten Knall flog die Tür zu ihrem Reich zu.
„Na fabelhaft, das kann ja heiter werden“, sagte Ascon, und Darjana stimmte ihm zu: „Ich glaube, heute ist nicht der richtige Zeitpunkt zum Reden, Schatz. Vielleicht sollten wir einfach warten, bis sie bessere Laune hat. Ich weiß nicht, was ihr über die Leber gelaufen ist.“
„Dari! Sie ist ständig missgelaunt, wir können uns nicht ständig nach ihren Launen richten, uns läuft die Zeit davon! Sie muss es heute erfahren.“
Großmutter Maýla aber stand ihrer Tochter bei. „Ascon, sie ist doch noch ein Teenager und was wir ihr zu sagen haben, wird die Situation noch mehr verschlimmern. Wir sollten das nicht tun.“
„Wir haben keine andere Wahl mein Engelchen“, sagte Dustý. Auch nach so vielen Ehejahren neckte er seine Frau noch immer mit verschiedenen Kosenamen, die Maýla stets zum Lächeln brachten. Heute jedoch blieb sie ernst. Dustý räusperte sich und stand auf, um eine Runde Tee in die leeren Gläser zu gießen.
„Das hatten wir doch gerade! Ich habe die Diskussionen leid!“ sagte Ascon gereizt. „Wir machen es wie besprochen und fertig. Es gibt keinen anderen Weg, das haben wir nun wirklich die ganzen letzten Wochen durchgekaut.“
Darjana ahnte Schlimmes. Sie sagte jedoch nichts mehr, denn sie stand schon genug unter Stress. Oft dachte sie an das Telefonat, das Ascon ihr verschwiegen hatte. Ihn erneut darauf ansprechen wollte sie nicht. Wenn er wieder auswich, würde das wahrscheinlich wieder im Streit enden. Davon abgesehen war er heute den ganzen Tag zuhause gewesen. Für den Besuch seiner Schwiegereltern hatte er sich extra Urlaub genommen. Darjana brannte darauf, mit jemandem über ihre Probleme zu reden und wollte wissen, was Toní und Caramída dazu sagen würden, aber es gab keine Chance, ungestört mit ihren Freundinnen zu telefonieren. Bei Caramída hatte sie es dennoch versucht, um wenigstens ein Lebenszeichen von ihr zu erhalten, aber deren Slider war noch immer ausgeschaltet. Darjana machte sich große Sorgen wegen ihres Hilferufes, aber sie erzählte auch davon nichts ihrem Ehemann. Er würde ihr wieder nur Verfolgungswahn unterstellen.
Nach ein paar Minuten stand Ascon auf. „Diese Spannung ist ja unerträglich! Ich hole jetzt Rabíýa.“
„Jetzt warte doch, lass sie noch einen Moment in Ruhe, sie ist doch gerade erst rein!“, warf Darjana ein, aber ihr Mann war schon auf dem Weg nach draußen. Rabíýas Zimmer grenzte an das Wohnzimmer an, deshalb sprach Darjana etwas leiser, denn die dünnen Wände boten keine gute Schallisolierung. „Meine Güte, warum hat er nicht noch ein paar Minuten warten können? Manchmal kann ich Rabíýa verstehen, so wie er in letzter Zeit mit ihr umgeht!“
Ihre Mutter nickte zustimmend. „Ja es fällt auf, dass Ascon sehr ungeduldig und hart geworden ist. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mir wird ganz mulmig, wenn ich daran denke, was wir jetzt vorhaben. Rabíýa wird böse auf uns sein. Es ist nicht richtig, einem jungen Mädchen das Zimmer wegzunehmen! Sie braucht ihre Privatsphäre gerade jetzt.“
„Ascon lässt nicht mit sich reden, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. Du weißt doch, wie er ist, Maýla.“ Dustý hob resigniert die Schultern und flüsterte dabei: „Da kannst du nichts machen.“ Dann sah er seine Tochter an. „Weißt du, Liebes … auch wenn du denkst, du kennst deinen Partner, so rennt man doch ab und an gegen eine Wand oder fällt in ein Loch. Kommt miteinander aus, immerhin habt ihr drei Kinder.“
Darjana holte kurz Luft. Am liebsten hätte sie ihren Vater korrigiert, denn es waren vier Kinder, doch im Augenblick war auch sie zu angespannt. Sie atmete hörbar aus und schloss ihren Mund wieder. Sie hatte Angst vor dem, was sie gleich erwarten würde. Ihr Magen krampfte sich zusammen, wenn sie sich das Gespräch mit Rabíýa vorstellte. Sie rechnete mit dem Schlimmsten. Wahrscheinlich würde es einen heftigen Streit geben, und am Ende würde wie immer tagelang eine bedrückende Stimmung herrschen.
