9. Kapitel
Jones!“ Constantine schwang sich von seinem Schimmel und begrüßte den früheren Gutsverwalter mit ausgestreckter Hand. „Ich bin Ihnen sehr dankbar für dieses Treffen.“ Dem knurrigen alten Kerl schien es zu widerstreben, Constantine die Hand zu geben, doch nach kurzem Zögern ergriff er sie kurz. „Ich bin seit zwei Jahren aus dem Geschäft, Mylord.“
An der Art, wie er sprach, erkannte Constantine, dass der Mann nicht zur Kooperation bereit war. Er konnte es Jones allerdings auch nicht verdenken, dass der sich wenig freute, ihn als neuen Grundherrn zu begrüßen. Als Knabe hatte Constantine ihm mit seinen nicht enden wollenden Streichen jede Menge Ärger bereitet.
Dennoch war Constantine auf seine Hilfe angewiesen. Und da der ehemalige Verwalter dazu neigte, sich überall einzumischen, würde es wohl nicht lang dauern, bis Jones seinen Widerwillen überwand und ihn wieder wie einen Schuljungen herumzukommandieren begann.
„Jones, ich brauche Ihren Rat.“
Der alte Mann rieb sich das raue Kinn. „Wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.“
Constantine lachte: „Ach, kommen Sie, Jones. Ich wette, Sie wissen noch immer mehr über die Gutsverwaltung hier, als ich im Leben noch je lernen werde.“ Er blickte nach oben. „Ich brauche Ihren Rat in vielen Dingen, aber im Augenblick geht es mir um die Weberei.“ Beide betrachteten das mächtige Gebäude, das sich in die Talsohle schmiegte.
Es war einmal das Herzstück einer blühenden Industrie gewesen. Zu Constantines Schrecken hatte Larkin ihm mitgeteilt, dass die Weberei nicht mehr genutzt wurde und leer stand. Erst hatte er es gar nicht glauben können, bis er selbst hingeritten war und das Gebäude verlassen vorgefunden hatte. Der Fluss, der die Weberei angetrieben hatte, war zu einem dünnen Rinnsal getrocknet. War das der Grund gewesen, warum Frederick den Betrieb so unbekümmert mit einer Hypothek belastet hatte? Hatte es ihn nicht mehr interessiert, ob er sie verlor?
„Es ist jammerschade, Sir“, sagte Jones und rieb sich die Wange. „Die Weber sind alle arbeitslos geworden und mussten dann Bronson um Arbeit anflehen. Zu einem Bruchteil der Bezahlung natürlich.“
„Sie meinen die Weberei auf Adam Trents Land?“
„Genau die. Trent betreibt die Weberei nicht mehr selbst. Er hat sie an einen Kerl namens Bronson verpachtet. Den hat man hier zwar noch nie zu Gesicht bekommen, weil er alles seinem Werkführer überlässt, aber Bronson ist ein harter Mann. Er hat gleich die Chance genutzt, den Leuten weniger zu zahlen, um mehr Profit daraus zu schlagen.“ Jones zuckte mit den Achseln. „Wo hätten unsere Leute auch sonst hingehen sollen?“
Constantine war überrascht, dass es auf diesem Gut angeblich keine andere Arbeit für die Weber gegeben hatte, wenn Bronsons Bedingungen so unannehmbar waren. Warum hatte Frederick nichts unternommen?
Im alten Flussbett floss ein dünnes Rinnsal als magere Hinterlassenschaft des Regens der vergangenen Tage. Es war bei Weitem nicht genug, um damit eine Fabrik anzutreiben. „Ich will wissen, wie man die Weberei wieder zum Laufen bringen kann, Jones. Hilft es, ein Staubecken anzulegen, einen Nebenfluss umzulenken, ich weiß es nicht.“
Constantine nahm seinen Hut ab und schüttelte die Wassertropfen von dessen Krempe. „Hier regnet es doch andauernd. Ich kann nicht glauben, dass es nicht genügend Wasser geben soll, um meine Weberei anzutreiben.“
„Was das angeht, Mylord.“ Jones zögerte, offenbar hin- und hergerissen zwischen seinem eigenen Wunsch, die Weberei wieder in Betrieb zu sehen, und seinem Widerwillen, Constantine zu helfen.
„Kommen Sie, Jones, ich verlasse mich auf Sie“, sagte Constantine. „Der junge Larkin ist ein guter Kerl, aber er hat nicht ein Gran Ihres Urteilsvermögens. Wenn Sie Ihre alte Stelle zurückhaben wollen, gehört sie Ihnen. Und wenn Sie etwas wissen, sagen Sie es mir.“
Constantine sah sofort, dass sein Versprechen den älteren Mann besänftigt hatte. Vielleicht hatte ihn die Entlassung in seinem Stolz getroffen.
