Der Weg mit dem Bus zur Praxis des Frauenarztes war ein Erlebnis der besonderen Art. Gemeinsam mit 18 anderen Menschen standen Reece und Saýosha an der Bushaltestelle und nach kurzer Zeit kam schon das erste Fahrzeug. Die beiden waren begeistert, dass das so schnell ging, stellten aber frustriert fest, dass nur drei der Wartenden einsteigen konnten.

„Das kann ja heiter werden“, sagte der 55-jährige und trat nervös von einem Bein auf das andere, „wenn das so weiter geht, stehen wir morgen noch hier und ich kann es kaum abwarten, zu erfahren, was uns jetzt bei diesem feinen Doktor erwartet!“

„Ja das ist Mist, ich bin vielleicht froh, dass ich die High Heels von gestern Abend nicht angezogen habe“, erwiderte Reece und sah zuerst auf ihre rosafarbenen Turnschuhe hinunter und dann dem abfahrenden Bus hinterher. „Hast du das gesehen? In den Bussen gibt es gar keine Sitze mehr und offensichtlich reichen nicht einmal die vielen Stehplätze für die vielen Fahrgäste aus. Ich bin ewig nicht Bus gefahren, du?“

Es war auch Saýoshas erste Busfahrt, seit er wieder in Freiheit war. Hier und da hatte er sich Autos ausgeliehen, wie er es vor sich selbst rechtfertigte. Das wollte er aber seiner neuen Freundin nicht auf die Nase binden. Erneut log er: „Ich auch nicht, ich habe ein Auto, aber das ist kaputt. Die Autowerkstätten sind auch überfüllt und ich weiß nicht, wann ich einen Termin zur Reparatur bekomme.“

Reece nickte und sah ihn verständnisvoll an.

Nach 45 Minuten waren sie in der Warteschlange aufgerückt und konnten in einen Bus einsteigen. Reece stand ganz vorne und wurde von den drängelnden Menschen hinter ihr an die Glasscheibe gedrückt. Saýosha musste mit der kleinen Treppe nahe der Tür vorlieb nehmen. Er versuchte, zu seiner Begleiterin vorzudringen, doch ein Kinderwagen, der zwischen ihnen stand, machte dies unmöglich.

Das lange Fahrzeug, das ohne Fahrer durch die Stadt steuerte, schien aus den Nähten zu platzen und bremste oft heftig und rücksichtslos, sodass die Fahrgäste hin und her geschaukelt wurden. Umfallen konnte hier, in der dichten Menge, aber niemand. Die Fahrgäste plapperten laut durcheinander und oftmals beschwerten sich Leute über rücksichtslose Mitfahrer. Reece und Saýosha waren heilfroh, als sie endlich angekommen waren. Er sah auf seinen Slider, der ihnen den Weg zeigte.

Das Gebäude lag außerhalb der Stadt in einem der vielen Neubaugebiete inmitten von unzähligen Baustellen. Große Lastwagen, Bagger und Lastkräne rollten führerlos auf dem steinigen Boden umher. Saýosha und Reece, die sich bei ihm eingehakt hatte, kamen auch hier nur langsam voran. Schließlich betraten sie jedoch unversehrt die Eingangshalle und steuerten auf die Aufzüge zu, die sich auf der linken Seite des Gebäudes befanden. Die Fußböden und schneeweißen Wände wiesen darauf hin, dass das Gebäude erst vor Kurzem fertiggestellt worden war.

„Da gehe ich nicht rein!“, sagte Reece.

„Bist du noch nie in einem Paternoster gefahren Süße?“

„Nein! Das Ding hat überhaupt keine Stehfläche, siehst du das?“

„Ja klar, das ist auch so gedacht. Du betrittst den Umlaufaufzug, und sobald du deinen Fuß in den Windkanal gesetzt hast, wirst du von einem unsichtbaren Luftstrom in die gewünschte Fahrtrichtung mitgenommen. Wir schweben quasi nach oben.“

„Niemals!“ Reece starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

 „Süße bitte … denk an deine Schwester. Willst du vielleicht 85 Stockwerke nach oben laufen?“

„Äh … nein, das geht ja nicht …“

„Siehst du … also komm!“

„Ich habe Angst Saýosha! Was, wenn der Luftstrom kaputt ist und wir runterfallen?“

„Das passiert nicht Süße! Die Dinger sind doch gesichert. Komm, gib mir deine Hand.“

„Oh jeh …“ Reece begann zu zittern und Saýosha sah Panik in ihrem Blick. Er hielt sie fest an der Hand.