Als Ascon in Rabíýas Zimmer kam, lag seine älteste Tochter in voller Montur auf ihrem Bett und wischte auf ihrem Slider herum. Sie stöhnte und fragte mir rollenden Augen: „Was ist denn, ich kann nicht, muss mal chillen.“
Beim Anblick der Unordnung in ihrem Zimmer atmete Ascon tief durch. Er fegte ein paar Blätter vom Schreibtisch, damit er seine Hand aufstützen konnte und versuchte, nicht auf die Kleider, Zettel und Stifte sowie Kosmetika zu achten, die über den Schreibtischstuhl und den ganzen Fußboden verteilt waren. Rabíýa war in letzter Zeit sehr schlampig und faul geworden und die Eltern betraten kaum noch ihr Zimmer, um sich nicht ständig ärgern zu müssen.
„Wie es hier wieder aussieht!“, Ascon konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen. „Kannst du wenigstens die Schuhe ausziehen, wenn du schon im Bett liegen musst? Komm bitte mit ins Wohnzimmer, wir haben etwas sehr Wichtiges mit dir zu besprechen“, sagte er, bedacht darauf, kein falsches Wort zu sagen.
„Was ihr schon wieder habt! Interessiert mich nicht!“, entgegnete Rabíýa rotzfrech und stellte demonstrativ einen Fuß, der in einem schmutzigen schwarzen Turnschuh steckte, auf die himmelblaue, mit gelben Sternen bedruckte Bettdecke.
Ascon spürte, wie langsam die Wut in ihm hochkroch. Er fühlte sich wie ein Dampfkochtopf, bei dem das Überdruckventil klemmte. Trotzdem versuchte er, nicht die Fassung zu verlieren. Am liebsten hätte er seine unverschämte Tochter an den Haaren vom Bett gezerrt, ihr die Turnschuhe, für die sie ihr Taschengeld gespart hatte, von den Füßen gerissen und diese samt Slider aus dem Fenster geworfen. Sein Herzschlag beschleunigte sich und er atmete heftig, denn nur so ließ sich der in ihm aufsteigende Zorn unter Kontrolle halten. „B.i.t.t.e“, sagte er, „Es betrifft vor allem dich!“
„Miiiich? Was hab ich denn mit eurem Zeug zu tun? Naaa guuut …“ Desinteressiert und mit rollenden Augen sah Rabíýa ihren Vater an, schob das rechte Bein in Zeitlupe vom Bett, rutschte etwas nach vorne und stellte den Fuß auf den Boden, dann folgte ganz langsam das linke. Sie blieb aber sitzen und wischte weiterhin auf ihrem Slider herum.
Ascon trommelte nervös und ungeduldig mit seinen Fingern auf den Schreibtisch, bemüht, nicht auf die Provokationen seiner Tochter zu reagieren. „Los jetzt!“ Er war mit seiner Geduld am Ende; sein Ton wurde lauter und schärfer. „Beweg deinen faulen Hintern!“
Rabíýa gähnte und drehte an ihrer riesigen Kreole im Ohr, als ob sie dadurch die Lautstärke der Stimme ihres Vaters regulieren könnte, pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schnaubte ein genervtes „Jaaaaa“ und stand auf. Ihr Blick klebte aber weiterhin auf ihrem Slider. Dann schlich sie, ohne die Füße höher zu heben als nötig, lustlos hinter ihrem Vater her ins Wohnzimmer, das unentbehrliche Utensil weiterhin in der Hand haltend.
Im Wohnzimmer herrschte angespannte Stille, als Ascon mit der Tochter hereinkam. Alle Familienmitglieder richteten wartend den Blick auf sie. Rabíýa war inzwischen eine junge Frau geworden; ihr Kleidungsstil war modern. Viele Mädchen in ihrem Alter liefen mit kaputten Hosen und zerfledderten Shirts herum. Aber weder die blauen Haare noch die kräftige schwarze Schminke um die Augen passten zu ihr, darüber waren sich alle Erwachsenen einig. Die 16-jährige ließ sich jedoch nicht beirren.