Jones nickte. „Nun, Mylord, diese Fabrikbesitzer arbeiten gern mit fiesen Tricks, um die anderen aus dem Geschäft zu drängen. Sehen Sie Bronsons Fabrik?“ Er deutete auf ein steinernes Gebäude in der Ferne, weiter oben im Tal. „Die liegt flussaufwärts von uns.“ Er breitete die Hände aus.
Constantine runzelte die Stirn und knirschte mit den Zähnen. „Wollen Sie mir etwa sagen, dass dieser Schurke den Fluss aufgestaut hat, damit unsere Weberei kein Wasser bekommt?“
„Das erfasst es ungefähr.“ Er tippte sich an einen Nasenflügel. „Zumindest ist das eine Methode, wie man dafür sorgt, dass es andere Webereien schwer haben.“
„Gütiger Gott!“ Constantine kochte vor Zorn. Warum hatte bisher keiner daran gedacht? Warum war dieser Idiot Frederick nicht darauf gekommen?
„Haben Sie meinem Cousin von Ihrem Verdacht erzählt?“, wollte er wissen.
Jones warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Natürlich! Aber er wollte davon nichts wissen.“ Er hob eine Schulter an. „Master Frederick hat von der Weberei nie viel gehalten.“
Constantine fluchte. Das wäre mal wieder typisch Frederick - der wollte sich nie mit irgendetwas befassen, was er eines Gentlemans für unwürdig befand. Geld von den Pächtern konnte man eintreiben, aber Gott behüte, dass man sich in die Niederungen von Handel und Gewerbe begab. Sein Vater war nicht so etepetete gewesen.
„Wissen Sie die Adresse dieses Bronson?“, fragte Constantine. „Ich nicht. Aber Mr Trent wird sie haben.“
Mit grimmigem Gesicht stieg Constantine auf sein Pferd. „Ich reite flussaufwärts, um selbst nachzusehen. Und dann höre ich mir an, was unser Nachbar dazu zu sagen hat.“
Constantine stürmte in Adam Trents Haus, ohne auf die Beschwerden des Butlers zu hören. „Im Frühstückssalon, ja? Danke, ich finde selbst dorthin.“
Er entdeckte Adam Trent im südlichen Salon, wo er gerade ein Frühstück aus Schinken und Ei zu sich nahm.
Constantine schlug mit seiner Faust so fest auf den Tisch, dass die Teller hüpften. „Auf ein Wort!“
Trent sah erstaunt auf und wurde zunehmend zornig. „Lieber Himmel, Black! Was fällt Ihnen ein, hier so hereinzuplatzen? Ich sollte Sie deswegen fordern!“
„Roxdale für Sie“, knurrte Constantine. „Und Sie täten gut daran, Ihre Forderungen für sich zu behalten, bis sie sich angehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich komme gerade von Bronsons Weberei.“
Das verminderte die gerechte Empörung in Trents Blick keineswegs. „Und? Soll mir das irgendetwas Spezielles sagen?“
„Das sollte es allerdings! Ihr Pächter Bronson hat viele Leute von Lazenby arbeitslos gemacht. Er hat den Fluss aufgestaut, der zu unserer Weberei floss, sodass er die Fabrik nicht länger antreiben kann.“ „Das ... das wusste ich nicht“, stammelte Trent und erhob sich. „Das muss ein Irrtum sein.“
„Es ist kein Irrtum. Ich habe es selbst gesehen.“ Constantine hielt inne und atmete stockend vor Wut. „Was gedenken Sie deswegen zu unternehmen?“
Trent blinzelte ihn an. „Was kann ich denn tun?“
Constantine zischte die Worte durch seine zusammengebissenen Zähne. „Ordnen Sie an, dass er den Damm einreißt, damit meine Arbeiter zurückkommen und wieder anständigen Lohn verdienen können! Das Ding ist schlecht gebaut und droht unter all dem Regenwasser der letzten Zeit ohnehin zu brechen. Wenn Sie schon nicht an meine Leute denken können, denken Sie an Ihre. Ich würde keinen Penny darauf wetten, dass das Ding den nächsten Wolkenbruch übersteht.“
„Für die Weberei ist Bronson verantwortlich.“
„Und Sie sind für Ihre Pächter verantwortlich. Bestellen Sie Bronson hierher oder nehmen Sie es selbst in die Hand, das ist mir egal. Lassen Sie den Damm binnen einer Woche abtragen, wenn nicht, komme ich wieder und reiße ihn eigenhändig ein. Guten Tag!“
Mit zusammengepressten Lippen warf Trent die Serviette auf den Tisch. „Wenn Sie noch einmal einen Fuß auf mein Land setzen, Black, lasse ich Sie wegen widerrechtlichen Betretens festnehmen. Und glauben Sie nicht, dass ich es nicht wagen würde. Nichts würde mir größere Freude bereiten, als Sie im Gefängnis verrotten zu sehen!“ Der Drang, die Faust in Trents selbstgerechtes Gesicht zu schmettern, wurde beinahe übermächtig. Aber das war schon immer Constantines Problem gewesen. Er handelte erst und dachte anschließend nach. Trent brauchte also nur auf das barbarische Benehmen des neuen Lord Roxdale zu deuten und seine eigene Schuld war sofort vergessen. So weit wollte es Constantine nicht kommen lassen. Er hielt sich mit aller Macht zurück.