„Mach die Augen zu, es geht los“, sagte er, zog sie näher an den Paternoster heran und gemeinsam betraten sie das Wunderwerk der Technik. Die ganze, schier endlose Fahrt über hielt er seine Begleiterin in den Armen. Sie presste mit geschlossenen Augen ihren Kopf an seine Schulter. Erst, nachdem sie im 85. Stock angekommen waren und den langen Flur betraten, blinzelte sie Saýosha dankbar an. Dann atmete sie tief ein, plusterte ihre Backen auf, als wenn sie einen Luftballon aufblasen wollte, und atmete hörbar und erleichtert aus. „Oh Gott, das war Horror! Und was machen wir jetzt?“

„Na, du hast es ja überstanden“, sagte Saýosha grinsend. „Ich werde klingeln, und dann schaun wir mal, was passiert. Ich glaube, wir müssen erst mal hier entlang.“ Er zeigte auf die lange, senkrechte Tafel mit den Schildern der Firmen in diesem Stockwerk. Ganz unten befand sich eines mit der Aufschrift ‚Praxis Dr. Zumbronn‘ und darunter ‚Fünfte Tür rechts‘.

Sie liefen den langen Gang entlang, und als sie vor der Praxistür standen, drückte Saýosha die Klingel. „Drrrrrr … drrrrrrr …“, Stille. Kein Ton war aus dem Inneren der Praxis zu hören. Noch einmal: „Drrrrrrr … drrrrrrrrrrrrr……“, nichts. Wiederholt drückte er immer massiver und länger auf den Knopf, der über der Gegensprechanlage angebracht war, doch nichts geschah. Er trat einen Schritt zurück und blickte sich um. „Da oben ist die Kamera, die Línette erwähnt hat“, flüsterte er seiner blassen Begleiterin zu, die sich nicht von der Stelle rührte. „Die beobachten uns doch garantiert!“

Ratlos blieben die beiden vor der geschlossenen Tür stehen und zuckten erschrocken zusammen, als eine weibliche monotone Stimme aus der Gegensprechanlage zu ihnen sprach: „Guten Tag. Sie haben keinen Termin. Sollte Ihr Chip uns eine Meldung geben, werden Sie von uns kontaktiert. Auf Wiedersehen.“ Die weibliche Stimme klang mechanisch und hohl, wie die eines Roboters.

Saýosha zog Reece einige Meter zurück. „Línette hat recht. Da kommen wir nicht rein … außer … warte hier auf mich.“ Er richtete seine Aufmerksamkeit auf eine Frau, die aus dem Lift kam und im Vorbeigehen freundlich grüßte. Offensichtlich war sie hochschwanger. Saýosha folgte ihr und versuchte mit ihr ins Gespräch zu kommen. Reece blieb überrascht zurück.

„Wann ist es denn soweit?“, fragte er, als die Dame den Klingelknopf der Arztpraxis betätigte und sah auf ihren Bauch.

„Bald“, erwiderte sie knapp, ergriff den Türknopf und wartete.

Saýosha trat rasch einen Schritt nach links, in der Hoffnung, nicht von der Kamera gesehen zu werden.