„Schön, dass du da bist“, Darjana unternahm erneut den Versuch eines freundlichen Gesprächs.
„Was ist?“, fragte Rabíýa schnippisch, den Blick weiterhin auf ihren Slider gerichtet. Sie setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl, der neben der Tür stand. Sie wirkte blass und abgeschlafft. Ihre schlanken Beine, die in einer ausgewaschenen, an manchen Stellen zerrissenen Jeans steckten, schlug sie übereinander. Der restliche Körper war dank ihrer langen, blauen und lockigen Haare kaum zu sehen. Unbeeindruckt bewegte sie den Finger auf ihrem Slider.
Ascon hatte inzwischen wieder in seinem Sessel Platz genommen und atmete tief durch. Innerlich kochte er und ahnte, was ihnen allen bevorstand. Dennoch ließ er sich von seiner Unsicherheit nichts anmerken.
„Können wir bitte in Ruhe reden Rabíýa?“, fragte Großvater Dustý und stellte sein Teeglas auf den Tisch. „Möchtest du auch etwas trinken?“
„Nein danke.“ Immerhin eine Antwort, wenn auch leise. Die Teenagerin hatte bisher immer großen Respekt vor ihrem Großvater. Er war anders gestrickt als ihr Vater, sprach immer ruhig und wirkte überlegt.
„Es ist wichtig“, fuhr Dustý fort. „Wichtig für deine Großmutter und für mich.“
Da Rabíýa keinen Kommentar von sich gab, ihren Großvater jetzt aber wenigstens ansah, sprach er mit gedämpfter Stimme weiter: „Rabíýa, Du weißt, dass Großmutter und ich bald kein Dach mehr über dem Kopf haben werden oder?“
„Ja“, erwiderte sie kaum vernehmbar, sodass ihre Mutter, die ihr gegenüber am Fenster saß, es nicht hören konnte. Nur durch das Kopfnicken ihrer Tochter erahnte sie die Antwort.
„Nun …“, zögernd fuhr Dustý fort und rückte sich auf der Couch zurecht, „deine Eltern und wir haben beschlossen, dass wir zu Euch ziehen. Wenigstens vorübergehend, bis wir eine andere Lösung gefunden haben.“ Er sagte das selbstverständlich und um die Situation zu entschärfen. Allen war bewusst, dass es keine andere Lösung geben würde. Nicht heute, nicht morgen, nicht in diesem Leben.
„Und wie soll das gehen, hier ist es doch eh schon eng genug?“, fragte Rabíýa und sah ihren Großvater mit großen Augen an.
Bevor dieser antworten konnte, schaltete sich Ascon ein, der angespannt der Konversation zwischen Großvater und Enkelin gefolgt war. In seinen Augen hatte sich Rabíýa zu fügen. Außerdem spürte er, wie schwer es Dustý fallen würde, ihr die üble Nachricht mitzuteilen. Der Familienvater war schon immer ein Mann klarer Worte gewesen und redete unverblümt. „Großmutter und Großvater werden in deinem Zimmer wohnen, wir …“
„Waaaaaas????“ Sofort wurde er von seiner schreienden Tochter unterbrochen, die empört aufgesprungen war.
„Das könnt ihr nicht machen, das ist MEIN ZIMMER! Ich werde ausziehen! Ich haue ab, ich hasse euch alle“, brüllte sie und stampfte mit dem Fuß auf.
Darjana stand ebenfalls auf, ging an Ascon vorbei und wollte ihre Tochter in den Arm nehmen, doch Rabíýa schüttelte diesen grob ab. Sie hatte ein hochrotes Gesicht und schnaubte vor Wut, Tränen rannen über ihre Wangen und die Schminke lief über ihr Gesicht.
Großmutter Maýla murmelte vor sich hin, sodass es niemand hören konnte: „Ich wusste es. Die Vorstellung, ihr geliebtes Zimmer aufzugeben, ist für das Mädchen eine Katastrophe!“
„Lass mich!“, fauchte Rabíýa ihre Mutter an. „Ihr habt mich überhaupt nicht mehr lieb, ich bin euch doch vollkommen egal!“, schrie sie und trat gegen den Stuhl, auf dem sie zuvor gesessen hatte. Dieser fiel geräuschvoll um. Großmutter Maýla schlug bestürzt ihre Hände vors Gesicht.
„Nun beruhige dich bitte und lass uns vernünftig reden“, versuchte Dustý, die Situation zu entspannen.
