Kollegialität und gute Führung
Wer eine Arbeit verrichtet, die hohe Anforderungen an den Beschäftigten stellt und dies in einem kollegialen Umfeld tun muss, welches einem Haifischbecken gleicht, befindet sich in einem Zweifrontenkrieg und wird über kurz oder lang mit hoher Wahrscheinlichkeit krank. Gegenseitige kollegiale Unterstützung ist einer der wichtigsten Schutzfaktoren für die Gesundheit am Arbeitsplatz und gegen das Burn-out-Syndrom. Hier spielen – wieder einmal – neurobiologische Zusammenhänge eine Rolle: Voraussetzung für die Aktivierung des Motivationssystems des menschlichen Gehirns und die Freisetzung seiner Botenstoffe ist soziale Akzeptanz. Wer arbeitet, braucht – nicht nur aus humanitären, sondern auch aus neurobiologischen Gründen – am Arbeitsplatz soziale Unterstützung von Kollegen und Vorgesetzten. Am schnellsten erkranken Berufstätige dort, wo sie weder von ihren Kunden bzw. Klienten noch von Kollegen oder Vorgesetzten Unterstützung erhalten.
Der Einfluss guter oder schlechter Kollegialität – ebenso wie guter oder schlechter Führung – auf die Gesundheit am Arbeitsplatz ist wissenschaftlich erwiesen412. Repräsentative Untersuchungen zeigen allerdings, dass sich 31 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland von ihren Kollegen/innen nicht unterstützt fühlen413, neun Prozent der Beschäftigten erleben, wie schon erwähnt, am Arbeitsplatz sogar verschiedene Formen von Diskriminierung, 7,5 Prozent erleben innerhalb eines Jahres Belästigungen oder Bedrohungen, fast zwei Prozent erleben sogar körperliche Gewalt414.
Eine besondere Variante der Diskriminierung ist die in Deutschland als »Mobbing«, in der internationalen Literatur als »Bullying« bezeichnete systematische Schikane gegenüber Kollegen oder Kolleginnen. Untersuchungen bei Klinikpersonal ergaben, dass vier bis fünf Prozent von Bullying betroffen sind415. Von Bullying Betroffene haben ein über vierfach erhöhtes Risiko, an einer Depression zu erkranken und tragen ein über zweifach erhöhtes Risiko für Herzerkrankungen416. Deprimierend ist, dass Berufstätige, die in ihrer Vorgeschichte eine Depression erlitten haben, ein über zweifaches Risiko haben, von ihren Kollegen/innen zu Bullying-Opfern »ausgewählt« zu werden.
Ein weiteres, in den Zusammenhang der Belästigung am Arbeitsplatz gehörendes und leider weitverbreitetes Problem ist die Anmache von Frauen durch männliche Vorgesetzte oder Kollegen. Zum Spektrum der Belästigungen gehören anzügliche oder bewusst mehrdeutige Bemerkungen, das Erzählen sexistischer Witze, unangemessene körperliche Berührungen bis hin zu Nötigungen, bei denen Frauen berufliche Nachteile angedroht werden, wenn sie sich verweigern, oder Vorteile versprochen werden, wenn sie bestimmten Annäherungswünschen nachkommen. Leider ist vielen Männern immer noch nicht klar, dass keine dieser Verhaltensweisen von Frauen als witzig oder gar charmant wahrgenommen, sondern als Entwürdigung, Belästigung oder Bedrohung empfunden werden. Da Männer – verglichen mit dem weiblichen Geschlecht – eine im statistischen Durchschnitt schlechtere intuitive Fähigkeit besitzen, das Verhalten anderer Menschen richtig zu interpretieren417, missdeuten manche das freundliche, kollegiale oder hilfreiche Verhalten von Kolleginnen als Einladung zum Flirt. Männer sind gut beraten, sich ihren Kolleginnen oder weiblichen Untergebenen gegenüber fair und kollegial zu verhalten, am Arbeitsplatz auf Flirts und jede Form der Anmache aber grundsätzlich zu verzichten.