Nach einer Weile meldete sich Frau Roboter aus der Gegensprechanlage: „Guten Tag. Ihr Termin ist bestätigt. Bitte treten sie ein.“ Die Tür summte, sprang auf und die Schwangere betrat die Praxis, ohne zu bemerken, dass Saýosha hinter ihr hineingeschlüpft war. Drinnen roch es muffig und es wimmelte von Frauen, die alle ein mehr oder weniger dickes Bäuchlein vor sich hertrugen. Er versteckte sich kurz hinter dem Eingang in einem kleinen Flur zwischen der Garderobe und einer Tür mit der Aufschrift ‚Notdurft‘. Mit stark klopfendem Herzen lauschte er den Stimmen von nebenan, denn rechts von ihm, hinter der Ecke, schien sich die Anmeldung zu befinden. Im Stimmengewirr der wartenden Frauen nahm er eine weibliche junge Stimme wahr, wahrscheinlich die der Assistentin des Arztes: „Frau Schwýnner, bei ihnen ist alles in Ordnung, in ein paar Wochen ist es soweit. Es beginnt nun die letzte Phase. Bitte nehmen Sie einen Augenblick in Raum 5 Platz.“

„Frau Jasmund?“, fragte eine andere Stimme. Das musste Assistentin Nummer zwei sein. „Sie sind die Nächste, der Doktor wird sie gleich hereinrufen. Sie können sich vor dem Sprechzimmer auf einen Stuhl setzen.“

„Wieso Raum 5?“, fragte die Angesprochene, deren Stimme Saýosha Frau Schwýnner zuordnete, „ich dachte, ich bin fertig?“

„Gehen Sie und stellen sie nicht andauernd Fragen Frau Schwýnner! Sie sehen doch, was hier los ist“, entgegnete die erste Assistentin forsch und genervt. Ihre Stimme und die der zweiten Helferin klangen anders als die aus der Gegensprechanlage. Saýosha fühlte sich in seiner Ahnung bestätigt, dass Frau Roboter eine Computerstimme war.

Er sah sich um. Auf dem Türschild gegenüber stand gut lesbar ‚Raum 5‘.

Na so ein Zufall!, dachte er und wartete angespannt. Es dauerte nicht lange und Frau Schwýnner, die Dame, die in Raum 5 geschickt worden war, tauchte auf. Sie war beinahe so groß wie Saýosha und ihr Erscheinungsbild glich eher dem eines Mannes. Sie trug eine graue Wollmütze über ihren kurz geschnitten braunen Haaren und die Jacke sah aus, als hätte sie sie in der Herrenabteilung gekauft.

Frau Schwýnner öffnete die Tür und ging hinein, ohne diese jedoch zu schließen, sodass Saýosha das Innere des Raumes sehen konnte. Der Raum war klein, kahl und weiß wie der Rest der Praxis, und er konnte außer einem Stuhl keine Möbel entdecken. Es befand sich nur eine Tür an der gegenüberliegenden Seite, die offensichtlich zu einem geschlossenen Aufzug gehörte.

Die Frau stand inmitten des Raumes und schaute sich unsicher um. Dann ging alles sehr schnell. Ein Mann im weißen Kittel huschte in Raum 5, packte die Schwangere an der Hand, zog sie zum Aufzug und drückte einen großen roten Knopf an der Wand. Als sich fast im selben Moment die Tür öffnete, schob er die Frau, deren Augen weit aufgerissen waren, wider ihren Willen rückwärts in den Aufzug. Sie landete direkt in den Armen zweier grün uniformierter Männer. Er selbst blieb draußen, bis sich die Tür geschlossen hatte.

„Ab mit dir nach oben“, hörte Saýosha den Weißkittel sagen. Er war einen Schritt vorgetreten, um das Geschehen besser beobachten zu können. Nun stand er da wie gelähmt. Sein Herz klopfte wie ein Presslufthammer und in seinem ganzen Körper breitete sich ein heftiges Kribbeln aus.

Verdammt, was ist hier los? Ich glaube ich spinne! Die haben die Frau doch gezwungen, den Aufzug zu betreten! Und wieso nach oben? Wir sind doch hier im letzten Stockwerk des Gebäudes?

„WAS machen sie hier?“                                                            

Saýosha erschrak und hielt die Luft an. Ihm wurde heiß und kalt. Vor ihm war plötzlich und wie aus dem Nichts der Weißkittel aufgetaucht. Herausfordernd sah dieser ihm ins Gesicht. Saýosha fielen blitzartig die verschwundenen Frauen wieder ein. Er dachte an Reece, die noch immer vor der Tür wartete und an deren vermisste Schwester, die er unbedingt finden wollte. Ihm durfte keinesfalls etwas passieren! Er musste sofort handeln, er hatte keine andere Wahl.