„Ich sehe, dass ich recht hatte mit Ihnen, Trent“, sagte er. „Sie haben sich kein bisschen verändert.“
Constantine kochte vor Wut, als er von seinem morgendlichen Ausritt zurückkehrte. Er war fast geneigt, ein paar Männer mit zu Bronsons Weberei zu nehmen und den Staudamm selbst einzureißen. Gewiss wollte Trent ihn dazu provozieren.
Doch Constantine war nicht länger der hitzköpfige, stürmische Jüngling von einst. Er musste keine Dummheiten mehr begehen, um seinen Mut zu beweisen. Die Weberei und damit das Auskommen vieler Männer und Frauen war ihm wichtiger als sein Stolz. Außerdem konnte ein unkontrollierter Abbau des Staudammes Bronsons Fabrik und die kleine Siedlung dort zerstören. Constantine wollte die Sache sorgfältig angehen und einen Ingenieur von Bristol kommen lassen, wenn Trent die Angelegenheit nicht zur Zufriedenheit regelte. Vielleicht bat er den Ingenieur in jedem Fall hierher, um sicherzugehen, dass die Arbeiten ordentlich ausgeführt wurden.
Er rief Greenslade und gab ihm entsprechende Anweisungen. Der Anwalt verneigte sich und wollte schon gehen, als Constantine noch etwas einfiel.
„Einen Augenblick, Mr Greenslade. Sie haben doch sicher Unterlagen zu der Hypothek, die auf die Weberei aufgenommen wurde, nicht wahr?“
„Ja, Mylord. Soll ich sie holen?“
„Nicht nötig. Der Geldgeber ist eine Firma namens Bronson & Company, nicht wahr?“
Der Anwalt schob seine Brille hoch. „Ja, ich glaube, so heißt sie.“ „Können Sie herausfinden, wer die Direktoren und Gesellschafter sind und welchen Hintergrund sie haben? Ich möchte genau wissen, mit wem ich es zu tun habe.“
„Natürlich, Mylord. Ich werde Erkundigungen einziehen.“ Constantine dankte Mr Greenslade und entließ ihn. Dann ging er nach oben, um sich umzuziehen.
Als Constantine die Herrensuite betrat, herrschte dort ein hektisches Treiben. Seine Sachen waren aus London gekommen und die Diener versuchten nun, alles zu ordnen.
Mit großem Widerstreben hatte er angeordnet, die wertvolleren Bestandteile seiner Sammlung zu verkaufen. Die Preise, die sie erzielt hatten, reichten zwar nicht für die Hypothek, doch mit dem Erlös konnte er die Zeit bis zur Fälligkeit überbrücken. Übrig blieben Kuriositäten, die in seinen Augen deswegen nicht weniger wertvoll waren.
Der Anblick so vieler geliebter und vertrauter Dinge munterte ihn ein wenig auf. Zumindest brauchte er nun niemanden mehr zu schlagen, um sich abzureagieren.
Er hielt viel von der Maxime, dass man ein Ziel nur dann erreichen konnte, wenn man es von Anfang an durchdacht anging. Er wollte dies in Bezug auf seine Rolle als Herr von Lazenby Hall ebenso anwenden wie bei seinem Vorhaben, Lady Roxdale in sein
Bett zu locken. Er würde nicht länger zögern und die Räumlichkeiten beziehen, die traditionellerweise vom Hausherrn bewohnt wurden.
Zwei Diener trugen ächzend eine große alte Truhe herein.
„Gut“, sagte Constantine. „Bringen Sie sie bitte ins Vorzimmer.“
ln der Truhe befanden sich die Schätze und Familienerbstücke, die er im Lauf der Jahre gesammelt hatte. Er hatte sie gern in seiner Nähe! Ihm gefiel es, wenn er sie oft und ohne große Vorbereitung in die Hand nehmen konnte. Das Vorzimmer zu seinem Schlafzimmer mit seiner gemütlichen Atmosphäre war genau der richtige Platz dafür.
