‚Projekt I1‘ - Todeshaus!

Caramída, Sýnke und Anísha warteten im Fernsehraum auf Kaatje. Sýnke saß zwischen den beiden und weinte hemmungslos. Caramída hatte ihren Arm um sie gelegt und Anísha hielt die Hand ihrer Freundin.

Die Hebamme war wütend. Das muss man sich mal vorstellen, Kantapper wurde einfach erschossen! Sicher wollte er seine Freundin retten und lässt sein Leben vor diesem hässlichen Haus. Oder ist er gar nicht tot? Man bekommt ja hier nichts mit! Das arme Ding, sie tut mir so leid. Warum das alles? Drei tote Menschen innerhalb weniger Tage! Todeshaus! Todeshaus! Todeshaus!

Wenig später betrat Kaatje den Fernsehraum. Sie hielt einen Schwangerschaftstest in der Hand. Anísha rutschte etwas nach links, sodass sie sich neben Sýnke setzen konnte. Liebevoll legte sie ihren Arm um das am Boden zerstörte Mädchen. Die 20-jährige wischte sich die Tränen weg und schnäuzte ihre Nase. Mit einem knappen „danke“, nahm sie den Test entgegen.

„Gern geschehen, Sýnke. Wenn du eben auf Toilette gehst, wissen wir es nach wenigen Minuten“, sagte sie. Sýnke stand auf und fragte: „Würden sie … äh … würdest du bitte mitkommen?“

Noch bevor Kaatje antworten konnte, schaltete sich Caramída ein. „Gute Idee Sýnke. In dieser Zeit kann ich Anísha auf ihrem Zimmer untersuchen. Zum Glück habe ich nach der Geburt von Naýkas Baby das Stethoskop mitgenommen“, sagte sie schmunzelnd.

„Ja die Arme …“, murmelte Anísha leise, die, ebenso wie die anderen Frauen, inzwischen vom Tod des Mädchens wusste.

Die Hebamme sah sie an, nickte kurz und wandte sich an die Aufseherin: „Bist du einverstanden Kaatje?“

„Ja natürlich!“ Der Bunkerwächterin lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Durch das vertrauliche ‚Du‘ von Caramída kam sie sich nicht mehr wie eine Frau vom Wachpersonal vor, sondern wie eine Verbündete oder Freundin der Insassinnen. Sie stand auf. „Gut, dann treffen wir uns nachher wieder hier.“

Caramída und Anísha gingen langsam zum Zimmer der 17-jährigen, während die Aufseherin gemeinsam mit Sýnke die andere Richtung einschlug. Auf dem Weg zu den Toiletten erklärte Kaatje ihr, wie sie den Schwangerschaftstest durchführen sollte.

In den Hygieneräumen angekommen, begrüßte Kaatje ihre Kollegin Tríne, die heute hier ihren Dienst schieben musste. Wie immer stand sie bewegungslos wie ein Baum im Eingang und pfiff fröhlich vor sich hin. Als sie Kaatje und das Mädchen näherkommen sah, unterbrach sie kurz ihr Lied, um zu lächeln. Tríne trug heute ihre langen, schwarzen Haare in einem unvorteilhaften, strengen Knoten, sodass ihr Gesicht noch länger wirkte, als es sowieso schon war. Ihr Kopf saß auf dem langen Hals, als ob er dort nicht hingehören würde.

„Na, alles ruhig?“, fragte Kaatje die 45-jährige, nachdem Sýnke die Toilettentür hinter sich geschlossen hatte.

„Ja hier ist alles ruhig, dafür spinnt Darrýl mal wieder“, sagte sie, als sie ihren Song mit einem langen, hohen Ton beendet hatte. „Er kam vor ein paar Minuten hier rein und brüllte mich an, weil ich meine Kaffeetasse heute Morgen nicht weggeräumt habe. Ich frage mich, was dem über die Leber gelaufen ist!“

Kaatje wusste es. Diesem Arschloch wird noch immer jeder Knochen einzeln wehtun. Geschieht ihm Recht! Die blauen Flecken würde ich gerne sehen!

„Keine Ahnung, er hat seine Launen“, erwiderte sie, denn sie hatte ihre eigenen Pläne mit Darrýl. Diesmal würde er nicht mit blauen Flecken davon kommen. Der Chef musste nach seiner Rückkehr umgehend von den Fehltritten seines Stationsleiters erfahren und dann hatte er die längste Zeit hier die Frauen gequält. So viel stand fest. Zudem überlegte sie sich, ob sie ihn einfach nach seiner Arbeit bei der Obdachlosentafel abpassen und lynchen sollte. Sie verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. Darrýl war es nicht wert, dass sie sich seinetwegen strafbar machte und das vielleicht noch mit ihrem Leben bezahlen musste.

„Macht sie einen Test?“, flüsterte Tine und zeigte auf die geschlossene Toilettentür, hinter der Sýnke verschwunden war.

