Prolog
London, Frühling 1799
Sie haben sie also gefunden. Nach all der Zeit.“
Beim Klang der tiefen Frauenstimme drehte sich der Duke of Montford um. Eine Dame, die herrlich funkelnde Ketten aus Altgold und Diamanten trug, war hinter ihn getreten. Im nüchtern und funktional eingerichteten Kindertrakt wirkte sie ebenso fehl am Platz wie er selbst.
„Ja“, sagte er.
Auf Lady Ardens strengem, elegant geschnittenem Gesicht zeigte sich eine Spur mütterlicher Weichheit, als sie das schlafende Mädchen im Bett vor sich betrachtete. Dann richtete sie den Blick streng auf ihn.
„Ist das Dauntrys Tochter?“
Montford neigte den Kopf. Nur wenige Menschen ahnten etwas von der Existenz dieses kleinen Mädchens. Nur Lady Arden wusste, dass der Duke of Montford all die Zeit nach Lady Jane Westruther gesucht hatte.
Eigentlich sollte es ihn nicht überraschen, dass Lady Arden lebhaftes Interesse an dem kleinen Mädchen zeigte. Eine verwaiste Erbin witterte diese Frau eine Meile gegen den Wind.
Diese spezielle Erbin hatte acht Jahre als vermisst gegolten. Eine Woche nach der Geburt des Kindes war die Mutter vom großen Anwesen des Earl of Dauntry geflohen und hatte ihre Tochter mitgenommen.
Vielleicht hatte Lady Dauntry sich angesichts des Geschlechts ihres Kindes vor dem Zorn ihres grausamen Ehemanns gefürchtet, vielleicht war sie auch Opfer jener Melancholie geworden, welche Frauen nach der Geburt eines Kindes hin und wieder heimsuchte. Ihr Ehemann hatte sich nicht die Mühe gemacht, nach ihr zu suchen. Nach allem, was Montford herausfinden konnte, war sie wenige Monate nach ihrer Flucht am rheumatischen Fieber gestorben.
Jonathan Westruther, Earl of Dauntry, hatte sich später bei einem Jagdunfall das Genick gebrochen. Seine einzige Tochter hatte er, sollte sie jemals gefunden werden, unter die Obhut des Duke of Montford gestellt. Derartige Arrangements waren in diesen Kreisen nicht selten. Als Oberhaupt des Hauses Westruther war Montford zum Vormund einiger Kinder dieser großen und erlauchten Familie ernannt worden - und zwar immer dann, wenn das Kind Erbe eines Familienguts oder eines Vermögens war, bei denen Montfords Sachverstand und Urteilsvermögen gefordert wurden.
Inzwischen konnte Montford eine regelrechte Sammlung reicher Waisen vorweisen.
Er hatte einen ganzen Stall voller Kinder mit seinem Namen und immer noch keine Ehefrau. Wer hätte das gedacht? Manchmal kam er sich vor, als sei er hundert Jahre alt, dabei war er noch nicht einmal dreißig.
Er sah Lady Arden an, wie sie so elegant und glanzvoll neben ihm im Kinderzimmer stand. Ihr honigbraunes Haar schimmerte golden im Kerzenlicht. Sie war ihm nach oben gefolgt, nur der Himmel wusste, was sie damit bezweckte. Er war sich nicht einmal sicher, wieso er selbst hier war, warum er das Kind ausgerechnet jetzt, während des Balls, sehen musste.
Plötzlich kam Montford sich ein wenig lächerlich vor. Schließlich hatte er Heerscharen von Dienstboten angestellt, damit sie sich um Lady Jane Westruther kümmerten. Ein Kindermädchen schlief im Nebenzimmer, immer in Hörweite für den Fall, dass ihre Schutzbefohlene aufwachte. Er wurde hier nicht gebraucht.
Mit einer Geste bat er Lady Arden, mit ihm zusammen den Raum zu verlassen. Er gewährte ihr den Vortritt. Dennoch konnte sich der Duke of Montford einen letzten Blick zurück nicht verkneifen. Das dünne kleine Mädchen lag im Bett. Sie hatte ein Händchen unter die Wange gelegt, ihr rosiger Mund stand ein Stück weit offen und ihre Lippen zitterten bei jedem Atemzug. Die Angst, die er am Tag noch in ihrem Blick entdeckt hatte, war unter ihren sanft gewölbten Lidern verborgen.
Zorn stieg in ihm auf, als er an die Ursache für diese Angst dachte. Mit entschlossener, gnadenloser Effizienz hatte er die Schurken vernichtet, die Lady Westruther in ihrem elenden Gästehaus wie eine Sklavin hatten schuften lassen. Jetzt war sie in Sicherheit.
