‚Projekt I1‘ - Todesschüsse
Einige Tage nach ihrer Auseinandersetzung mit Peddenpol trat Kaatje ihre Mittagsschicht im Speisesaal an. Sie hasste diese, denn sie wollte keinesfalls als Kontrollperson wahrgenommen werden. Etwas abseits der anwesenden Frauen setzte sie sich an einen Tisch in der rechten Ecke des Raumes, löffelte ihre Suppe und verspeiste einen gemischten Salat mit frittierten Mehlwürmern.
In den vergangen Tagen hatte sie dienstfrei und konnte endlich wieder einmal - gemeinsam mit ihrem Ehemann Patrízío – trainieren. Die beiden genossen diese seltenen Tage in vollen Zügen. Auch Patrízío arbeitete im Schichtdienst und oftmals hatten sie nicht gleichzeitig frei; dann gaben sie sich entweder die Türklinke in die Hand oder sahen sich tagelang so gut wie gar nicht.
Vor Dienstantritt hatte Kaatje, wie so oft, den Überwachungsraum besucht. Dieser wurde von zehn großen Monitoren beherrscht, die an den Wänden rundum angeordnet waren. Davor standen Tische, an denen die Kollegen die eingesperrten neuen Frauen aus verschiedenen Perspektiven beobachteten. Tagsüber waren fünf Kollegen im Dienst; nachts arbeiteten hier nur zwei.
Kaatje hatte sich jeden Bildschirm genau angesehen und ihr Blick war an einem hängen geblieben, der eine junge Frau mit pechschwarzen Haaren zeigte, die zusammengerollt in ihrem Bett lag. Die Aufseherin beobachtete sie fast täglich und es war ihr aufgefallen, dass sie schon sehr lange eingesperrt war. „Wie geht es Frau Grewe?“, hatte sie gefragt und auf das Monitorbild gedeutet.
Heìlìs, der Chef des Überwachungspersonals, hatte freundlich geantwortet. Er war ein immer heiterer, mittelgroßer Mann mit einer runden Brille auf einer viel zu großen Nase in dem schmalen Gesicht. Kaatje mochte seine Stimme, sie klang warm und sympathisch.
„Tagsüber ist sie in letzter Zeit ruhig“, hatte er gesagt. Dabei stand er auf, schob seine Hände in die Hosentaschen und trat einen Schritt näher an Kaatje heran. „Frau Grewe scheint sich endlich mit ihrer Situation abgefunden zu haben. Sie tobt und schreit nicht mehr. Die nächtlichen Albträume sind anscheinend auch seltener geworden.“
Kaatje war erleichtert. Die Energie dieser kleinen, schlanken Person war ihr schier endlos erschienen. In der ersten Woche hatte man Kaýleen Grewe immer wieder festbinden müssen, da sie sich am ersten Tag die Haare ausgerissen und versucht hatte, sich mit ihrer Bettwäsche zu erhängen. Am zweiten Tag hatte sie den Spiegel über ihrem Waschbecken zerschlagen und sich mit den Scherben die Pulsadern aufschneiden wollen. Tags darauf war sie mit dem blechernen Mülleimer auf einen Wärter losgegangen, und als dieser ihn ihr entrissen hatte, versuchte sie, ihm einen Stuhl auf den Kopf zu schlagen.
„Ich denke, sie ist soweit und kann sich jetzt frei bewegen“, hatte Heìlìs ihr mitgeteilt. „Wir haben die Genehmigung von Herrn Peddenpol schon angefordert, aber noch keine Antwort erhalten.“ Ratlos hatte er mit den Achseln gezuckt.
„Ich sorge dafür, dass er die Erlaubnis schnellstens unterschreibt!“, hatte Kaatje gesagt, und nachdem sie sich verabschiedet und allen einen schönen Tag gewünscht hatte, hatte sie sich auf den Weg gemacht, um ihren Dienst im Speisesaal anzutreten. Zum Kuckuck, schon wieder Peddenpol! Ich kann diesen Namen nicht mehr hören!