„Ja …“, antwortete Kaatje, ebenfalls im Flüsterton, „aber ich frage mich, welches Ergebnis sie sich wünscht. Ist ziemlich verworren das Ganze …, ich erzähle dir das mal in aller Ruhe. Aber eines schon vorab … Darrýl hat ihren Freund hier vor dem Haus erschossen!“

Trínes Gesicht wurde so weiß wie die Wand, vor der sie stand. „Ja ich hab die Schüsse gehört, aber ich darf ja hier nicht weg. Um Himmels willen!“, rief sie. „Warum hat er das getan? Was ist mit ihm bloß los?“

„Ich weiß es nicht, ich hatte Aufsicht im Speisesaal, als es passiert ist. Ich bin sofort ans Fenster gelaufen und habe unten einen jungen Mann gesehen, der leblos am Boden lag. Hinterher hat mir Sýnke erzählt, dass es ihr Freund Kantapper war. Das arme Mädel tut mir wirklich leid!“ Kaatje atmete tief durch. Ihr Puls raste, und sie spürte jeden Herzschlag in ihrem Kopf. Erst nach einer kurzen Pause konnte sie weiter sprechen. „Und was ich besonders schlimm finde, ist, dass sämtliche Frauen, die noch im Speisesaal waren, den Vorfall ebenso gesehen haben. Ich bin gespannt, was Klíesch dazu sagt. Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihn darauf anzusprechen.“

„Allerdings! Da bin ich auch mal gespannt …“ Tríne drehte sich um, denn in diesem Moment ging die Toilettentür auf. Sýnke steuerte mit dem durchgeführten Test auf Kaatje zu und drückte ihr diesen, wie ein heißes Stück Metall, das sie unbedingt loswerden musste, in die Hand. Die Aufseherin erkannte die Angst in Sýnkes Ausdruck.

„Lass uns zurück in den Fernsehraum gehen, dort fragen wir gemeinsam das Ergebnis ab. Ok?“

Sýnke nickte. „Ja … ich habe Angst davor ... aber es nutzt ja nichts, ich muss es wissen. Mir ist ganz übel …“

„Tríne, wir sehen uns!“ verabschiedete sich Kaatje im Hinausgehen von ihrer Kollegin. Sie legte ihren Arm um die Schultern des Mädchens, um ihr Halt zu geben, und als die beiden im Fernsehraum ankamen, setzten sie sich auf die Couch. Kaatje war froh, dass Caramída und Anísha noch nicht zurück waren, so konnte sie mit Sýnke das Ergebnis des Tests in Ruhe besprechen. „Bist du bereit?“, fragte sie und atmete tief durch.

Sýnke nickte.

Die Bunkerwächterin griff ihre Hand. Dann drückte sie einen kleinen Knopf auf dem runden Messgerät, in dem das Testblatt mit Sýnkes Harn steckte. „Okay, jetzt pass auf!“

„Herzlichen Glückwunsch, das Ergebnis ist positiv. Sie sind in der fünften Woche und erwarten einen Jungen“, sagte eine freundliche, weiblich klingende Stimme.

Kaatje und Sýnke sahen einander an. Die Aufseherin wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Aufmerksam beobachtet sie Sýnke, die wie versteinert da saß und kein Wort sprach. Es dauerte eine ganze Weile, bis Sýnke das Ergebnis wahrgenommen hatte.

„Mein Baby hat keinen Vater“, sagte sie mit glasigen Augen, doch schnell fuhr sie fort: „Aber ich bin froh, dass es nicht von diesem Widerling ist!“

Kaatje atmete tief durch. „Ja, da hast du recht. Wenn du in der fünften Woche bist, dann ist wahrscheinlich dein Freund der Vater.“

„Ganz bestimmt! Ich habe mit keinem anderen geschlafen“, rief Sýnke entrüstet.

Kaatje wusste immer noch nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Freute sich Sýnke über das Baby? Es war nicht zu erkennen. Vorsichtig tastete sie sich weiter: „Du hast doch bei Kantappers Familie gewohnt. Denkst du, sie würden sich freuen?“

„Wenn ich sie jemals wiedersehe, dann freuen sie sich bestimmt. Und mein Vater wäre auch glücklich über sein erstes Enkelkind. Obwohl ich nicht weiß, ob ich es mit in seine Kneipe nehmen würde. Dort ist immer so viel Rauch, und es ist so laut.“

Kaatje lächelte, sie sah ein kleines Licht am Horizont, Sýnke schien sich gefangen zu haben. „Wir schaffen das Sýnke. Du bist nicht alleine, auch hier nicht. Vergiss das nie“, sagte sie, nahm sie wieder in den Arm und drückte sie fest. „Ich verspreche dir, ich lasse dich nicht im Stich!“

In diesem Augenblick öffnete Caramída die Tür zum Fernsehraum. Sie hatte ihren Arm um die traurig wirkende Anísha gelegt und sah Kaatje kopfschüttelnd an. „Ich habe es Anísha schon gesagt“, begann die Hebamme. „Ich konnte leider keine Herztöne mehr hören. Das Baby lebt nicht mehr.“ Sie stand neben der Schwangeren in der Tür und hielt Anísha fest an sich gedrückt. „Außerdem verliert sie kleine Mengen Fruchtwasser. Ich denke, dass die Wehen baldigst einsetzen werden. In den meisten Fällen dieser Art regelt die Natur das.“

Beide setzten sich zu Kaatje und Sýnke auf die Couch. Anísha wirkte ängstlich aber gefasst. „Mein Baby hätte sowieso kein schönes Leben hier in diesem Bunker gehabt. Es ist besser so. Meine kleine Marcý ist jetzt im Himmel.“ Sie hatte den Satz noch nicht ganz beendet, als sie vor Schmerz das Gesicht verzog und ihren Bauch hielt.

„Geht es los?“, fragte Kaatje und die Hebamme nickte zustimmend.

„Ja! Gott sei Dank!“, betend legte sie ihre Hände zusammen und hob sie gen Himmel. „Wir gehen auf dein Zimmer Anísha, hab keine Angst, es wird alles gut gehen.“ Dann sah sie zuerst Kaatje und dann Sýnke an. „Kommt ihr bitte auch mit?“

„Wirklich?“, fragte Kaatje. Nachdem die drei Frauen dies bejahten, wusste sie, dass sie keine „Grüne“ mehr war, sondern die einzige Verbündete der eingesperrten Frauen.

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