Der große Speisesaal im dritten Stock bot Platz für 300 Bunkerinsassinnen und war nur zu einem Drittel gefüllt. Die Frauen saßen an ihren Tischen, frühstückten und unterhielten sich. Einige tuschelten, als sie die beiden erblickten.
Die Bunkerwächterin ging mit ihrer Schutzbefohlenen an der Hand zur Essenausgabe, wo sie dem noch immer gehässig drein schauenden Mädchen ein Brot, Margarine und ein kleines Döschen Pfirsichmarmelade auf den Teller legte. Dazu schenke sie ihr einen schwarzen Tee ein. Dann drückte sie Sýnke das Tablett mit einem bestimmten: „Hier, nimm das!“, in die Hände und brachte sie zu ihrem Tisch, an dem bereits fünf andere Frauen saßen. Diese waren schon mit dem Frühstück fertig. Kaatje zog einen Stuhl zurück und platzierte Sýnke darauf. „Ich wünsche dir einen guten Appetit. Wenn du anständig isst und dich auch so benimmst, schließen wir dich nicht mehr ein. Ok?“
Sýnke schwieg.
„Hast du das verstanden?“, fragte sie und beugte sich zu ihr herunter, während die Frauen am Tisch neugierig das Geschehen verfolgten. Auch von den Damen an anderen Tischen wurden sie interessiert beobachtet. Als Sýnke dies bemerkte, nickte sie mit hochrotem Kopf.
„Frau Vesbroích, wo ist denn Naýka heute?“, fragte eine der am Tisch sitzenden Frauen und deutete auf den leeren Stuhl am Kopfende des Tisches. Kaatje blickte suchend im Speisesaal umher, konnte das Mädchen aber nicht entdecken. „Ich habe sie heute auch noch nicht gesehen, ich schaue nachher nach ihr“, sagte sie und ließ Sýnke bei den anderen zurück.
Sie ging zum anderen Ende des Saales und nahm dort an einem Tisch Platz. Von hier aus konnte sie alles überblicken. Sie machte sich Sorgen um Sýnke, die deutlich machte, dass sie sich einfach nicht mit ihrer Situation abfinden konnte. Wie auch, dachte sie, ich glaube, ich würde auch ausrasten, wenn man mich gegen meinen Willen in diesen Bunker stecken würde.
Kaatje dachte nach und ließ ihre Zeit im Bunker Revue passieren. Alle Frauen waren anfangs ziemlich widerspenstig, darum schloss man sie prinzipiell für eine Woche alleine in ihrem Zimmer ein. Danach gab es selten Ärger. Die meisten waren froh, sich endlich frei bewegen zu dürfen und verhielten sich der Hausordnung entsprechend. Bei einem Verstoß mussten sie niedere Arbeiten im Frauenhaus verrichten. Dazu gehörte zum Beispiel, dass sie das Geschirr trotz Spülmaschine mit der Hand spülen mussten. Auch die Reinigung der Toiletten auf den Fluren der Unterkünfte war als Strafarbeit gefürchtet.
Bis zehn Uhr gab es Frühstück, wer bis dahin nicht erschienen war, hatte Pech. Es interessierte auch niemanden, wann die Frauen schlafen gingen. Wer morgens müde war, oder eine Mahlzeit verpasste, war selbst schuld.
Die Zimmer und Flure, sowie die Bibliothek und die Freizeiträume wurden mit Kameras überwacht, sodass die Anwesenheit eines Bunkerwächters nur selten von Nöten war. Lediglich in den Duschräumen und Toiletten war Privatsphäre garantiert. Dort saß rund um die Uhr eine Aufseherin im Vorraum, die sich aber meist nicht von der Stelle rührte.
