Saýosha - Emma

Von alldem bekam Saýosha nichts mit. Er freute sich wie ein kleines Kind an seinem Geburtstag, dass es noch dort stand, wo er es gestern abgestellt hatte. Die Sonne, die durch die Scheiben der Eingangshalle schien, verbesserte seine Laune um ein Vielfaches. Er hatte die Nase voll von dem Regen und den Unwettern der letzten Tage. Frohen Mutes strampelte er los.

In einiger Entfernung vor dem Haus seiner Begierde musste er stehen bleiben, denn die schwarze Limousine fuhr an ihm vorbei und parkte vor dem Hochhaus an derselben Stelle wie an dem Tag, als er Raphaele verloren hatte. Er versteckte sich etwa 20 Meter weiter neben einem Neubau und ließ den Wagen, der vor dem Eingang parkte, nicht aus den Augen. Nach einigen Minuten wurde er ungeduldig, weil nichts geschah. Immer wieder trat er einen Schritt vor, um zu sehen, ob jemand ins Haus ging oder herauskam.

Plötzlich vernahm er ein leises, merkwürdiges Summen neben seinem Ohr. Er sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam, konnte jedoch auf den ersten Blick nichts entdecken. Das Einzige, was ihm auffiel, war, dass sich seine Umgebung an einer Stelle verändert hatte; sie wirkte irgendwie merkwürdig verzerrt. Schemenhaft sah er ein kleines Ei vor seinen Augen schweben. Es wechselte die Farbe und beim näheren Hinsehen erkannte er, dass es sich an seine Umgebung anpasste.

„Was … um Himmels willen … ist das?“, sagte er laut zu sich selbst, um zu überprüfen, dass er noch Herr seiner Sinne war. Dann wischte er sich über die Augen.

„Ich beobachtete dich“, hörte er eine männliche, tiefe Stimme, die offensichtlich aus dem Ei kam, welches nun dicht vor seinen Augen hin und her pendelte.

Gütiger Gott! Saýosha erschrak und sein Puls begann zu rasen; das sprechende Ding war zweifellos eine Mini-Drohne. Natürlich kannte er das neueste Technikwunder aus der Werbung, aber begegnet war er ihm noch nie. Fünf Jahre im Knast hatten große Löcher gerissen. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Was wollte das Ding von ihm? Warum und vor allem, von wem, wurde er beobachtet? Er sah sich um. Die Limousine war inzwischen verschwunden, und er stand ratlos und wie erstarrt auf der Stelle und sah die Drohne an.

Wir beide scheinen das Gleiche zu suchen, mein Freund“, tönte leise die Stimme von Trovíto neben seinem Ohr. „Ich beobachte dich seit gestern. Du suchst eine Frau. Richtig?“

Saýosha kam sich vor wie in einem Science-Fiction-Film. Es konnte doch nicht sein, dass er hier mitten auf der Straße mit einem Ei redete? Kann mich mal jemand kneifen? Vielleicht träume ich ja?

„Ja … äh … ich suche eine Frau“, sagte er völlig verwirrt und hoffte, dass ihn keiner der Arbeiter beobachtete, die im zweiten Stock des nebenanliegenden Hauses gerade die Fenster einsetzten. Für sie musste es so aussehen, als ob er mit sich selbst redete.

„Dann solltest du mir folgen, ich würde gerne mit dir zusammenarbeiten, ich suche meine Frau.“

Saýosha war erstaunt, aber auch ein wenig erleichtert und atmete hörbar durch.. Puh … Es handelt sich also nicht um den großen Unbekannten, der mich verschleppen will! Der Kerl, dem das Ei gehörte, sucht einfach nur seine Frau. Menschenskinder, der muss ja stinkreich sein, diese Art von Drohne kostet ein Vermögen! Vielleicht ist das ein Wink des Schicksals?       

Er will mit mir zusammenarbeiten, warum nicht? Ich kann’s ja mal probieren und schauen, was passiert … mit diesem Ding kann man garantiert viel herausfinden, ohne sich in Gefahr zu bringen.

„Okay, ich folge dir“, sagte er.

Das Ei schwebte einige Meter voraus und Saýosha schwang sich auf seinen Drahtesel. Es führte ihn am Rande der vielen Baustellen entlang, zurück durch die überlaufene Innenstadt, und nach gut zwei Stunden, als sich sein Hintern wie ein alter Kaugummi anfühlte, befand er sich in einem Nobelwohngebiet im westlichen Teil der Stadt, welches er noch nie gesehen hatte.