Vorgesetzte haben einen gewaltigen Einfluss darauf, welches Klima am Arbeitsplatz herrscht. Viele machen ihre Sache ausgezeichnet. Vorgesetzte mit einer schwachen, unsicheren Persönlichkeit haben jedoch – auch wenn sie nach außen oft betont »bossig« auftreten – häufig Angst, nicht die Oberhand zu behalten, wenn sich ihre Mitarbeiter untereinander gut verstehen. Manche neigen dazu, zwischen ihren Mitarbeitern Streit und Konkurrenz zu schüren (in der Hoffnung, dass ihnen zerstrittene Untergebene nicht gefährlich werden können). Eine solche Situation bedeutet, dass innerhalb der Mitarbeiterschaft Intriganten und Denunzianten – in der Regel sind dies die besonders Leistungsschwachen – ihre Chance erkennen, um sich bei solchen Vorgesetzten beliebt zu machen. In Deutschland fühlen sich 53 Prozent der Beschäftigten von ihren Vorgesetzten nicht unterstützt418. Auch »Bullying von oben« ist weit verbreitet. Im Rahmen der Veränderungen, die mit dem Aufkommen der bereits erwähnten »Kultur des neuen Kapitalismus«419 verbunden sind, wurden vielerorts junge Führungseliten eingesetzt, deren soziale Kompetenz oft erhebliche Defizite aufweisen420. Robert Hare, ein US-amerikanischer Spezialist im Bereich der Psychopathieforschung, fand, dass der Anteil von Psychopathen unter Führungskräften mit sechs Prozent mehrfach über jenem in der Allgemeinbevölkerung liegt (hier beträgt der Anteil nur 1 %).421 Unser Wirtschaftssystem scheint vollständig rücksichtslosen, amoralischen Personen einen schnelleren Aufstieg zu ermöglichen als halbwegs normalen Zeitgenossen422. Psychopathen in Chefposition richten auf mittlere Sicht nicht nur erheblichen Schaden im Bereich der Mitarbeiterschaft ihrer Betriebe an, sondern beschädigen nicht selten das ganze Unternehmen. Ein Beispiel unter vielen ist »France Telekom«, wo sich nach einem beispiellosen »Psychoterror von oben« – so lautete die Einschätzung der Gewerbeaufsicht – innerhalb kurzer Zeit mehr als 60 Suizide ereignet haben, worauf der inzwischen entlassene und vor Gericht gestellte Konzernchef Didier Lombard von einer »Selbstmord-Mode« sprach423.
Gute, starke Vorgesetzte fordern Leistung, aber sie spalten nicht, sondern fördern den Zusammenhalt und die Kollegialität ihrer Teams. Warum sollten sie das tun? Erstens, weil Teams, wie wissenschaftliche Studien zeigen, in ihrer Leistung nachlassen, wenn sie einer zu starken Konkurrenz innerhalb der Gruppe ausgesetzt werden424; zweitens, weil die Gruppenintelligenz in einem Team sich nicht etwa aus dem Durchschnitt der Einzel-IQs der einzelnen Mitarbeiter ergibt, sondern weil ein Team nur dann eine hohe Problemlösungskompetenz zeigt, wenn die Fähigkeit der Teammitglieder, sich gegenseitig gut zu verstehen, hoch entwickelt ist425; und drittens, weil die Förderung gegenseitiger Kollegialität, wie bereits erläutert, die Gesundheit der Mitarbeiter schützt und die Krankenstände niedrig hält.
Besonders interessant ist, dass Stress, wie er in Konkurrenzsituationen auftritt, die Aktivität eines Gens zu hemmen scheint, welches für das gegenseitige Verstehen eine wichtige Rolle spielt. Dies würde – vereinfacht – bedeuten: Von Vorgesetzten angefeuerter konkurrenzbedingter Stress blockiert bei Mitarbeitern ein Gen, welches das gegenseitige Verstehen vermindert426. Da Teams mit geringer Kompetenz im Bereich des gegenseitigen Verständnisses – wie in Studien gezeigt – weniger Problemlösefähigkeiten besitzen, blockieren Vorgesetzte, die ihr Team spalten, auch dessen Leistung. Vorgesetzte sollten sich ihres immensen Einflusses auf diese Zusammenhänge bewusst sein. Wir alle drehen durch die Art, wie wir uns zueinander verhalten, an den Genschaltern unserer Mitmenschen427, und Vorgesetzte tun das selbstverständlich auch.