Danach kam eine Ritterrüstung, die er auf den Namen Oswald getauft hatte. Er tätschelte ihr liebevoll den Helm und beobachtete drei Dienstboten, die sich mit einer mannshohen Marmornase abmühten, die angeblich von einer alten griechischen Statue abgebrochen sein sollte.
Constantine hielt inne, als sie sich durch die Tür kämpften. „Vielleicht bringen Sie die doch besser in die Galerie und finden dort einen Platz dafür. Ich bin mir nicht sicher, ob sie hier die richtige Stimmung verbreitet.“
„Ja, Mylord.“ Unter lautem Ächzen und Stöhnen kehrten die Diener um und schwankten davon.
Constantine ging ins Schlafzimmer. Der Raum gefiel ihm außerordentlich gut. Er hatte angeordnet, dass die schlichten Wandbehänge und Vorhänge durch seine eigenen üppigen Modelle aus Samt, Seide und Brokat, in Jagdgrün, Schwarz und Silber ersetzt wurden. Es waren die Farben der Blacks. Durch sie wirkte die Suite auf geschmackvolle Weise exotisch und luxuriös, aber keineswegs weibisch.
Er betrachtete das prächtige Himmelbett mit den kunstvoll geschnitzten Pfosten und verzog spöttisch die Lippen. „Das fliegt auch noch raus“, murmelte er.
Er musste die große Truhe auspacken und die Stücke suchen, die er im Schlafzimmer haben wollte. Als er durch das Vorzimmer ging, rief ihn eine Stimme von der Tür.
Im Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Constantine drehte sich um und entdeckte, dass Luke auf der Türschwelle stand.
„Hallo, Kleiner.“
Der Knabe zögerte. Constantine bemerkte, dass Luke etwas vorsichtig mit beiden Händen festhielt, als wäre es zart und kostbar.
Constantine lächelte ihm zu. „Komm herein, Luke, ich beiße nicht. Was hast du denn da?“
„Ich habe es unten gefunden.“ Luke zeigte ihm eine kleine Jadekugel.
Sein chinesischer Puzzleball. Wie war der aus seiner Schachtel gefallen? „Wo war es denn?“
„Auf der Auffahrt. Neben dem Möbelwagen.“
„Danke.“ Constantine nahm den kostbaren Jadeball und blies ihn sanft an, sodass sich ein kleiner Strohhalm und die zerstoßenen Muscheln lösten, die sich bei dem schmählichen Fall um die kunstvoll geschnitzten Verzierungen geschmiegt hatten.
Er strich sanft über die Oberfläche und stellte erleichtert fest, dass der Ball den Sturz unbeschadet überstanden hatte. „Danke Luke! Ich hänge an dem Ball und hätte ihn nicht gern verloren.“
Er stellte den Puzzleball vorerst auf ein Lacktischchen, bis er einen besseren Platz dafür fand.
Constantine sah, wie Luke sehnsüchtig auf die Truhe starrte, die nun offen in einer Ecke des Vorzimmers stand und ihre Kostbarkeiten wie einen Piratenschatz darbot.
Er lächelte. „Möchtest du wissen, was da drin ist?“
Luke strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, Sir, furchtbar gern!“ Dann jedoch erlosch sein Lächeln. „Aber leider muss ich jetzt zum Unterricht gehen.“ Er ließ die Schultern hängen.
„Unterricht?“
Luke nickte. „Geschichte finde ich gar nicht so übel. Aber jetzt habe ich Latein“, sagte er bedrückt, „und Mathematik. Jeden Tag vier Stunden. Das ist ziemlich hart.“
Constantine neigte dazu, ihm zuzustimmen. „Nun, du kannst deinem Hauslehrer sagen, dass ich dir für heute freigegeben habe.“ Er rief ein vorübereilendes Dienstmädchen herein und wies sie an, Lukes Hauslehrer auszurichten, dass er heute nicht gebraucht werde.
„Komm“, sagte er zu Luke. „Du kannst mir beim Auspacken helfen.“
Der Knabe sah mit seinen großen, dunklen Augen zu ihm hinauf, als hätte er ihm soeben den Mond geschenkt. Dann blickte er dem Dienstmädchen hinterher. „Aber ... aber das können Sie doch nicht machen.“
Constantine zog die Augenbrauen hoch. „Ach ja? Wer sagt, dass ich das nicht kann?“
„Tante Jane.“
„Tante Jane darfst du ruhig mir überlassen“, erklärte Constantine. Er würde mit ihr darüber reden, dass der anstrengende Stundenplan reduziert werden müsse. Natürlich musste Luke auf die Härten des Internatsunterrichts vorbereitet werden, aber ihn zu hart anzufassen
würde ihm die Schule sicher nur verdrießen. Außerdem gab es im Leben weit mehr zu lernen, als man in einem Lateinlexikon fand.