„Ich bin doch Luft für euch, seit die Zwillinge da sind! Ich bringe mich um, das habt ihr dann davon!“, brüllte Rabíýa und steckte ihren Slider in die Hosentasche. Dann hastete sie in den Flur, schnappte ihre Jacke und rannte zur Wohnungstür hinaus, die sie so kräftig zuschlug, dass die Lampe im Flur wackelte.
Die vier Familienmitglieder waren für einen Augenblick wie gelähmt, und als Ascon seiner Tochter in den Hausflur hinterherlief, war Rabíýa bereits über alle Berge. Wahrscheinlich hatte sie die Treppe genommen, um nicht auf den Aufzug warten zu müssen. Das sportliche Mädchen rannte oft aus Spaß die 72 Stockwerke hinunter. Dem Vater war sofort klar, dass es keine Chance für ihn gab, sie einzuholen. Bis der Fahrstuhl ankam, dauerte es oft zehn Minuten oder länger.
„Oh nein … das darf nicht wahr sein“, Darjana brach in Tränen aus, während sie den Stuhl aufhob, um sich hinzusetzen. Sie war leichenblass. „Wie kann sie so etwas sagen? Wo ist sie bloß hin?“
„Wahrscheinlich zurück zu Zhara, ich versuche aber erstmal, sie auf ihrem Slider zu erreichen. Den hat sie ja wenigstens dabei.“ Ascon stand in der Wohnzimmertür, wählte den Telefoncode seiner Tochter. Die Familienmitglieder beobachteten ihn und staunten, als Ascon nickte. Rabíýa schien sich am anderen Ende gemeldet zu haben. Das Telefonat war sehr kurz und er sagte kein Wort. Nachdem er aufgelegt hatte, wurde er zunehmend blasser und starrte entgeistert das Gerät an.
Die Stimmung war gespannt bis zum Platzen; eine Nadel hätte man jetzt auf den Parkettboden fallen hören.
„Und? Wo ist sie? Was hat sie gesagt?“ Darjana wartete ungeduldig auf die Antwort ihres Gatten und sah zu ihm auf.
Ascon wurde übel, in seinem Kopf drehte sich alles. Er ging zu seinem Sessel, setzte sich und atmete tief durch.
Um Gottes willen hab ich das gerade richtig verstanden? Wie bring ich ihnen das bei? Das gibt’s doch nicht! Das ist eine Katastrophe!
Darjana fuhr sich hektisch mit den Fingern durch ihre langen Haare. „Nun sag schon? Schatz?“
„Sie ist …“, begann er. Er konnte es immer noch nicht fassen. All die wochenlangen Diskussionen über die Wohnsituation von Maýla und Dustý waren umsonst. Auf einmal wurde ihm klar, warum sich Rabíýa so merkwürdig verhalten hatte.
„Rabíýa ist …“ Ascon war nicht fähig auszusprechen, was er gerade erfahren hatte. Alles war mit einem Schlag verändert, ein einziger Anruf hatte alle mühselig geschmiedeten Pläne der Familie zunichtegemacht. Nichts würde mehr sein wie vorher.
Er kannte dieses Gefühl, jedoch nicht in dieser Heftigkeit. Er hasste es, etwas umsonst geplant zu haben. Ähnlich wie an dem Tag vor einem dreiviertel Jahr, als er den 20-jährigen Hochzeitstag mit seiner Frau groß feiern wollte. Er hatte alles bis ins Detail vorbereitet. Der Tisch in ihrem Lieblingsrestaurant war reserviert, er hatte einen wunderschönen Ring mit einem kleinen Diamanten besorgt, obwohl er überhaupt nicht der Typ für Überraschungen war. Er hatte Jenncy, die Babysitterin abgeholt, die auf die Zwillinge und Rabíýa aufpassen sollte und sich auf einen schönen gemeinsamen Abend mit seiner Frau gefreut.
Es sollte eine Überraschung werden, deshalb war Jenncy im Flur stehen geblieben, und als Ascon ins Wohnzimmer gekommen war, hatte seine Frau mit Kopfschmerzen auf der Couch gelegen. Sie war nicht aus dem Haus zu bekommen. Ihren Hochzeitstag hatte sie offensichtlich vergessen. Ascon war so enttäuscht, dass er sich mit Jenncy in einer Kneipe betrunken und die Nacht mit ihr verbracht hatte. Nie zuvor hatte er seine Frau betrogen, aber in dieser Situation dachte er nicht darüber nach. Darjana glaubte ihm am nächsten Tag die Story, dass er im Auto geschlafen hatte. Den Ring gab er wieder zurück. Noch nie im Leben war er so maßlos enttäuscht worden, und dieser Schmerz war heftiger gewesen als das Hämmern in seinem Kopf, welches vom Restalkohol ausgelöst worden war.
