TROVÍTO - Kurzschluss
Trovíto Varkh war gut für den heutigen Tag vorbereitet. Die Detektivarbeit der letzten 14 Tage hatte sich gelohnt.
Er wusste, dass die Praxis von Dr. Ahlbrand um acht Uhr morgens ihre Pforten für Patientinnen öffnete, und hatte den Wohnsitz von Momoko Línnox, der Assistentin des Gynäkologen, ausfindig gemacht. Seit sieben Uhr an diesem Morgen wartete er vor dem Wohnhaus der jungen Frau und beobachtete, wie langsam die Helligkeit Macht über die Dunkelheit bekam. Dabei behielt er den Eingang des Wohnhauses und die Menschen, die das Gebäude verließen, im Auge. Er hielt seinen Slider in der Hand und sah immer wieder auf das Foto, das er vorgestern Abend aufgenommen hatte, als Momoko die Praxis von Dr. Ahlbrand verlassen und sich in ihrem Auto auf den Heimweg gemacht hatte. Durch das Bild, das eine kleine, hübsche junge Frau mit langen schwarzen Haaren zeigte, war es nicht schwer gewesen, an ihren vollständigen Namen und ihre Wohnanschrift zu kommen. Alles, was er dazu gebraucht hatte, war die Suchmaschine seines Computers gewesen. Mit deren Gesichtererkennung, die kostenlos im Internet angeboten wurde, hatte er ohne Probleme und Kenntnisse den Namen und die Anschrift der 24-jährigen erfahren.
In seiner rechten Jackentasche hielt er eine Waffe fest, die zu seinen Arbeitsutensilien bei einem Sicherheitsdienst gehört hatte. Als er vor einiger Zeit seinen Dienst aufgrund einer beträchtlichen Erbschaft quittiert hatte, steckte er seinem damaligen Kollegen an der Waffenausgabe ein paar Scheine zu und konnte dadurch die handliche Pistole behalten.
Endlich kam Momoko durch die gläserne Eingangstür des Hochhauses mit etwa 100 Stockwerken. Trovítos Herz klopfte schneller und er zog die Pistole etwas aus seiner Jackentasche heraus. Er erkannte sie sofort. Die Assistentin trug einen hellbraunen Wintermantel, hielt ihre Handtasche in der rechten Hand und ihre schwarzen Haare, die bis zur Hüfte reichten, wehten ihr ins Gesicht. Als sie die Stufen hinuntergehen wollte, trat er auf sie zu, zeigte ihr kurz die Waffe und steckte diese wieder ein. „Kein Ton, sonst knalle ich dich ab. Klar?“
Momoko zuckte erschrocken zusammen und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Dennoch nickte sie. Trovíto schob sie um die Ecke ihres Wohnhauses und wartete einige Minuten, bis der Bürgersteig leerer wurde. „Wir fahren jetzt zusammen zu deinem Arbeitsplatz! Hast du das verstanden?“
Momoko nickte erneut.
„Wenn du keine Mätzchen machst, wird dir nichts passieren!“
Die beiden stiegen ins Auto ein und machten sich auf den Weg zur Praxis des Gynäkologen. Trovíto saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und richtete seine Waffe auf sie, die er in seinem Schoß mit der rechten Hand umklammerte.
Die 24-jährige schien nicht zu merken, wie sehr er zitterte, und leistete keinerlei Widerstand. Ihr Blick war die ganze Zeit über stur geradeaus gerichtet. Nach einer halben Stunde parkte die Assistentin mit ihrem Entführer vor dem Hochhaus, in dem sich die Arztpraxis befand.
Zur gleichen Zeit waren Dr. Ahlbrand und seine Kollegin Félípa schon bereit für neue Patientinnen. Es wies heute alles auf einen ruhigen Arbeitstag hin. Seit alle Menschen einen Chip im Nacken trugen, durften nur noch vorbestellte Frauen den Gynäkologen aufsuchen. Wer ohne Termin an der Tür läutete, wurde abgewiesen. Auf diese Weise konnte der Terminplan des Arztes immer entspannt eingehalten werden.
Dass heute ihr letzter Tag auf dieser Erde sein würde, ahnte jetzt, am frühen Morgen, noch keiner der Praxismitglieder.