Er kniete sich vor die Truhe und griff hinein, reichte Luke ein Stück nach dem anderen und erläuterte ihm dessen Herkunft und Bedeutung. Constantine kaufte nichts um des bloßen Besitzens willen. Jedes Stück hatte eine Geschichte und erzählte von exotischen Ländern und merkwürdigen Gebräuchen.
Constantine hatte nicht viel Erfahrung mit Knaben in Lukes Alter, doch der Junge wirkte auf ihn neugierig und intelligent. Es gefiel ihm, dass Luke über seine Sammlung ebenso staunen konnte wie er selbst. Er hätte eigentlich erwartet, dass sie ihn schnell langweilen würde.
Ein Dienstmädchen unterbrach sie. „Mylord, bitte um Verzeihung, aber wohin soll der Malachittisch?“
Constantine erhob sich. „Entschuldige mich einen Augenblick.“ Dann wies er auf die Truhe. „Kram noch ein bisschen weiter darin herum. Vielleicht findest du noch etwas Interessantes.“
Als er zurückkehrte, betrachtete Luke gerade ein teleskopförmiges Objekt.
„Ah, du hast das Kaleidoskop gefunden. Weißt du, wie es funktioniert?“
Luke schüttelte den Kopf.
„Halte das Ende hier an ein Auge und mach das andere Auge zu. Genau, so.“ Er beobachtete, wie Luke in die Linse blinzelte. „Und jetzt musst du es hier drehen.“ Er streckte die Hand aus und drehte vorsichtig am Ende des Spielzeugs.
Der Knabe krähte vor Entzücken, als sich die bunten Splitter zu immer neuen Mustern formierten. Das Kaleidoskop nahm ihn völlig gefangen, während Constantine sich den Rest der Truhe ansah.
Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte. Ein Spielzeug aus seiner eigenen Kindheit, das ihn an glücklichere Zeiten erinnerte.
„Sag mal, Luke“, begann Constantine, „hast du schon einmal Fuchs und Gänse gespielt?“
Jane suchte Luke im ganzen Haus, ehe sie zu dem Schluss kam, der Lauser sei wahrscheinlich ins Dorf oder an irgendeinen anderen interessanten Ort ausgebüxt, statt sich zu seinem Hauslehrer zu setzen. In Fredericks Wohnzimmer hätte sie ihn wirklich nicht erwartet.
In Constantines Wohnzimmer, korrigierte sie sich, als sie das Durcheinander überall sah.
Wie er da so lässig und entspannt auf dem Teppich lag, sah Constantine aus wie ein Sultan oder Pascha. Er hatte sich seitlich auf den Unterarm aufgestützt. Um ihn herum lagen verstreut exotische Kunstwerke wie Kriegsbeute oder Geschenke ausländischer Prinzen, die seine Gunst zu gewinnen suchten. Inmitten all dieser Herrlichkeit waren Luke und er offenbar in ein Spiel vertieft.
„Da bist du ja, Luke!“, sagte Jane und stemmte die Hände in die Hüften.
Liegend sah Constantine durch eine Locke zu ihr herauf, die ihm in die Stirn fiel. Er lächelte sie bedächtig und einladend an. Jane spürte ein Prickeln. Heiße Erregung breitete sich in ihrem Bauch aus.
Seit jenem schrecklich peinlichen Zwischenfall in der Schreibkammer hatte sie sich bemüht, nicht mehr mit ihm allein zu sein. Damals war sie so wütend auf sich gewesen, weil sie ihren Plan nicht durchgezogen hatte. Nach einigem Nachdenken hatte sie allerdings erkannt, dass Constantine ihr in Bezug auf ihre Beziehung niemals die Entscheidungsgewalt überlassen würde. Ihre Anstrengungen waren ganz umsonst gewesen.
Er hatte sie abschrecken wollen.
Constantine erhob sich und strich sich über das Haar, um es zu glätten. Wieder einmal gab er den korrekten englischen Gentleman.
Jane brauchte ein paar Augenblicke, um sich ihre Verärgerung wieder in Erinnerung zu rufen. Sie wandte sich zu dem Jungen. „Luke, hast du eine Ahnung, wie spät es ist?“
Luke rappelte sich auf die Füße. „Tut mir leid, Tante Jane. Lord Roxdale hat mir gezeigt, wie man Fuchs und Gänse spielt.“ Er freute sich wie ein Kobold. „Ich habe gewonnen.“
„Anfängerglück!“, protestierte Constantine und zauste Luke die Haare.