Jetzt lauschte sie dem Donner und dem Regen, der an die kleinen Fenster prasselte. Dabei beobachtete sie die ersten Frauen, die mit dem Mittagessen fertig waren und die Kantine verließen. Die meisten grüßten sie freundlich und die Aufseherin lächelte zurück. Gelangweilt sah sie auf ihren Slider. Oh Mann, erst 13 Uhr! Noch eine Stunde …
Zu gerne hätte sie ihren Chef angerufen und ihm von Darrýls Fehltritten berichtet, aber das Risiko war hier, im Speisesaal, zu groß. Die Frauen durften keinesfalls von den Missetaten des Stationsleiters erfahren. Außerdem wollte sie unter vier Augen mit Klíesch sprechen. Sie war gespannt auf seine Reaktion, wenn er erfahren würde, dass Naýkas Baby sich nicht selbst erstickt hatte und dass sein geschätzter Herr Stationsleiter Schuld am Tod der Mutter war.
13.10 Uhr erst … Kaatje gähnte hinter vorgehaltener Hand und beobachtete Caramída, die einen Platz inmitten von mehreren jungen Frauen gefunden hatte. Sie sprach kaum, schien sich aber wohlzufühlen, denn ab und zu huschte ein warmes Lächeln über ihr altes Gesicht und ihre gütigen Augen strahlten.
Die Aufseherin ließ ihren Blick zwischen den vielen Frauen umherwandern. Langsam leerte sich der Speisesaal.
Sie überlegte: Was ist Sinn und Zweck des Ganzen? Warum sind sie alle hier? Was hat man mit ihnen vor? Sollen sie für immer hier bleiben?
Ist das hier wirklich das, was sich die Regierung als Lösung vorstellt? Keine Frage, die Bevölkerungsdichte ist viel zu hoch. Die Nahrungsmittel werden immer knapper, inzwischen müssen wir ja schon morgens um sieben Uhr zum Supermarkt fahren, um überhaupt noch frische Lebensmittel zu bekommen. Das Land wird tatsächlich immer kleiner, die Stadt ist so voll wie noch nie. Aber kein Mensch auf dieser Welt hat das Recht, einfach unschuldige Menschen wegzusperren oder gar zu töten!
Ihr Blick fiel auf Sýnke und Anísha, die in der Mitte des Speiseraumes an einem Tisch saßen und sich lebhaft unterhielten. Kaatje war bestens informiert, ihre Kollegin Tríne hatte sie an ihren freien Tagen telefonisch auf dem Laufenden gehalten. So hatte sie vom Gespräch der beiden mit Chenoah erfahren, welches ihre Kollegin durch die Beobachtungskamera gesehen und mitgehört hatte.
Die drei Frauen hatten im Fernsehzimmer gesessen und versucht, einen Sinn in ihrem Bunkeraufenthalt zu entdecken, aber es schien keine Ähnlichkeiten zu geben. Man hatte ihnen bei ihrer Ankunft die Augen verbunden, das schien die einzige Gemeinsamkeit zu sein.
Anísha hatte vor ihrer Entführung bei ihren Eltern gelebt. Sie und die verheiratete Chenoah waren wohlhabend. Beide waren schwanger und sich absolut sicher, in einem Luftmobil auf dem Bunker gelandet zu sein.
Sýnke hingegen hatte mit ihrem Partner zusammengewohnt und war nicht vermögend. Im Gegensatz zu den anderen beiden Frauen war sie mit dem Auto hierher gebracht worden und nicht schwanger. Jedenfalls hoffte sie das. Sie hatte den anderen beiden Frauen erzählt, dass sich sehnlichst ihre Regel herbeiwünschte.
Jetzt beobachtete Kaatje die Mädchen, die aufgestanden waren und auf sie zusteuerten. „Hallo Frau Vesbroích, dürfen wir uns zu ihnen setzen?“, fragte Anísha, wartete die Antwort erst gar nicht ab und setzte sich auf einen Stuhl gegenüber der Aufseherin. Sýnke nahm neben ihr Platz. Kaatje nickte und lächelte die beiden Mädchen an.
„Wir möchten etwas mit ihnen besprechen“, fuhr Anísha fort.
„Ja gerne“, sagte Kaatje. Sie war froh darüber, nicht mehr alleine die Zeit totschlagen zu müssen. Sie kämpfte mit der Müdigkeit, denn in der Nacht hatte sie kaum geschlafen und stattdessen wundervolle Stunden mit Patrízío verbracht. „Wie kann ich euch helfen?“
„Es ist nicht so einfach, da sind mehrere Dinge …“, begann Anísha unsicher. „Wir haben die ganze Zeit überlegt, ob wir mit ihnen reden sollen, aber hier ist sonst niemand, dem wir vertrauen können, Frau Vesbroích.“
„Ja das könnt ihr. Raus mit der Sprache!“, Kaatje lächelte freundlich, rückte ihren Stuhl zurecht und wartete aufmerksam. Dabei betrachtete sie Anísha. Sie sieht aus wie eine Puppe. Sie wirkt so niedlich, so unschuldig und zerbrechlich! Der dicke Bauch passt überhaupt nicht zu ihr. Mit ihren 17 Jahren ist sie eigentlich noch viel zu jung für ein Baby.