Nach der Öffnung der Praxis um acht Uhr war der Doktor wie jeden Tag in seinem Sprechzimmer verschwunden. Er hatte die Tür zum Vorzimmer offen stehen lassen, da heute die erste Patientin erst gegen neun Uhr erwartet wurde. So konnte er gegebenenfalls mit seiner Assistentin sprechen, ohne ins Vorzimmer gehen zu müssen. Für die erste Stunde dieses Tages hatte er sich vorgenommen, liegen gebliebenen Schreibkram zu erledigen.
Die zierliche Félípa blickte auf die Uhr, die ihr gegenüber an der Wand angebracht war, denn ihre Kollegin Momoko war noch nicht eingetroffen, was ihr gar nicht ähnlich sah. Schon immer war sie jeden Morgen pünktlich an ihrem Arbeitsplatz erschienen.
„Wo bleibt denn Momoko heute?“, rief Dr. Ahlbrand aus dem Sprechzimmer, als es plötzlich an der Eingangstür klingelte. Félípa wunderte sich, denn alle Praxismitglieder konnten die Tür mit ihrem Fingerabdruck öffnen, und es wurde noch keine Patientin erwartet.
Sie saß hinter ihrem Schreibtisch am Empfang und blickte auf den Monitor, der den Bereich vor der Tür zur Praxis zeigte. Dort sah sie einen großen Mann mit einer Strumpfmaske über dem Kopf, der allem Anschein nach ihre Kollegin in seiner Gewalt hatte und sie mit einer Waffe bedrohte. Sie rief laut nach ihrem Chef, der direkt herbeieilte und ebenso fassungslos auf den Monitor starrte.
„Das ist Mo … mo … ko!“ Félípa sah ihn entgeistert an.
Ihr Chef beugte sich über die Theke und drückte den Knopf für die Gegensprechanlage. „Was wollen sie?“
„Hilfe, bitte helfen …“, tönte die verzweifelte Stimme von Momoko aus dem Lautsprecher, die aber sofort von der Hand des Mannes erstickt wurde.
Félípa konnte deutlich sehen, dass seine Hand zitterte, mit der er seine Waffe an die Schläfe von Momoko presste.
„Machen sie, was ich sage, sie haben keine Wahl! Öffnen sie sofort die Tür, oder sie ist tot!“
Dr. Ahlbrand war schockiert. „Mein Gott! Momokos Leben ist in Gefahr! Félípa, wir MÜSSEN die Tür aufmachen!“
Er betätigte den Öffnungsknopf, die Tür sprang unmittelbar auf und gab den Blick auf den gewalttätigen Mann und sein Opfer frei. Der Vermummte schob sie durch den breiten Flur der Praxis, dann schubste er sie so kräftig, dass sie stolperte und kurz vor der Theke zu Fall kam. Dort blieb sie regungslos liegen, umklammerte aber krampfhaft ihre Handtasche mit der rechten Hand.
Der Fremde stand jetzt etwa zwei Meter vor der langen Theke, die den Bereich der Anmeldung vom Flur trennte. Er war mit einer grauen Hose sowie einer schwarzen Stoffjacke bekleidet und durch die hautfarbene Strumpfmaske konnte man ihn nicht erkennen. Sein Gesicht war grotesk verzerrt, ähnlich wie bei einem Fallschirmspringer, dessen Haut im heftigen Wind flattert. Seine Stirn war nach hinten gezogen, ein Auge kleiner als das andere und die Wangenhaut klebte fast an den Ohren.
Er drehte sich kurz um und blickte zur Eingangstür, die sich in diesem Augenblick selbstständig und mit einem Klickgeräusch schloss.
„Bleib da unten“, brüllte er Momoko an, die bewegungslos und mit Nasenbluten bäuchlings auf den weißen Fliesen lag. Dabei richtete er seine Waffe auf Dr. Ahlbrand. Mit seiner linken Hand zog er ein Taschenmesser aus der Hosentasche, das er demonstrativ auf Augenhöhe aufklappte.
Félípa erstarrte hinter ihrem Tresen. Sie sah Dr. Ahlbrand an und dieser nickte kaum merklich. Dann fasste sie sich ein Herz. Sie betätigte mit dem Fuß den auf dem Fußboden unter dem Schreibtisch angebrachten roten Alarmknopf. Die Direktleitung zur Polizei. Ihr Chef warf ihr einen zustimmenden Blick zu.