Wie war es Constantine nur gelungen, Luke in so kurzer Zeit für sich zu gewinnen? Sie hätte eher gedacht, dass er mit Kindern nicht viel anfangen konnte, aber da hatte sie sich wohl getäuscht. Das ist gut, sagte sie sich und unterdrückte einen Anflug von Furcht.
„Luke, du hättest schon vor einer Stunde mit dem Unterricht beginnen sollen.“ Sie hatte es als sanften Tadel gemeint, doch der kleine Frechdachs wirkte keineswegs bestürzt. Er sah Constantine mit leuchtenden Augen an. Anscheinend war ihm das Schwänzen keinen Tadel wert.
Sie ließ nicht locker. „Die Kinderfrau sagt, dass Mr Potts nach Hause gegangen ist, aber ich habe ihm eine Nachricht geschickt, dass er sofort zurückkommen soll. Geh jetzt bitte ins Schulzimmer und warte dort auf ihn.“
Lukes Miene verfinsterte sich. „Aber Tante Jane!“
„Tu lieber, was Tante Jane sagt“, riet Constantine. „Mach dir keine Sorgen. Ich erkläre ihr alles.“
Der Knabe sah aus, als wollte er Einwände erheben, aber Constantine sagte energisch: „Geh jetzt.“
Als er Lukes geknickten Blick sah, lächelte Constantine. „Du gibst mir aber bei Fuchs und Gänse eine Revanche, oder?“
Das gab Luke neuen Mut. Er lachte. „Na klar, Sir. Sie kriegen noch eine Abreibung.“
Der Knabe ging und ließ Constantine und Jane allein zurück. Zwinkernd blickte Constantine ihm nach. „Ein prächtiger kleiner Kerl. Er gereicht Ihnen zur Ehre.“
Vor Stolz wurde ihr warm ums Herz. „Ja, das ist er. Ich rechne mir das jedoch nicht als Verdienst an. Er war von Anfang an einfach das reinste Entzücken für mich.“
Constantine betrachtete sie neugierig. „Wirklich?“
„Natürlich. “ Im Überschwang der Gefühle begannen Janes Augen zu jucken und zu brennen. Sie blinzelte ein paar Mal und sah zur Tür. „Ich kann mir nicht erklären, wieso Mr Potts einfach gegangen ist, ohne einen Versuch zu unternehmen, Luke zu finden.“
„Er ist gegangen, weil ich ihn nach Hause geschickt habe“, erklärte Constantine.
Überrascht öffnete sie den Mund. „Sie haben was?“
Er hielt eine Hand hoch, um sie zum Schweigen zu bringen. „Und bevor Sie jetzt sagen, ich hätte kein Recht dazu, möchte ich Sie daran erinnern, dass ich sein Vormund bin. Ich habe jedes Recht, Jane. Der Junge ist doch noch viel zu jung für einen derartig rigorosen Stundenplan.“ Sanft fügte er hinzu: „Luke braucht die Freiheit, ein Kind zu sein.“
Jane war von dieser Kritik so benommen, dass sie ihm nicht antworten konnte. So also sah er sie? Als herrische, gefühllose Schulmeisterin? „Was hat Luke denn zu Ihnen gesagt?“
„Verstehen Sie mich nicht falsch. Luke hat sich nicht beschwert. Er scheint nur weniger Freiheiten zu haben als andere Knaben in seinem Alter.“ Constantine runzelte die Stirn. „Wenn er sich außerhalb des Unterrichts nicht ausleben und Erfahrungen sammeln kann, wird Luke später große Schwierigkeiten in der Schule haben. Sie hatten doch vor, ihn aufs Internat zu schicken, wenn es so weit ist, oder?“ „Zu Fredericks Lebzeiten wäre das nicht infrage gekommen“, murmelte sie und versuchte, nicht verletzt zu sein. Vielleicht war sie zu fürsorglich gewesen, aber sie hatte es nur gut gemeint.
Sie atmete tief durch. „Frederick war manchmal etwas selbst-gefällig. Er hätte für Luke keinen Hauslehrer engagiert, geschweige denn, ihn zur Schule geschickt. Ich durfte Mr Potts nur einstellen, wenn Luke regelmäßig Prüfungen bestand. Wahrscheinlich bin ich deshalb so streng. Ich wollte nicht, dass er durchfällt.“
Jetzt, wo Frederick nicht mehr da war, konnte sie den strengen Stundenplan lockern. Constantine hatte recht.