Sýnke saß mit verschränkten Armen am Tisch und starrte mit ernster Miene auf die Tischplatte. Die stämmige Frau, die ihr rechts gegenübersaß, lächelte freundlich und begrüßte sie zuerst. „Hallo Sýnke, ich bin Bírla. Du … es hat keinen Sinn, zu motzen. Das macht deine Situation auch nicht besser!“
Jetzt blicke Sýnke auf und sah in die Gesichter der anderen Frauen, die zustimmend nickten oder ihren Blick senkten. Sie begriff noch immer nicht das ganze Ausmaß dieses Desasters, aber ihr war langsam klar, dass sie mit ihrem trotzigen Verhalten nicht weiterkommen würde. Zu einem Lächeln konnte sie sich jedoch noch nicht durchringen. „Freut mich“, sagte sie knapp. „Aber kennenlernen lohnt sich nicht großartig, mein Freund holt mit sowieso bald hier raus.“
Bírla reagierte mit einem Kopfschütteln. „Darauf solltest du dich nicht verlassen Süße! Das dachten wir alle am Anfang! Hier kommt keine raus und keiner rein!“
Sýnke schwieg und erinnerte sich an die Worte der Aufseherin. Sie wollte keinesfalls wieder eingesperrt werden. Lustlos kaute sie auf ihrem Brot herum, während ihre himmelblauen Augen in dem großen Raum auf Entdeckungsreise gingen. Er erinnerte sie an eine Turnhalle und tatsächlich erblickte sie auf der linken Seite eine Sprossenwand.
Wie überall im Bunker wurden auch im Speisesaal grelle, kalte LED-Lampen verwendet. Die kleinen viereckigen Fenster waren nicht größer als Bullaugen auf einem Schiff und ließen nur wenig Tageslicht herein. Die Kleidung aller Frauen glich der ihren und dieses einheitliche Bild erinnerte Sýnke, wie auch die bedrückende Atmosphäre, an das Gefängnis, welches Ziel eines Klassenausflugs ihrer ehemaligen Schule gewesen war. Dort hatte sie vor einem Jahr eine Führung gemacht und die Gefangenen durch einen Gitterzaun im Hof beobachten dürfen.
Sýnke sah Kaatje am anderen Ende des Saales sitzen und ihr war klar, dass die Aufseherin sie beobachtete. Deshalb begann sie langsam zu essen und nach einer Weile fühlte sie sich etwas besser. Die anderen Frauen beobachteten sie neugierig und schweigend. Plötzlich brannte sie darauf, etwas über die unmögliche Situation hier zu erfahren.
Ihre Tischgenossinnen waren sehr freundlich und offen. Sýnke erfuhr, dass Chenoah, Bírla und Anísha schwanger waren. Chenoah war im 5., Bírla im 6. und Anísha bereits im 8. Monat. Sie rätselten ununterbrochen, warum sie hier waren und wie sie fliehen konnten.
Sýnke wandte sich Bírla zu, die vor wenigen Augenblicken ihre Situation als so aussichtslos dargestellt hatte. „Aber man muss doch irgendwie hier rauskommen?“, fragte sie ungläubig, aber Bírla zuckte nur schweigend mit den Achseln.
„Bestimmt kommt man hier raus, aber wir nicht!“, erwiderte Sharleen, die Frau mit der feuerroten Löwenmähne neben ihr. Bevor sie weiter sprach, sah sie sich um und ihr Ton wurde etwas leiser. Die anderen beugten sich vor und lauschten gespannt. „Ich sag dir was Sýnke! Es ist zwar nicht verboten, wird aber ungern gesehen, wenn wir uns runter ins Erdgeschoss wagen. Trotzdem haben wir es versucht, aber vor der Tür zur Eingangshalle war Schluss. Wir hatten leider nicht den passenden Code, mit dem sich die Tür öffnen lässt. Dann hat uns Peddenpol auch noch erwischt, das brauche ich nicht wieder. Dieser Dreckskerl! Hat mir an die Titten gefasst und sie fast zu Matsch gequetscht! Es hat tierisch wehgetan und eine Woche gedauert, bis die blauen Flecken verschwunden waren!“ Mit einem Fingerzeig auf Chenoah, die ihr gegenübersaß und gerade ihren dampfenden Tee umrührte, fuhr sie fort: „Ihr schlug er mit seinem Totschläger so fest auf den Hintern, dass sie kaum noch laufen konnte! Außerdem behauptete er, es gäbe keinen Ausgang!“
Sýnke lief es bei diesen Worten eiskalt den Rücken herunter und sie hätte den Frauen am liebsten von Darrýl Peddenpols ekelhaften Besuchen erzählt. Sie hielt es aber für besser, vorerst nichts zu sagen.