Von wegen kein Platz, dachte er beim Anblick der vielen wunderschönen Villen, in deren Einfahrten protzige Autos geparkt waren. Fasziniert folgte er dem Ei durch die wenig befahrenen Straßen und genoss den Anblick der Grünflächen und der kleinen Häuser.

Vor einer Einfahrt mit einem geschlossenen hohen Eisentor verlangsamte sich das Ei, bis es schließlich stillstand. Ein Summton ertönte, und das Tor öffnete sich langsam. Saýosha stieg von seinem Fahrrad ab und schob es in die Auffahrt, wo er es auf dem sauber gepflasterten und anscheinend frisch gefegten Weg abstellte. Er ging an einer hohen Hecke vorbei und sah sich um. Unglaublich.        

Neben der Einfahrt war ein wunderschöner großer Garten mit Grünpflanzen und einer großen Rasenfläche angelegt. Die farblich aufeinander abgestimmten Blumen blühten herrlich. Bäume und Sträucher waren sorgfältig beschnitten und rundeten das Bild einer perfekten kleinen Landschaft ab. Sein Blick blieb an einem kleinen Teich hängen, auf dessen Rand ein Frosch saß und quakte. Saýosha starrte erstaunt hinüber zu ihm, er hatte seit Ewigkeiten kein Tier mehr gesehen.

Er stellte sich vor, mit Reece hier wohnen zu können. Bei schönem Wetter würden sie auf einer Decke picknicken und anschließend Sex haben, denn der Garten war von außen nicht einsehbar. Später würde er für seine Kinder einen Spielplatz bauen und ihnen beim Toben zusehen. Für einen kurzen Moment tauchte er in seine Träume ein. Er war wie in einer anderen Welt.

Als er langsam ein Stück in Richtung Haus ging, kam ihm ein Mann entgegen, der freundlich lächelte und ihm seine Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. „Schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist, gehen wir ins Haus“, sagte der Fremde mit tiefer Stimme und steuerte auf die große Terrassentür zu. Er war fast genauso groß wie er, und Saýosha war von seinem korrekt gebügelten, hellblauen Hemd, das in der Sonne glänzte, beeindruckt. Wow!

Die beiden ließen sich nebeneinander auf der großen, bequemen Wohnlandschaft im Salon nieder. Saýosha kam sich vor wie im Traum, das alles hier war äußerst beeindruckend!

Sie machten sich bekannt, tauschten ihre Erfahrungen aus und Trovíto verschwieg nicht einmal, dass er fünf Menschen auf dem Gewissen hatte. Er legte die entwendeten Akten auf den Tisch. Saýosha folgte seiner Erzählung stillschweigend, hier fehlten selbst ihm die Worte. Er bekam nicht einmal mit, dass Reece ständig versuchte, ihn zu erreichen. Vor seiner Fahrradtour zum Bunker hatte er seinen Slider lautlos gestellt und dann vergessen, den Ton wieder anzuschalten.

„Das ist Wahnsinn“, war das Einzige, was ihm einfiel, als Trovíto geendet hatte. „Du liebst deine Frau sehr!“

„Ja, sie ist alles, was ich habe, außer Ophélía, meiner Haushälterin; sie ist gerade einkaufen gefahren. Das ganze Geld, wofür ist es gut, wenn man niemanden hat, mit dem man es ausgeben und sich gemeinsam erfreuen kann? Was will ich alleine in diesem großen Haus? Wir haben eine Familie mit vielen Kindern geplant. Meine Chenoah ist im 5. Monat schwanger, das Kinderzimmer oben ist schon fix und fertig! Nun ist sie weg, aber ich werde sie finden und wenn es das Letzte ist, das ich tue. So wahr ich hier sitze Saýosha!“

„Ja, verstehe“, sagte dieser. Ihm fehlten die Worte. Das war alles zu viel, um es auf einmal zu verkraften. Die Gegend, das riesige, wunderschöne Haus, das Grün im Garten, eine Haushälterin, und nicht zu vergessen dieses Ei, das ihn hierher geführt hatte. Er kam sich vor, als hätten ihn Außerirdische entführt. Dieses Gefühl verstärkte sich, als Trovíto eine Flasche Champagner holte und zwei handgeschliffene Kristallgläser auf den Tisch stellte. Saýosha traute seinen Augen nicht und beobachtete ihn beim Einschenken.