„Wo ist meine Frau, du elendes Schwein?“, schrie der Unbekannte hysterisch und richtete seinen Blick auf Dr. Ahlbrand, der erstaunlich ruhig blieb und unbeweglich vor der Theke stand. „Ganz ruhig … wir klären das“, antwortete er besonnen. „Bitte tun sie uns nichts. Wie heißt ihre Frau?“
„Ich will ihnen ja nichts tun, ich will nur meine Chenoah! Chenoah Varkh heißt sie und sie ist schwanger! WAS, verdammt noch mal, haben sie mit ihr gemacht?“, schrie er und fuchtelte wild mit seiner Pistole durch die Luft, sodass sich Félípa hinter ihrem Schreibtisch ängstlich duckte. „Nicht bewegen!“, brüllte er und richtete seine Waffe jetzt auf Félípa, die hochschreckte und ihn mit angsterfüllten Augen ansah, bevor sie sich wieder auf ihrem Stuhl gerade rückte. „Los, aufstehen! Stell dich neben den Doc!“, rief er und Félípa folgte seinem Befehl.
Dr. Ahlbrand stand starr auf einem Fleck und verzog keine Miene. Er versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen. „Ich weiß nicht, wovon sie reden, tut mir leid.“
„Du elender Lügner!“ Der nervöse Mann fuchtelte mit seiner Pistole umher und bedrohte abwechselnd die zwei Personen vor ihm und die am Boden liegende Momoko. Offensichtlich hatte er diese Antwort nicht erwartet.
„Ich kann ihnen wirklich nicht helfen!“ Dr. Ahlbrands Ton wurde etwas schärfer. Félípa, die jetzt zwischen ihm und der Theke stand, hätte jetzt viel darum gegeben, seine Gedanken lesen zu können. Der Doktor durfte keinesfalls die Wahrheit sagen, soviel stand fest.
„Los steh auf!“, brüllte der Vermummte und stieß die auf dem Boden liegende Momoko grob mit dem Schuh an. Diese drehte sich sehr langsam auf die Seite und stütze sich mit einer Hand am Boden ab, um aufstehen zu können. Mit der anderen griff sie in ihre geöffnete Handtasche.
Als Varkh das bemerkte, kam es zu einem Zwischenfall. Er warf sein Messer auf den Boden, bückte sich und griff mit der linken Hand Momokos Arm, in dem sie ein Pfefferspray hielt. Sie versuchte, seine Hand abzuschütteln, zog ihn dabei zu Boden und es kam zu einer kurzen Rangelei. Plötzlich fiel ein Schuss. Das Spray glitt aus Momokos geöffneter Hand, rollte einige Meter weiter, prallte an die Wand des Vorzimmers und ihr Arm fiel kraftlos zu Boden. Varkh kniete über ihr und starrte sie bestürzt an. Dann griff er sein Messer und stand auf. Sein Kopf war feuerrot und er schnaubte wie ein wild gewordenes Nilpferd.
Momoko hingegen stand nicht mehr auf. Sie lag auf der Seite, das Blut lief in einem kleinen Bach aus ihrem Körper und sammelte sich unter ihm zu einer großen Blutlache. Ein paar Minuten später starrten ihre toten Augen in die Richtung der Eingangstür.
Dr. Ahlbrand war kreidebleich, Félípa liefen die Tränen über die Wangen, sie hielt sich an der Theke fest, und selbst der Todesschütze war bestürzt. „Das … das habe ich nicht gewollt“, stammelte er, richtete seine Waffe wieder auf Dr. Ahlbrand und bedrohte erneut Félípa mit seinem Messer. „Ich will nur wissen, wo meine Frau ist, verdammte Scheiße!“
„Bleiben sie ruhig“, versuchte der Doktor die Situation zu retten. Er konnte nicht wissen, dass Momoko gerade gestorben war, denn ihr Gesicht zeigte von ihm weg. „Ich weiß wirklich nicht, wo ihre Frau ist … bitte glauben sie mir! Wieso denken sie denn, sie wäre hier?“
„Weil … weil …“ Der Eindringling wischte sich den Schweiß von der Stirn, der durch seine Strumpfmaske sickerte. „Weil sie nicht mehr aus ihrer Praxis herauskam, sie Arschloch! Ich habe sie hergebracht und musste draußen vor der Tür warten, stundenlang … aber sie kam nicht mehr heraus!“ Jetzt schossen Tränen in seine Augen, was man selbst durch die Maske noch deutlich erkennen konnte und seine Stimme zitterte: „Das war gestern vor drei Wochen am frühen Nachmittag, sie können sich doch noch an sie erinnern oder?“
„Das tut mir leid, aber sie müssen sie verpasst haben. Und ja … ich kann mich sehr gut an ihre Frau erinnern“, sagte der Doktor gefasst.