Nach einer kurzen Pause fuhr Sharleen fort: „Das Haus hier ist eine Art Festung, hier kommt keine von uns raus!“ Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und fügte wütend hinzu: „Aber … verdammt, ich finde einen Weg, um hier rauszukommen!“
Die 25-jährige Chenoah, die ihre schwarzen Haare in einer Hochsteckfrisur trug, lachte bitter. „Darauf kannst du Gift nehmen Sharlý, mein Mann wird alles daran setzen, um mich hier rauszuholen!“ Sie nannte die Leidensgefährtin mit den feuerroten Haaren nie bei ihrem richtigen Namen.
Sharleen fuhr wütend fort: „Ich glaube Peddenpol lügt! Wahrscheinlich ist der Ausgang auf dem Dach. Wir wurden alle mit einem Luftmobil in diesen Scheißladen gebracht.“
Ihre Tischgenossinnen nickten zustimmend.
„Aber … ich bin in einem Auto gefahren, und wenn ich mit einem Aufzug gefahren wäre, wüsste ich das!“, mischte sich Sýnke wieder ein, „also muss es auch irgendwo unten einen Ausgang geben!“
Sharleen sah das links neben ihr sitzende junge Mädchen erstaunt an. „Wirklich? Das ist ja der Hammer! Und wo haben sie dich reingebracht?“
Sýnke zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht, es ging Stufen runter und wieder rauf, aber ich konnte nichts sehen! Die haben mir die Augen verbunden, als ich noch im Auto saß …“
Chenoah fiel ihr ins Wort und schaute dabei in die Runde. „Ja klar, wir sind echt bescheuert! Es MUSS da unten einen Ausgang geben. Meint ihr denn, die Wächter kommen morgens mit dem Luftmobil oder was?“
„Stimmt, die Aufseher! Daran habe ich noch gar nicht gedacht! Vielleicht schlafen die ja hier?“ Sharleen rätselte wie die anderen auch.
Also dann ist der Ausgang irgendwie unterirdisch oder wo?“, meldete sich Bírla wieder zu Wort.
„Ja vielleicht“, antwortete Sýnke, „jetzt wo du es sagst … es roch so komisch, irgendwie muffig und feucht.“
„Hm, aber wo? Ist doch eh alles verschlossen! Es hat doch keinen Sinn, wir kommen hier nicht weg“, Bírla zuckte mutlos mit den Achseln. Auch die anderen schwiegen und sahen sich betroffen an. „Ich will hier nicht mein Baby bekommen! Hier gibt es nicht mal einen Arzt“, sagte sie leise und sofort schossen ihr die Tränen in die Augen und kullerten ihre rosigen Wangen herunter.
Sýnke beobachtete die weinende Leidensgenossin mit den braunen Haaren, die zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Ihr Anblick war befremdlich, denn solche Gefühlsausbrüche passten nicht zu ihrem äußeren Erscheinungsbild. Sie hätte sich Bírla als Polizistin oder in einem Boxring vorstellen können, jedoch nicht mit einem schreienden Säugling im Arm. Dass sie jetzt heulte, machte auch die Übrigen verlegen.
Chenoah reagierte aufgebracht, ohne auf die Ängste Bírlas einzugehen. „Und selbst wenn es unten einen Ausgang gibt, wie naiv seid ihr denn? Wenn es so einfach wäre, würden sie uns doch nicht frei herumlaufen lassen oder? Die Neue hat sicher geträumt! Wahrscheinlich haben sie sie auch betäubt, genauso wie Anísha am Anfang. Mann, ihr könnt anscheinend nicht klar denken!“, sagte sie. „Auf alle Fälle gibt es einen Ausgang auf dem Dach, aber wie sollen wir von da aus wegkommen? Oder hat eine von Euch vielleicht ein Luftmobil unterm Bett versteckt?“
Hätte sie gewusst, dass ihr Mann Trovíto gerade wegen ihr in einer Arztpraxis zum Massenmörder wurde, hätte sie wahrscheinlich anderes zu tun gehabt, als am frühen Morgen ihre Leidensgefährtinnen niederzumachen.
In der Tat fiel es Sýnke im Augenblick schwer, zwischen Träumen und Realität zu unterscheiden und Bírlas Aussage, dass es keinen Ausweg geben sollte, verunsicherte sie noch mehr. Verängstigt hielt sie ihren leeren Teller fest und versuchte, sich zu erinnern.