Trovíto setzte sich wieder neben ihn, hob sein Glas und versuchte, die Stimmung ein wenig aufzulockern. Er spürte, dass Saýosha mit der Situation überfordert war. „Ein Prosit darauf, dass wir die Frauen finden und befreien werden!“

Nachdem sie angestoßen hatten, nahm Trovíto seine ‚Chamäleon-Drohne‘ in die Hand und sagte: „Wollen wir mal schauen, ob wir die Schwester deiner Freundin sehen? Was hältst du davon?“

Saýosha schwieg, schlürfte seinen Champagner und nickte nur.

„Nun ja, bis Emma wieder am Bunker ist, dauert es Luftlinie etwa eine Stunde, aber ich schicke sie los“, sagte Trovíto und nahm sie in seine gepflegten Hände. Saýosha fiel sofort auf, dass diese zarten Hände nicht oft zupacken mussten. Er konnte keine Schwielen oder andere Makel entdecken, auch die Fingernägel des faszinierenden Mannes waren sauber und ordentlich geschnitten.

„Emma?!“ Saýosha grinste und betrachtete das Ei.

„Hey nicht lachen! Ich habe sie Emma getauft!“, verteidigte sich Trovíto. „So soll unsere Tochter heißen, wenn sie geboren ist.“ Er programmierte Emma auf die Adresse des Bunkers und sie bewegte sich sofort aus dem Haus. Über das Steuerpad verfolgten beide ihren Weg. Trovíto gähnte.

„Nach einer Zeit wird es langweilig oder? Komm! Wir haben ein bisschen Spaß!“, sagte er und stieß Saýosha mit dem Ellenbogen leicht in die Rippen. Dann suchte er sich einen Passanten aus, der auf einer Nebenstraße entlang lief, ließ Emma neben seinem Ohr schweben und rief: „BUH!“ Der Mann erschrak so heftig, dass er seine Einkaufstasche auf der Stelle fallen ließ und die Hände erhob. „Bitte nicht schießen“, rief er und sah sich um, kratzte sich am Kopf und zweifelte merklich an seinem Verstand.

Trovíto und Saýosha tranken Champagner und lachten Tränen. Die Stimmung war so ausgelassen, dass die beiden Männer nicht mitbekamen, was sich in diesem Moment vor der Haustür abspielte.

Als es klingelte, übergab Trovíto sein Steuerpad für Emma an Saýosha, der sich freute wie ein kleines Kind. Stolz hielt er es mit beiden Händen und beobachtete Emma, die zwischen den Hochhäusern hindurch Richtung Bunker unterwegs war.

Währenddessen öffnete Trovíto die Haustür. Das Letzte, was er in seinem Leben sah, war ein Polizist, der seine Waffe auf ihn richtete.

Als der Schuss fiel, erschrak Saýosha zu Tode. In panischer Eile klemmte er die gestohlenen Krankenakten unter seinen Arm. Er rannte durch die Hintertür hinaus in den Garten, schob das Steuerpad für Emma zwischen die wichtigen Papiere und schwang sich auf sein Fahrrad, trat kräftig in die Pedale und fuhr davon. Nach einigen Kilometern bog er in eine kleine Seitenstraße ein, hielt an, setzte sich mit zitternden Beinen auf den Bürgersteig und packte die Akten in seinen Rucksack. Dann beorderte er Emma zurück zur Basisstation und meldete sich bei Reece, die 15 Mal versucht hatte, ihn zu erreichen.

„Hallo Süße, ich bin’s …“, sagte er, völlig außer Atem und mit bebender Stimme.

„ … Mir geht es gut, ich habe Unglaubliches erlebt, du wirst staunen! Ich erzähle dir alles, wenn ich wieder zuhause bin, okay? …“ Saýosha keuchte heftig und musste erst einmal Luft holen.

„ … Erzähle ich dir später, ich habe jetzt keine Zeit. Aber es ist alles gut, ich bin in einer guten Stunde zurück okay? Ich weiß nicht, ob ich verfolgt werde, ich muss auflegen Süße, bis gleich! …“, antwortete er knapp und trennte die Verbindung.

Dann setzte er sich wieder auf sein Fahrrad und strampelte mit Vollgas Richtung Heimat.

C. C. Howard - Projekt I1 - Der Anfang
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