Anísha räusperte sich. „Also es ist so … äh … Sýnke wird …“ Sie sah die Freundin fragend an, die zustimmend nickte. „… Ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll Frau Vesbroích … weil … also es geht um Herrn Peddenpol.“
Schon wieder Peddenpol!, dachte Kaatje. „Was ist mit ihm?“, fragte sie und machte sich auf eine neue Schocknachricht gefasst.
„Also … ähm …“, Anísha sah wieder zu Sýnke, die beschämt auf den Tisch starrte, und fasste sich ein Herz. „Er vergewaltigt sie andauernd!“
WUMMM! Diese Nachricht traf Kaatje wie ein Schlag. „Wie bitte???“, rief sie. Ihre Augen waren ungläubig zusammengekniffen, so, als ob sie schlecht sehen würde und ihre Zornesfalte auf der Stirn kam wieder zum Vorschein. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und atmete tief ein. „Wie lange geht das schon?“
Sýnke sah vom Tisch auf, konnte der Aufseherin aber allem Anschein nach nicht in die Augen blicken. Stattdessen starrte sie deren Hals an. „Schon seit meinem ersten Tag hier“, antwortete sie leise. „Ich habe mich nur nicht getraut, etwas zu sagen. Aber ich halte das nicht mehr aus und sie sind die Einzige, der ich hier vertrauen kann … glaube ich.“ Mit einem Blick auf Anísha fügte sie hinzu: „Also glauben wir …“
Ich hätte ihn totschlagen sollen, dieses elendige Schwein, dachte Kaatje, aber sie schwieg. Ihr fehlten die Worte. Von Darrýl Peddenpol war sie inzwischen einiges gewohnt, aber diese Anschuldigung setzte allem die Krone auf.
Sýnke rannen Tränen über die blassen Wangen. „Und jetzt bekomme ich meine Tage nicht …“
Kaatje kochte vor Wut, sie wusste nicht, was sie sagen sollte und die Drei schwiegen eine Zeit lang bedrückt, während die anderen Frauen freundlich grüßend und schwatzend an ihnen vorbei aus dem Speisesaal gingen.
Du lieber Gott, das darf alles nicht wahr sein! Darrýl du verdammtes Schwein! Du bist nicht nur ein Mörder, sondern auch noch ein mieser Vergewaltiger. Am liebsten würde ich dir eigenhändig die Eier abschneiden! Wenn Sýnke von dir schwanger ist … ich schwöre dir … das überlebst du nicht!
Nach einigen Minuten hatte sich die Bunkerwächterin einigermaßen gefangen. Sie ergriff Sýnkes Hand über den Tisch hinweg und drückte sie. Ihr fiel nichts ein, womit sie das verzweifelte Mädchen hätte trösten können. Gerne hätte sie ihr Mut zugesprochen, aber da gab es nichts zu sagen, da halfen keine warmen Worte. Abwechselnd sah sie die beiden Mädchen mitfühlend an. Sie wollte ihnen unbedingt helfen, deshalb sagte sie: „Ihr seid zwei tolle Mädchen, es war richtig, mir das zu sagen! Sýnke … es tut mir so wahnsinnig leid, dass dir das passiert ist, aber ich verspreche dir, dass Herr Peddenpol zur Rechenschaft gezogen wird.“
Sýnke und Anísha nickten dankbar und Kaatje fuhr zögernd fort: „Ich denke aber … es ist ebenso wichtig … die Frage zu klären, ob du ein Baby bekommst. Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Ich bringe dir nachher einen Schwangerschaftstest und wir führen ihn dann sofort gemeinsam durch. Ist das okay für dich? Dann sehen wir weiter.“
Sýnke nickte erneut stumm. Sie war offensichtlich gerührt von der Fürsorge der Aufseherin und hatte Tränen in den Augen.
„Wie lange bist du denn schon drüber?“, fragte Kaatje weiter. Sýnke liefen die Tränen die Wangen herunter und ihre Hand war in die von Kaatje vergraben.