Doch die Angst, die sich in ihren großen grauen Augen abzeichnete, konnte er nicht so leicht besiegen wie die Halunken, unter deren Obhut sie gestanden hatte. Er war sich nicht sicher, ob sie diese Angst überhaupt jemals überwinden würde.
Montford wandte sich ab und bot Lady Arden mit einer Verbeugung den Arm. Sie legte ihre Hand sanft darauf. Beim Durchschreiten der Tür drang ihr Parfüm an seine Nase. Es duftete zurückhaltend, komplex und doch verlockend. Es war so wie die Frau, die es trug.
Nach einer nachdenklichen Pause sagte sie: „Die Kleine erwartet ein beträchtliches Erbe, wenn sie Dauntrys Tochter ist. Ich brauche sie für Frederick Black. Roxdales Sohn, wie Sie wissen.“
Montford verbarg seine Überraschung, die er bei ihrer Direktheit verspürte. Lady Arden war in der Gesellschaft gefürchtet für ihre Voraussicht und ihre Raffinesse. „Mylady, Sie wissen so gut wie ich, dass sich dieses Gespräch nicht schickt. Wir müssen korrekt vorgehen.“ Sie bewegte die Finger auf seinem Arm. „Von wegen korrekt! Das Ministry of Marriage ist doch zu einer Brutstätte von Inkorrektheiten geworden, das wissen Sie ganz genau. DeVere hat dieses Jahr gegen alle meine Vorschläge gestimmt.“
„DeVere ist nur beleidigt, weil Sie seinen zweifelhaften Reizen so beharrlich zu widerstehen wissen“, erwiderte er lächelnd.
Ihre Gesichtsmuskeln zuckten, und es beunruhigte ihn, dass er diese Geste nicht zu deuten vermochte. Vielleicht sollte er deVere einmal einen Besuch abstatten.
„Ich will von Ihnen das Versprechen, dass ich Gehör finden werde“, beharrte Lady Arden.
Montford unterdrückte eine ätzende Bemerkung. Warum fand er ihre Zielstrebigkeit nur so ermüdend? Schließlich kannte kaum jemand die traurige Lebensgeschichte des Mädchens.
Er führte sich vor Augen, dass ausgerechnet er das ebenso passend wie ironisch titulierte Ministry of Marriage gegründet hatte. Es war ein Club, in dem die reichsten und angesehensten Familien des Landes versuchten, ihren Nachwuchs möglichst vorteilhaft untereinander zu vermählen. Für die während der Saison besonders heftig tobenden Machtkämpfe konnte er nur sich selbst verantwortlich machen. An Lady Ardens Stelle wäre er ebenso erpicht darauf, sich eine so gute Partie, wie sie das kleine Mädchen dort oben darstellte, für einen Spross seines Geschlechts zu sichern.
Montford verneigte sich. „Natürlich, jeder Bewerber, den Sie vorschlagen, soll sorgfältig erwogen werden. Ich halte mich gern an die Spielregeln, wissen Sie.“
„Zumal Sie derjenige waren, der die Spielregeln aufgestellt hat“, erwiderte Lady Arden trocken. „Also schön, wenn das Ministry zustimmt, bekomme ich Lady Jane Westruther für den künftigen Lord Roxdale. Eine hervorragende Partie.“
Das wäre sie aus geschäftlicher Sicht allerdings. Um sicherzugehen, würde er Roxdales Bekanntschaft suchen müssen.
Sie näherten sich dem Ballsaal, wo das Geschnatter der Gäste die Musik des Orchesters übertönte. Es drang bis auf den Korridor. Lady Arden knickste und wandte sich zum Saal.
Montford legte eine Hand auf ihren Arm und hielt sie zurück. „Darüber reden wir, wenn es so weit ist, Mylady.“ Er zögerte. „Als Vormund des Mädchens ist es an mir, ihren zukünftigen Ehemann sorgfältig auszuwählen.“
Lady Arden riss ihre schönen braunen Augen auf, bis sich jede Wimper einzeln von ihrem cremeweißen Teint abzuheben schien. Spürte sie, wie merkwürdig wichtig ihm das kleine Mädchen war? Er hoffte nicht. Als Oberhaupt einer vornehmen Familie, deren Stammbaum noch zahllose Unverheiratete aufwies, und als Mann, der ehrlich glaubte, dass die Liebe in der Ehe keine Rolle spielte, konnte er sich keine Schwäche leisten. Er durfte nicht zugeben, dass er sich dieses Mal einen Teufel um das Ministry of Marriage scherte.
Ihm ging es einzig und allein darum, ein verängstigtes kleines Mädchen wieder lächeln zu sehen.