Ja, ich bin im Auto gefahren! Ganz sicher bin ich das! Dann war ich Ewigkeiten eingesperrt. Es war voll sinnlos, die verrosteten Türscharniere wieder und wieder mit Salatsoße einzuschmieren, um die Tür aus ihren Angeln zu heben. Und dann hat mich auch noch dieser blöde Aufseher erwischt und die LED-Leiste entfernt. Es war grauenvoll, weil es nur noch dunkel war. Aber bis dahin weiß ich alles noch ganz genau! Erst als ich dann zweimal am Tag vor seinen Augen eine Tablette schlucken musste, habe ich nur noch geschlafen, hatte wirre Träume und wusste oftmals nicht, ob es Tag oder Nacht war.
„Bírla, ich kann dich gut verstehen“, meldete sich die bisher schweigsame blonde Lucíll zu Wort. Mit ihren 57 Jahren war sie die Älteste in der Runde. Sie saß ihr gegenüber und nahm – über den Tisch hinweg - tröstend ihre große Hand, an der ein Ehering steckte. „Mach dir nicht so viele Sorgen Bírla, das ist schlecht für dein Baby, du hast ja noch drei Monate Zeit.“ Nachdem sie eine kurze Pause gemacht hatte, fuhr sie fort: „Aber jetzt, wo du es sagst … ich habe hier auch noch keinen Arzt gesehen.“
Die zurückhaltende 17-jährige Anísha mit der kleinen Stupsnase und den Sommersprossen, die sie kindlich wirken ließen, mischte sich jetzt auch in das Gespräch ein. „Stimmt, ich hab auch noch keinen Doc hier gesehen. Die verlassen sich voll auf diesen scheiß Chip. Hoffentlich funktioniert das Ding auch zuverlässig“, sagte sie ängstlich und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich in die Nähe ihrer Augen verirrt hatte.
Lucíll versuchte, ihre Bedenken auszuräumen: „Keine Sorge, das sollte schon funktionieren. Als ich noch draußen war, hatte ich mal Zahnschmerzen und eine Stunde später rief mich der Zahnarzt an und bestellte mich direkt in seine Praxis.“
„Und was passiert, wenn es soweit ist? Wenn unsere Babys auf die Welt wollen? Wer hilft uns dann?“, fragte Anísha beunruhigt, und sah die anderen schwangeren Frauen am Tisch nacheinander an.
Lucíll versuchte, die aufgebrachten werdenden Mütter zu beruhigen. „Das werden wir sehen Anísha, es ist noch kein Säugling drinnen geblieben und Kinder zu gebären, ist die natürlichste Sache der Welt. Ich habe drei Söhne geboren, notfalls helfe ich.“
„Und wenn es Komplikationen gibt?“, Bírla, der noch immer die Tränen herunter liefen, umfasste ängstlich ihren Bauch, denn keine der Frauen wusste eine Antwort auf diese Frage. Sie sahen sich ratlos an und Anísha stieg auch das Wasser in die Augen. „Ich will doch nur alles richtig machen, ich habe solche Angst“, schluchzte sie.
Sýnke beobachtete sie schweigend und dachte: Sie sieht richtig zerbrechlich aus mit ihren strohblonden, kurzen Haaren und dem schmalen, bleichen Gesicht.
„Du machst nichts falsch, wir schaffen das schon“, Chenoah nahm Anísha in den Arm und versuchte, die Leidensgenossin zu trösten, aber sie weinte nur noch heftiger. „Ich will nach Hause zu meinen Eltern, das alles hier ist ein grausamer Albtraum! Und wenn sie uns unsere Babys wegnehmen? Wenn sie uns alle umbringen? Wenn sie …“.
Schlagartig wurde sie still.
Darrýl Peddenpol war an den Tisch getreten und in seinem Blick lag etwas Diabolisches.
Er beugte sich zu Anísha herunter, die abrupt aufhörte, zu weinen. Ängstlich beobachtete sie ihn, als er in seine Hosentasche griff und ein Döschen herausholte. Diesem entnahm er eine kleine grüne Pille. „Mach den Mund auf und schluck die Tablette, verstanden?!“