„Seit drei Tagen“, antwortete sie, „ich hoffe schon dauernd darauf, dass ich meine Regel doch noch bekomme, aber es passiert einfach nicht! Dabei war sie immer pünktlich!“
Kaatje wurde es abwechselnd heiß und kalt. „Gedulde dich noch etwas, wir machen dann gleich den Test“, sagte sie und versuchte, so natürlich wie möglich zu klingen. Sie hoffte, dass die Mädchen nicht bemerkten würden, dass auch sie mit der Situation völlig überfordert war. So viel Leid und Grausamkeit hatte sie noch nicht erlebt. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken:
Es ist unglaublich, wie Darrýl mit den Frauen umgeht! Ganz klar, er muss den Bunker verlassen, Klíesch wird das garantiert genauso sehen. Der Boss ist kein Mann, der über Leichen geht. Er hat immer ein offenes Ohr für Probleme. Er MUSS einfach handeln, das kann er nicht durchgehen lassen! Mit den Aussagen von Sýnke und Caramída wird es keine Zweifel mehr geben. Ich bin mir sicher, dass ich beide dazu bringen werde, beim Chef das zu wiederholen, was sie mir gerade anvertraut haben.
Sýnke schien erleichtert zu sein, dass sie Kaatje ihr Herz ausgeschüttet hatte. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. „Ja bitte bald, ich werde noch verrückt! Ich muss endlich wissen, ob ich schwanger bin oder nicht. Vielen Dank für die Hilfe, Frau Vesbroích.“
„Sagt Kaatje zu mir ok? Das gefällt mir besser“, sagte die Aufseherin mit einem mütterlichen Lächeln, während sie die beiden Mädchen nacheinander ansah.
„Ja Frau … äh … Kaatje, danke“, brachte Sýnke holprig hervor.
„Na siehst du, ich hab’s dir doch gleich gesagt! Es war eine gute Idee, mit Frau … also mit Kaatje zu reden“, meldete sich Anísha, nahm die Freundin in den Arm, drückte sie leicht an sich und strich ihr über die Schulter. Dann sah sie die Aufseherin an. „Also … da ist aber noch etwas, was ich ihnen gerne sagen möchte.“
Kaatje wurde stutzig. Sie hatte den ersten Schock noch nicht verdaut und jetzt entdeckte sie auch in Aníshas flehenden Augen die pure Angst. Wird sie etwa auch von ihm missbraucht? Das hätte sie doch sicher im Zusammenhang mit Sýnke erwähnt? Oder nicht? Was kommt denn jetzt noch?
„Ja … was ist denn noch Anísha?“ Die Stimme der Aufseherin klang angenehm ruhig, obwohl sie nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand. Trotzdem versuchte sie, Haltung zu bewahren und atmete tief durch.
„Ich spüre seit zwei Tagen mein Baby nicht mehr. Es bewegt sich einfach nicht!“ fuhr Anísha mit ihrer hohen, kindlichen Stimme fort und Tränen traten in ihre riesigen graublauen Augen.
Kaatje war jetzt hoffnungslos überfordert, denn sie hatte noch keine Schwangerschaft erlebt. „Hm … Anísha … ich weiß nicht, ich habe keine Kinder geboren, deshalb weiß ich nicht, ob das normal ist.“
„Ach so schade …“, jetzt liefen bei Anísha die Tränen und tropften auf den Tisch.
Kaatje blickte hilflos im Raum umher, bis ihr Blick an Caramída hängen blieb. „Warte … ich hab eine Idee … wir fragen die Hebamme ja?“
„Eine Hebamme ist hier? Oh das ist ja wunderbar!“, rief Anísha.
Kaatje blickte hinüber zu dem Tisch, an dem sie Caramída vor einigen Minuten sitzen gesehen hatte. „Ja, seit ein paar Tagen ist eine Hebamme hier. Sie sitzt noch drüben am Tisch. Sie kann dir bestimmt mehr dazu sagen. Ich gehe sie schnell holen“, sagte sie im Aufstehen und kam kurz darauf mit der Geburtshelferin zurück.