Constantine neigte den Kopf. „Selbstgefällig? Frederick? Was meinen Sie damit?“
Sie versuchte, ihre Bitterkeit nicht zu zeigen. „Oh, Frederick wollte sich nicht dazu herablassen, sich um das Wohlergehen eines armen Verwandten zu kümmern. Wenn es nach Frederick gegangen wäre, wäre Luke niemals hierhergekommen. Er hat sich immer verhalten, als störte er sich an Lukes Gegenwart.“
„Aber Sie haben Luke nie als armen Verwandten betrachtet, oder?“, fragte Constantine leise. „Sie lieben ihn.“
Sie presste die Lippen zusammen. Ihre Augen wurden feucht. „Er ist wie ein Sohn für mich. Ich bitte Sie, zwingen Sie mich nicht, mich von ihm zu trennen.“
Er antwortete nicht gleich. Die Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nichts sagen, aber was hätten ihre Worte auch bewirken sollen? Er wusste, was sie wollte. Warum konnte er nicht die einfachste Lösung akzeptieren, die alle Probleme aus dem Weg schaffen würde?„Sie haben mir reichlich Stoff zum Nachdenken gegeben“, sagte er nach langem Schweigen. „Mir war nicht klar, wie sehr Sie an dem Jungen hängen. Verzeihen Sie, wenn ich hart gewirkt habe. Ich sehe erst jetzt, dass ich mir ein Urteil erlaubt habe, ohne alle Umstände zu kennen.“
Er nahm eine geschnitzte Jadekugel von der Anrichte und starrte gedankenverloren auf sie hinab, während er sie in seinen Händen wendete.
Sie hielt den Atem an. Hieß das, er überlegte, ob er sie heiraten sollte? Sie wagte nicht zu hoffen.
Sie wartete, alle Sinne auf seine nächsten Worte gerichtet.
Doch Constantine sagte nichts mehr. Er schien völlig vertieft in die Schnitzereien der Jadekugel. Mit zittrigem Seufzen wandte sie sich um und überließ ihn seinen Gedanken.
Die Korrespondenz, die Constantine am nächsten Morgen am Frühstückstisch fand, bestand größtenteils aus Beileidsschreiben und kaum verhüllten Glückwünschen. Constantine fand es amüsant, dass die Leute, die ihn nun einen Freund oder Bekannten nannten, noch vor wenigen Wochen bei einem unverhofften Treffen die Straßenseite gewechselt hätten.
Die Post brachte selten gute Neuigkeiten. Gestern hatte er einen Brief von seinem Bankier bekommen, in dem dieser ihn über die Verluste informiert hatte, die er durch den Verkauf seiner langfristigen Anlagen erlitten hatte.
Constantine hatte ihn angewiesen, den Erlös in gewisse kurzfristige, hoch riskante Unternehmungen zu stecken. Er hätte abwarten können, bis seine vorsichtigeren Investitionen Früchte trugen, aber für die Weberei wäre das zu spät gewesen. Er musste auf unerwartete Gewinne aus verschiedenen kurzfristigen Spekulationen hoffen.
Den Vorabend hatte er damit zugebracht, seine Vermögenswerte mit den Schulden bei Bronson zu verrechnen, und er war zu dem Schluss gekommen, dass er Jane in der Tat heiraten musste. Wenn seine Spekulationen nicht noch riesige Gewinne einfuhren, blieb ihm kein anderer Weg, um die Weberei zu retten.
Doch der größte Anreiz war Janes Liebe für Luke, die geradeso deutlich zutage getreten war. Es wäre grausam, die beiden voneinander zu trennen.
Der Tag hatte voller Überraschungen gesteckt. Er hatte in sich den heimlichen Wunsch entdeckt, den kleinen Jungen zu beschützen und zu führen. Dieser Wunsch war lachhaft, wenn man sich Constantines Vergangenheit vor Augen führte, aber darum nicht weniger stark. Frederick hatte die Rolle des Unterweisers verschmäht, da Luke in seinen Augen nicht standesgemäß war. Dem Jungen fehlte der männliche Einfluss, aber das würde sich ändern.
Constantine wollte die Weberei retten und er wollte das Beste für Luke.
Er hatte sich entscheiden. Er würde Jane heiraten.
Aber er kannte sich gut genug mit Frauen aus. Er wollte ihr seine Entscheidung nicht einfach mitteilen. Er wollte um seiner selbst willen geheiratet werden und nicht als Mittel zum Zweck. Jane sollte ihn begehren und es blieb ihm immer noch genügend Zeit, ihr den Hof zu machen und sie zu verführen.
Seine eigene Arroganz entlockte Constantine ein zynisches Lächeln. War es nur sein Stolz, der ihn dazu veranlasste, zu solchen Taktiken zu greifen? Oder war es der instinktive Wunsch, Jäger zu sein und nicht der Gejagte?
Egal. Ihm blieb noch ein Monat, ehe er seine Schulden bei Bronson begleichen musste. Das war Zeit genug.