„Hallooo?“ Jetzt trat der Bewaffnete ein paar Zentimeter näher an den Arzt heran. „Ich habe gut drei Stunden vor der Tür gestanden! Ich habe geklingelt und geklopft, aber ihr Penner habt mich einfach ignoriert! Bin dann runter, eine rauchen und irgendwann heim, weil ich dachte, ich hätte sie verpasst. Aber zuhause war sie auch nicht! Bis heute ist sie nicht mehr heimgekommen!“
Verzweifelt starrte er Félípa an, die sich sehnlichst an einen anderen Ort wünschte. Die Bilder in ihrem Kopf waren genauso klar wie vor drei Wochen, als Herr Varkh, gemeinsam mit seiner Frau Chenoah, vor der Tür gestanden hatte. Er versuchte alles, um seine Frau begleiten zu dürfen, aber Dr. Ahlbrand war vom Direktor des ‚Projektes I1‘, angewiesen worden, keine Männer die Praxis betreten zu lassen. Schon damals hatte ihr der Mann, der ihr jetzt ein Messer an die Kehle hielt, in der Seele leidgetan, was sich mit seinem jetzigen Auftritt nicht verbesserte. Am liebsten hätte sie ihm die Wahrheit erzählt, aber das konnte sie ihrem Chef nicht antun.
Plötzlich klingelte es. Alle Anwesenden sahen sich fragend an und einen Augenblick später klopfte es an der Tür. „SOFORT AUFMACHEN! POLIZEI!“
Varkh positionierte sich hinter Dr. Ahlbrand und presste ihm die Schusswaffe an den Kopf. Die junge Frau fühlte das spitze, scharfe Messer an ihrer Kehle. Der Mann zitterte heftig, deshalb schnitt die Spitze des kleinen Dolches in ihre zarte Haut und Blutstropfen fielen auf ihren schneeweißen Kittel. Ihr Herz raste, sie atmete stoßweise und hielt die Spannung kaum noch aus.
„Keinen Ton“, zischte der Mörder panisch. „Lassen sie mich in Ruhe, verschwinden sie, sonst sind die Leute hier tot. Hören sie mich?“, grölte er nach draußen.
Eine Weile blieb es still. Weder Félípa noch ihr Chef trauten sich, etwas zu sagen. Der Körper der Assistentin bebte, der Doktor sah aus wie ein weißer Geist. Er stand noch immer da, als hätte er einen Stock verschluckt und schielte auf die Waffe an seiner Schläfe.
In diesem Moment klingelte das Telefon. „Rangehen!“, schrie der Vermummte.
Félípa beugte sich über den Tresen, ergriff den Hörer, und bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie eine männliche Stimme: „Hier ist die Polizei! Bleiben sie ruhig, wir holen sie da raus! Stellen sie das Gespräch jetzt auf Lautsprecher.“ Félípa drückte den entsprechenden Knopf auf der Basisstation des Telefons, sodass alle Anwesenden die Stimme des Vermittlers hören konnten. „Lassen sie die Geiseln frei, sie haben keine Chance“, tönte es aus dem Gerät. „Wenn sie nicht aufgeben, werden wir die Praxis stürmen!“
„Das können sie vergessen! Ich will wissen, wo meine Frau ist!“, schrie Varkh verzweifelt. Der Polizist am anderen Ende der Leitung fuhr mir ruhiger Stimme fort: „Was hat der Arzt mit ihrer Frau zu tun, erklären sie mir das. BITTE!“
„Sie ist hier drinnen verschwunden und ich will sie jetzt sofort sehen! Ohne Chenoah gehe ich nicht hier weg, verstehen sie das?“ Seine Augen glitzerten unter Tränen und er machte einen bemitleidenswerten Eindruck.