Genauso fühlte er sich jetzt. Nein, er fühlte sich schlimmer. Das, was er gerade erfahren hatte, war der Weltuntergang. Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt es noch schlimmer, dachte er.
„Himmel, was ist denn los?“ Darjana hätte ihn am liebsten geschüttelt, fuhr sich immer wieder mit den Fingern durch die Haare und fuchtelte hilflos mit den Armen in der Luft herum. Die Spannung war kaum zu ertragen. „Ist ihr etwas zugestoßen? Jetzt sag, doch was!“, rief, sie verzweifelt.
Ascon ahnte, woran sie dachte. An einen Unfall, eine Katastrophe oder an Entführung. Er kannte seine Frau und sah ihr an, dass gerade die nackte Angst in ihr hochkroch. Dass sie ihre geliebte Tochter leblos und blutend auf der Straße liegen sah oder hilflos gefesselt und geknebelt in der Gewalt eines Verbrechers. Die Bilder in ihrem Kopf zeigten jetzt wahrscheinlich Rabíýa breitbeinig im Rotlichtmilieu und an anderen zwielichtigen Orten, obwohl das aufgrund der Zeit, die vergangen war, unmöglich sein konnte.
„Nein es ist nichts passiert, es geht ihr gut“, brachte Ascon stockend hervor, nachdem er sich einige Male geräuspert hatte. „Sie ist … also sie ist … nur …„
Großmutter Maýla, die, ebenso wie Dustý, bewegungslos auf der Couch saß, atmete tief durch. „Gott sei Dank“, sagte sie mit einem lauten Seufzer und Dustý legte mit zustimmendem Nicken den Arm um seine Frau. Er kramte in seiner Hosentasche, holte eine Schachtel mit Tabletten hervor und nahm eine davon mit einem Schluck Tee ein.
„Jetzt rede doch!“, bedrängte Darjana ihren Mann. „Irgendwas stimmt doch nicht!“
Plötzlich wurde Ascon sehr ruhig. Er holte tief Luft. „Gar nichts stimmt Dari, ich fasse es nicht. Wir werden Großeltern!“
Darjana blieb der Mund offen stehen und sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Maýla schlug sich entsetzt die faltigen Hände vors Gesicht. Großvater Dustý sah Ascon zwar schockiert an, drückte seine Frau aber liebevoll an sich und küsste sie auf die Haare. Alle blickten verständnislos und schweigend auf Ascon.
„Das ist ein Scherz oder?“, fragte Dustý, der als Erster die Sprache wiederfand. „Sie ist 16!“
„Siehst du mich lachen?“, Ascon war bestürzt, seine Stimme war leise geworden und klang heiser. Er räusperte sich erneut und nippte an seinem Tee.
„Aber … aber … von wem ist sie denn schwanger und warum hat sie nicht aufgepasst? Was machen wir denn jetzt, das verändert ja alles …“, sprudelte es aus Darjana heraus.
„Ja Liebes, das verändert alles! All unsere Bemühungen und Diskussionen waren umsonst“, sagte er.
Nur Großvater Dustý fand die richtigen Worte. „Wenn es so ist, werden wir auch dafür eine Lösung finden“, sagte er ruhig, aber sein Tonfall klang nicht zuversichtlich. „Wir müssen jetzt die Nerven behalten und überlegen, was zu tun ist. Es darf niemand erfahren, das ist das Wichtigste. Zuerst einmal müssen wir sind finden!“
„Ich habe Angst, ich habe solche Angst“, Darjanas Körper begann unkontrolliert zu zittern. Sie fing hemmungslos an zu weinen, und Ascon nahm sie in den Arm. Auch ihre Mutter war aufgestanden, stellte sich neben sie und drückte den Kopf ihrer Tochter an ihre Brust.
„Noch weiß es niemand, hoffe ich“, sagte Ascon kühl und versuchte, so stark und sicher wie möglich zu klingen. „Wir müssen sie suchen, sie hat ja überhaupt keine Ahnung, in welcher Notlage sie sich befindet!“
Darjana sah ihn fragend an.