„Hallo, ich bin Caramída. Freut mich, euch kennenzulernen“, grüßte die alte Dame freundlich, nachdem sie und Kaatje Platz genommen hatten. Die Aufseherin wusste, dass Anísha und Sýnke der alten fülligen Frau vertrauen würden. Sie strahlte eine angenehme Wärme und Herzlichkeit aus. „Kaatje hat mir gesagt, dass sich dein Baby nicht mehr bewegt“, leitete Caramída das Gespräch ein. „Wann hast du es das letzte Mal gespürt?“
Anísha überlegte kurz. „Ich glaube, vor zwei Tagen, bin mir aber nicht ganz sicher.“
„Im wievielten Monat bist du?“
„Im 9. … seit gestern“, beantwortete Anísha gewissenhaft die Frage.
„Ich denke, es wird bald zur Welt kommen. Es ist normal, dass Babys vor der Geburt ruhiger werden, denn sie haben kaum noch Platz im Bauch.“
„Ach so, das wusste ich gar nicht. Aber dann bin ich beruhigt“, Anísha atmete hörbar tief durch.
„Hast du sonst irgendwelche Beschwerden?“ Die Geburtshelferin wollte es offenbar genau wissen.
„Äh … wenn sie mich so fragen … ich habe auch seit gestern immer etwas rosafarben Flüssigkeit im Slip“, Anísha senkte ihren Kopf.
Caramída wandte sich zu Kaatje. „Gibt es hier wirklich keinen Arzt?“
Die Aufseherin schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht, wir bekommen keinen. Ich habe schon alles versucht. Der Chef hat gesagt, wenn der Chip meldet, kommt ein Arzt aus der Stadt. Aber wenn bei Anísha etwas nicht stimmen würde, hätte das doch schon passiert sein müssen oder?“
Caramída zuckte die Achseln. „Hm das weiß ich auch nicht.“ Dann wandte sich Anísha zu und sagte: „Wenn du möchtest, untersuche ich dich. Was meinst du? Ich tue dir auch bestimmt nicht weh.“
„Ja bitte“, Anísha nickte und Kaatje sah sie nachdenklich an. Sie versuchte, sich in das schwangere Mädchen hineinzuversetzen.
Es muss schrecklich sein, wenn man sein Baby nicht mehr fühlt. Bestimmt schläft sie sehr unruhig und wird immer wieder nachts wach, fasst sich dann auf ihren dicken Schwangerschaftsbauch und hofft auf ein Lebenszeichen ihres Kindes …, nur einen kleinen Tritt, eine Bewegung … aber sie fühlt nichts. Wahrscheinlich wird sie ihren Bauch streicheln, mit ihrem ungeborenen Kind reden, aber es reagiert nicht. Dann liegt sie sicher stundenlang wach und schläft erst in den frühen Morgenstunden wieder ein.
„Ja gerne Caramída“, antwortete Anísha. „Ich wäre ihnen wirklich sehr dankbar!“
„Dann gehen wir am besten gleich“, schlug Kaatje vor, weil die Putzkolonne schon mit der Arbeit begonnen hatte und sie offensichtlich im Weg saßen. „Ich hole den Test im Personalraum und wir treffen uns oben im vierten Stock. Am besten im Fernsehzimmer. Wisst ihr, wo das ist?“
Sýnke und Anísha nickten, aber Caramída sagte: „Ich gehe mit euch, ich kenne mich hier noch nicht so gut aus.“
Die Hebamme hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als allen der Atem stockte. Erschrocken fuhr Kaatje von ihrem Platz hoch, gleichzeitig mit Sýnke, die sie entsetzt ansah.
Trotz des heftig tobenden Gewitters hörte man deutlich, dass draußen Schüsse fielen. Sofort liefen Sýnke und Kaatje zu den kleinen Fenstern und schauten hinaus. „Oh nein! Nein! Kan! Kan!“, schrie Sýnke hysterisch.
Auch Kaatje sah nach unten. An der Vorderseite des Hauses lag ein Mann rücklings auf dem Boden. Seine toten Augen starrten in den Himmel. Zwei Männer in Grün standen bei ihm, einer hatte eine Waffe in der Hand. Der andere telefonierte, aber aufgrund der verschlossenen Fenster konnte man nichts verstehen.
Die Aufseherin wunderte sich zwar über Sýnkes Schreie, hielt es aber für wichtiger, zuerst zu sehen, was unten passiert war. Die beiden Aufseher hockten neben dem erschossenen Mann, und als sie aufstanden, erkannte sie den Stationsleiter Darrýl Peddenpol und seinen Kollegen Sevín Ecker. Obwohl sie sich im dritten Stockwerk befand, konnte sie die beiden klar und deutlich identifizieren. Kollege Darrýl hielt seine Waffe, die er anlegen musste, wenn er außer Haus Dienst hatte, noch in der Hand. Sevíns Hände hingegen waren leer. Peddenpol hatte den Mann offenbar niedergeschossen.