„Dr. Ahlbrand sind sie auch da drin?“, hallte die Stimme des Polizisten aus dem Lautsprecher.
„Ja, ich bin hier“, sagte der Frauenarzt gefasst.
„Wie viele Personen befinden sich in der Praxis?“
„Außer mir sind nur noch der fremde Mann und meine Assistentin hier.“
„Was sagen sie zu den Anschuldigungen?“ Der Polizist klang freundlich und ruhig und gab sich offenbar alle Mühe, den Vorfall zu einem guten Ende zu bringen.
„Frau Varkh ist meine Patientin. Sie kam vor drei Wochen in meine Praxis. Ihr Mann war nicht dabei. Diesen Herren habe ich noch nie gesehen. Ich habe sie untersucht und es war alles in bester Ordnung. Dann ging sie nach Hause.“
„Lüge! Alles Lüge! Vorhin haben sie gesagt sie kennen sie nicht! Ihr steckt doch alle unter einer Decke!“, schrie der Vermummte, wild gestikulierend und schoss in die Decke. Der Doktor und Félípa fuhren erschrocken zusammen.
Dann ging alles sehr schnell. Zwei Polizeibeamte öffneten gewaltsam die Tür, und als der Eindringling die Geräusche hörte, stach er panisch und mit aller Kraft in den Hals der Assistentin. Félípa riss zuerst die Augen auf, verdrehte sie grotesk und sank dann langsam auf den Boden. Beinahe gleichzeitig drückte Varkh den Abzug seiner Waffe, die er an der Schläfe von Dr. Ahlbrand platziert hatte. Sofort fiel der Doktor tot zu Boden. In diesem Augenblick fingen die Polizisten an, zu schießen.
Trovíto wusste nicht, wie ihm geschah, er war wie in Trance. Nachdem der Doktor und seine Assistentin auf den Boden gefallen waren, lief er zwei Schritte hinter den Tresen und duckte sich. Die Wachmänner standen wild schießend an der Wand des Flures, da sie dort keine Deckung finden konnten. Sie durchlöcherten die Theke im vorderen Bereich, zerstörten den Computerbildschirm und das Glas des Bücherschrankes fiel splitternd zu Boden. Trovíto wartete im hinteren Bereich des Vorzimmers und im Schutz der Theke ab, bis die Polizisten ihr Magazin der kleinen Maschinenpistolen leergeschossen hatten. Nach einigen Minuten war es soweit. Er stand auf und schoss kaltblütig zuerst dem vorderen, schwarz uniformierten Mann gezielt in den Kopf, als dieser gerade ein neues Magazin in seine Waffe schieben wollte. Mit einem Loch in der Stirn stierte er kurz den Schützen an und fiel dann zu Boden. Der Zweite drehte sich um, um aus der Praxis zu flüchten. Trovíto schoss ihm dreimal in den Rücken, sodass auch er stürzte.
Die beiden Gesetzeshüter lagen etwa zwei Meter voneinander entfernt im Flur der Praxis. Trovíto nahm ihnen die Waffen ab und warf sie wütend hinter sich. Ihr Idioten! Warum gebt ihr mir nicht einfach meine Frau zurück? Das habt ihr jetzt davon! Mann o Mann, FUCK!
Nacheinander legte er seine Hand an die Halsschlagadern der Polizisten, um sich zu vergewissern, dass die Männer nicht wieder aufstehen würden. Dann stieg er über die tote Momoko und stellte den Tod von Dr. Ahlbrand und Félípa fest. Leise murmelte er: „Verdammt … tut mir echt leid, das wollte ich nicht. Gott sei mit euch. Warum habt ihr mir nicht gesagt, was ihr mit Chenoah gemacht habt? Ich werde es herausfinden! Sie MUSS hier sein!“
Verzweifelt sah er in alle Räume der Praxis, selbst die Toilette ließ er nicht aus. Die Ereignisse fühlten sich an, als würde er sich in einem billigen Krimi befinden, der im Zeitlupentempo gedreht wurde. Dass er soeben fünf Menschen getötet hatte, war ihm nicht bewusst.