In Sekundenschnelle landete seine rechte Faust mit voller Wucht auf der breiten Nase des Weißkittels, gleichzeitig schienen dessen Augen aus ihren Höhlen springen zu wollen. Das knirschende Geräusch in seinem Gesicht deutete auf einen Nasenbeinbruch hin und das sofort herausschießende Blut landete auf Saýoshas Jacke und Hose. Der Mann sah ihn an, als sei er ein Außerirdischer, taumelte kurz und fiel dann mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.

Saýosha flüchtete so schnell er konnte aus der Praxis und lief zu Reece, die sichtbar aufatmete. Als sie jedoch die großen Blutflecke auf seiner Kleidung sah, nahm ihr Gesicht einen besorgten Ausdruck an. Bevor sie etwas sagen konnte, griff Saýosha ihre Hand und sagte: „Schnell weg hier!“ Dann hastete er mit ihr zum Paternoster, der sie in gefühltem Schneckentempo nach unten mitnahm.

„Um Himmels willen, was ist denn passiert?“, Reece deutete auf die Blutflecke, die seine braune Jacke durchweicht hatten. Dann sah sie seine rot angelaufene Hand und war plötzlich so besorgt, dass Saýosha den Eindruck hatte, sie habe ihre Angst vor der Fahrt im Paternoster vergessen.

„Nur ein Kratzer, der Typ sieht schlimmer aus“, Saýosha stand noch immer unter Hochspannung und spürte keine Schmerzen. Er grinste, als ob ihm Reece gerade einen jugendfreien Witz erzählt hätte. „Mach dir keine Gedanken Süße, geht schon. Hast du ein Taschentuch?“

„Ja klar“, Reece wühlte in ihrer Handtasche und gab ihm ein Papiertuch, mit dem er versuchte, das Blut zu entfernen, was jedoch kläglich scheiterte. Reece beobachtete ihn amüsiert und musste trotz aller Widrigkeiten kichern. „Das geht doch so nicht raus, wir weichen es zuhause ein. Am besten ziehst du die Jacke aus, sonst denken die Leute, du hättest einen abgestochen. Vielleicht bindest du sie dir um die Hüften, dann fallen die Flecken auf der Hose nicht mehr so auf. Und pass auf, dass nichts von dem fremden Blut in deine Schleimhäute gelangt! Wer weiß! Nicht, dass der irgendwie krank ist, dann hast du es auch.“

„Ja gute Idee meine Süße“, Saýosha gab Reece einen schnellen Kuss, zog die blutbeschmierte Jacke aus und band sie sich um die Hüften. Dabei dachte er: Wie geil war das denn? Nur ein Schlag hat für den Typen gereicht! Wow! Da kann man mal sehen, wofür der Knast gut ist! Das habe ich den vielen Schlägereien dort zu verdanken!

„So das wäre geschafft, so sollte es gehen.“ Er drehte sich wie ein Model ein paar Mal im Kreis und grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Reece, deren Angst allem Anschein nach verflogen war, nickte zustimmend. Die Blutflecke waren jetzt kaum noch zu sehen. „Ja prima, so kannst du es lassen. Aber nun erzähl endlich! Was ist denn passiert?“, fragte sie ungeduldig.

Saýosha entgegnete: „Reece, es ist unglaublich! Du kannst es dir nicht vorstellen, aber die lassen da drin Frauen verschwinden!“

„Waaas?“, die 27-jährige schaute ungläubig. „Das ist nicht dein Ernst. Wie meinst du das?“

„Ich habe eine hochschwangere Frau beobachtet, die in einen Aufzug gezwungen wurde, der nach oben fahren sollte. Dabei ist die Praxis doch im letzten Stockwerk. Oder nicht?“

Reece sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Oh mein Gott! Jetzt verstehe ich“, sagte sie. „Das Luftmobil! Es ist eins auf dem Dach gelandet, während du in der Praxis warst!“

C. C. Howard - Projekt I1 - Der Anfang
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