Beim weiteren Durchsehen der Post fiel ihm ein offiziell wirkender Brief auf. Er öffnete ihn und fluchte.
Es war eine Forderung von Bronson. Constantine überflog den kurzen Brief. Er wurde aufgefordert, die Hypothek binnen 30-Tagen zurückzuzahlen. Als wüsste er das nicht! Weiter machte Bronson ihm klar, er habe jede Absicht, die Hypothek für verfallen zu erklären, wenn die Schuld nicht bis zum letzten Penny und mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werde.
Bronson schrieb, er werde einen Agenten schicken, der die Weberei mit Blick auf die Verfallserklärung schätzen solle.
Eine musikalische Stimme unterbrach seine Verwünschungen. „Oh, lieber Himmel, die Luft hier drinnen wird ja richtig blau.“ Constantine funkelte seine Verwandte unwirsch an. In ihrer Stimme lag ein neckendes Lachen, doch er war jetzt nicht in der Stimmung für leichtfertige Späße. Seine Tante trat zu ihm und er erhob sich. „Wie bitte?“
Lady Arden winkte lässig ab. „Setz dich doch bitte wieder.“
Sie wandte sich ab, um sich aus den Servierschüsseln auf der Anrichte zu bedienen. Nachdem sie ein paar ausgewählte Leckerbissen auf ihren Teller gelegt hatte, ging sie zum Tisch. „Warum bist du denn so übel gelaunt, Constantine? Hast du schlechte Nachrichten erhalten?“
Er runzelte die Stirn. „Nein.“ Er versuchte das Thema zu wechseln. „Wusstest du, dass ich zusammen mit dem Haus ein Mündel geerbt habe?“
„Ein Mündel geerbt?“, wiederholte Lady Arden. „So etwas habe ich ja noch nie gehört.“
„Nicht direkt geerbt“, verbesserte er sich. „Frederick hat mich zum Vormund von Luke Black ernannt.“
„Diesem entzückenden schwarzhaarigen Kobold, den ich hier schon des Öfteren gesehen habe?“, fragte Lady Arden.
Constantine nickte. „Genau der. Er ist der Sohn von Mary und Ernest Black, glaube ich. Zumindest hat Greenslade mir das so gesagt. Ich habe von ihnen noch nie gehört. Anscheinend sind sie an einem Fieber gestorben, als er noch ein Baby war.“
Lady Arden blinzelte. „Der Junge ist doch kaum älter als sieben, oder?“
„Sechs“, erklärte Constantine. „Warum?“
„Mein lieber Constantine, wenn er das Kind dieser beiden wäre, wäre die Geburt ein Wunder gewesen. Mary war damals schon mindestens fünfundfünfzig Jahre alt.“
Er runzelte die Stirn. „Vielleicht habe ich etwas falsch verstanden oder Greenslade. Jedenfalls bin ich jetzt für den Jungen verantwortlich.“
Ein Heim, ein Kind und vielleicht eine Frau. Seine Londoner Freunde würden sich vor Lachen schütteln. Plötzlich verspürte er den dringenden Wunsch zur Flucht.
Er führte die Serviette an die Lippen. Genau das würde er tun. Er würde fliehen. Aber nur für einen Morgen. Er ließ sein halb gegessenes Frühstück stehen und klingelte, damit man seinen Phaeton vorfahren ließ.
Lady Arden beobachtete ihn genau. „Was für eine hervorragende Idee. Ich habe immer festgestellt, dass eine Ausfahrt sehr beruhigend für die Nerven ist. Frag doch Jane, ob sie dich begleiten möchte. Bestimmt ist das arme Ding seit Tagen nicht mehr aus dem Haus gekommen.“
„Ich möchte nicht.“ Er verstummte, als er Lady Ardens drohendem Blick begegnete. Seufzend sagte er: „Ja, ich frag sie. Obwohl Cousine Jane ja dazu neigt, es sehr genau zu nehmen. Gut möglich, dass sie Einwände hat, mit mir allein auszufahren.“
Lady Arden zuckte mit den Achseln. „In einer offenen Kutsche und im Beisein deines Stallburschen kann es keine Einwände geben.“ Er lächelte schwach. „Du solltest meine Findigkeit nicht unterschätzen, liebe Tante.“
Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. „Vorsicht, Constantine. Ich lasse euch gern gewisse Freiheiten, aber du darfst nicht vergessen, dass dein Benehmen auch auf mich zurückfällt. Ich lasse nicht zu, dass Janes Ehre befleckt wird.“
Er hob die Augenbrauen. „Mit anderen Worten: Finger weg?“ Sie warf ihm einen langen kühlen Blick zu. „Mit anderen Worten, Constantine, sei diskret.“