Hier ist sie nicht, soviel steht fest, dachte er. Ihr Drecksäcke, was habt ihr mit ihr gemacht? Wo habt ihr sie hingebracht? Ich muss den Aktenschrank im Vorzimmer durchsuchen, vielleicht finde ich dort etwas!
Er lief dorthin zurück, stieg über die Leichen und steuerte den großen Aktenschrank an, der am Eingang des Vorzimmers auf der rechten Seite an der Wand stand. Seine Augen wanderten unruhig über die alphabetisch angeordneten Buchstabenschildchen, die ordentlich in ihren Vorrichtungen steckten. Varkh … V … wo ist V … Er zog die entsprechende Schublade auf, riss hektisch eine Akte nach der anderen heraus und warf sie auf den Boden, aber die seiner Frau war nicht dabei. Ratlos trat er einen Schritt zurück, seine Augen suchten hektisch nach einem Hinweis, bis sein Blick an einer nicht beschrifteten Schublade in der zweiten Reihe hängen blieb. Im Gegensatz zu den anderen war sie abgeschlossen und das kam ihm seltsam vor. Sein Herz klopfte wild, er zerrte mit aller Kraft, die Schublade gab ein bisschen nach, aber sie öffnete sich nicht.
Trovíto überlegte. Ich brauchte etwas Langes, Stabiles, um die Schublade aufzuhebeln. Am besten ein Brecheisen oder so was. Er rannte zurück ins Sprechzimmer von Dr. Ahlbrand. Suchend blickte er um sich, aber hier befanden sich nur ein Schreibtisch und einige Schränke sowie Regale mit Büchern. Er hastete weiter durch die Zwischentür in das Untersuchungszimmer und machte sich an einem Schubladenschrank zu schaffen, der neben dem Schreibtisch stand. Hastig zog er sämtliche Schubladen auf und durchwühlte sie. Die darin befindlichen Spritzen, Stäbchen, das Verbandsmaterial und andere Utensilien warf er auf den Boden, bis ihm schließlich ein Spekulum aus stabilem Metall in die Hände fiel.
Ich weiß zwar nicht, wozu das gut sein soll, aber das ist genau richtig! Damit müsste es gehen, dachte er, lief zurück, setzte das Untersuchungsgerät, das normalerweise bei gynäkologischen Untersuchungen in die Scheide der Frau eingeführt wird, in den Schlitz über der Schublade. Mit zwei kräftigen, ruckartigen Bewegungen flog diese - begleitet von einigen Schrauben - aus ihren Halterungen und landete vor ihm auf dem Boden. Eine der Schrauben hätte ihn beinahe ins Auge getroffen, prallte aber an der Braue ab und hinterließ ein Loch im Strumpf, durch das sich langsam eine Laufmasche den Weg nach unten zu seinem Mund bahnte. Er griff sich kurz an die Stirn und sah das Blut an seiner Hand, ignorierte aber die Wunde und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, der bereits durch die Strumpfmaske sickerte.
Er war sich sicher, gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte. In der aufgebrochenen Schublade befanden sich nur wenige Krankenakten, die jeweils oben durch einen roten Reiter beschriftet waren. Auf der ersten Akte stand in großen, ordentlich gedruckten Buchstaben ‚Heýnír, Sýnke‘. Die nächste Mappe trug die Aufschrift ‚Soldýr, Lucíll‘. Bei der dritten Akte wurde er fündig. ‚Varkh, Chenoah‘, stand da. Er holte die Akte aus der Schublade, schlug sie auf und nickte. Dann nahm er die anderen fünf Akten ebenfalls an sich und verstaute alles in der mitgebrachten Plastiktüte, die in seiner Jackentasche gesteckt hatte. Ja! Das ist es! Endlich habe ich, was ich brauche!
Er verließ die Praxis, hastete den Flur entlang zum Treppenhaus und eilte die 65 Stockwerke hinunter. Unterwegs stolperte und fiel er, raffte sich aber immer wieder auf.
Schatz, wo immer du auch bist, ich finde dich! Das schwöre ich dir. Und wenn ich alle töten muss, ich finde dich und unser Baby!