Sýnke schluchzte laut auf und rannte aus dem Speisesaal.
Kaatje stand vor dem Fenster, blickte Sýnke kurz hinterher und blickte dann wieder nach unten. Sie beobachtete ihre beiden Kollegen, die die Leiche des Mannes auf die Seite hoben. Dabei dachte sie darüber nach, ob sie Sýnke folgen sollte. Sie hatte Angst um das Mädchen und war hin- und hergerissen. Jedoch wurde ihr klar, dass sie den Speisesaal nicht einfach verlassen durfte. Sie war verantwortlich für die Frauen, die sich noch hier aufhielten und von denen sich die meisten neugierig vor den kleinen Fenstern drängten. Deshalb ging sie wieder zurück zum Tisch und erzählte Anísha und Caramída von dem Vorfall. Ihren Verdacht, dass der Stationsleiter wahrscheinlich der Todesschütze war, behielt sie jedoch für sich.
„Kaatje … was ist denn passiert? Und was ist mit Sýnke los, wo ist sie denn hin?“, fragte Anísha.
„Unten wurde ein junger Mann erschossen … hm … ich weiß es nicht, sie kommt bestimmt gleich wieder und dann werden wir sie fragen.“
„Das arme Ding, sie hat ihn sicher erkannt“, sagte Caramída. „Es muss so sein, sonst wäre sie ja nicht so panisch davongelaufen … ja … warten wir auf sie.“
Eine Weile beobachteten die drei Frauen die Eingangstür und nach einer gefühlten Ewigkeit kehrte Sýnke zurück. Sie war völlig außer Atem, offensichtlich war sie gerannt.
„Komm, setz dich erstmal“, sagte Kaatje zu ihr und Anísha schob ihr einen Stuhl zurecht. Nachdem Sýnke Platz genommen hatte, legte sie ihren Arm um sie. „Ich … ich …“, Sýnke keuchte heftig. „Ich … bin … so … gerannt …“
„Immer langsam, jetzt komm erstmal wieder zu Atem“, sagte Kaatje. Sie nahm die Wasserflasche vom Tisch und schenkte ihr ein Glas ein. „Hier … trink erstmal“, riet sie ihr, während sie ihr das Glas zuschob.
Sýnke trank mehrere große Schlucke, dann begann sie zu reden. „Dass … also der Mann … der … den sie erschossen haben … das war mein Freund Kantapper!“
Caramída schloss schweigend die Augen und Anísha kämpfte mit den Tränen. Ihre schönen Kulleraugen sahen so bemitleidenswert aus, dass selbst der hart gesottenen Kaatje das Wasser in die Augen trat.
„Ich wusste nicht einmal, dass er mich sucht!“, brachte Sýnke zitternd hervor. „Er ist wegen mir gestorben … er ist tot … nicht wahr?“
Kaatje antwortete: „Ja Sýnke, ich glaube schon.“
„Aber warum denn um Gottes willen“, sagte sie leise. „Ich wollte zu ihm, bin runtergerannt ins Erdgeschoss, aber nirgendwo war ein Fenster! Ich konnte nichts sehen! Habe an der Tür zur Eingangshalle gerüttelt, aber sie geht nicht auf! Es war scheußlich! Draußen hat es andauernd gedonnert, und es war so kalt und ich war ganz alleine!“ Ihre Worte überschlugen sich und sie weinte.
„Nun versuch erst mal, dich zu beruhigen …“, Caramída schaltete sich ein.
„Was haben sie mit ihm gemacht? Wo ist er jetzt? Haben sie einen Krankenwagen geholt? Ich MUSS zu ihm!“
„Wir alle verstehen dich Sýnke, aber das geht leider nicht“, sagte Kaatje. Das Mädchen tat ihr in der Seele leid.
„Das ist schrecklich, mein Kind“, sagte Caramída. „Mir fehlen die Worte, es tut mir so leid für dich!“
„Ich kann es nicht glauben“, Sýnke schnäuzte sich die Nase, und sie atmete tief durch. „Ich muss wissen, ob ich schwanger bin. Wenn es von Kan ist, dann bleibt wenigstens noch etwas von ihm hier. Lasst uns gehen! Bitte!“