Aus neurobiologischer Perspektive geht es für Vorgesetzte am Arbeitsplatz darum, durch einen guten Führungsstil die Motivationssysteme – und auf dieser Grundlage die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten – anzusprechen. Dass die Art der Führung wirklich zählt, zeigen Untersuchungen über die sogenannte »Bindung«, die Beschäftigte an ihre Firma haben. Eine hohe emotionale Bindung an die eigene Firma resultiert in einer geringeren Zahl von Abwesenheitstagen, in verminderter Fluktuation und in hoher Arbeitsqualität. Außerdem fühlen sich bei Beschäftigten mit hoher Bindung an den Betrieb deren Kunden besser behandelt. Allerdings empfinden – wie eine Umfrage des Gallup-Institutes ergab – in Deutschland nur 14 Prozent der Beschäftigten zu ihrem Unternehmen eine hohe Bindung428. 63 Prozent haben eine nur geringe und 23 Prozent (das sind knapp acht Millionen arbeitende Menschen) geben an, keinerlei emotionale Bindung an ihren Betrieb zu haben. Offensichtlich nimmt die Bindung in den letzten Jahren ab, denn im Jahre 2001 betrug der Anteil der Beschäftigten ohne jede Bindung nur 15 Prozent. Mitarbeiter ohne Bindung an ihr Unternehmen haben innerlich gekündigt. Hauptursache dieses Missstandes ist, wie Untersuchungen zeigen, schlechtes Führungsverhalten.429 Beschäftigte klagen über zahlreiche Varianten der Unachtsamkeit und Respektlosigkeit430. Gute Führung bedeutet – abgesehen davon, dass Vorgesetzte gute Fachkenntnisse haben sollten – immer auch »Beziehungsmanagement« (»Staff Relation Management«)431.
Das wirksamste Mittel, das Vorgesetzte zur Verfügung haben, um die Motivation und Arbeitsfreude ihrer Teams zu stärken, ist eine gute, professionelle Gestaltung der Beziehung zu den Mitarbeitern/innen. Die Motivationssysteme der Beschäftigten können nur dann aktiv werden, wenn sich die Mitarbeiter persönlich »gesehen«, wahrgenommen und beachtet fühlen. Viele Vorgesetzte sind unsicher: Was bedeutet es, eine »Beziehung« zu gestalten? Manche Vorgesetzte – weibliche etwas häufiger als männliche432 – verfügen über eine intuitive Begabung, wie man am Arbeitsplatz die »Beziehung« zu seinen Mitarbeitern gestaltet. Für viele ist dieses Thema aber noch ein recht fremdes und unsicheres Terrain. Beziehungsgestaltung am Arbeitsplatz bedeutet nicht, dass Vorgesetzte eine nahe persönliche Beziehung zu ihren Mitarbeitern suchen oder gar einen Flirt beginnen sollten, dies wäre der definitiv falsche Weg!433 Es geht auch nicht darum, dass Vorgesetzte sich persönlich verstellen oder verrenken sollten. Es reicht, mit den Mitarbeitern in kontinuierlichem persönlichem Kontakt zu sein und ihnen gegenüber respektvoll und freundlich aufzutreten. Ansonsten aber dürfen und sollen Vorgesetzte so wie ihre Mitarbeiter sich unverstellt und »normal« geben. Sie dürfen auch Gefühle, sowohl Gefühle der Freude als auch des Ärgers, zeigen, sollten bei Kritik aber nie die Fassung verlieren oder ausfallend werden.
Als Vorgesetzte oder Vorgesetzter eine gute, professionelle Beziehung mit Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen zu gestalten bedeutet, eine Balance zu finden zwischen verstehender Zuwendung einerseits und klarer Führung andrerseits. »Verstehende Zuwendung« heißt, Mitarbeiter mindestens wöchentlich, in kleinen Teams eventuell sogar täglich persönlich kurz zu kontaktieren und in angemessenen Abständen – einzeln oder im Rahmen von Teamsitzungen – mit ihnen die Arbeit zu besprechen. Dies sollte persönlich geschehen und kann nicht durch E-Mails ersetzt werden! Verstehende Zuwendung bedeutet, dass Vorgesetzte wahrnehmen, was ihre Mitarbeiter tun und ihnen dazu persönlich Rückmeldungen geben. Es ist nicht nötig und würde unecht wirken, Mitarbeiter jeden Tag zu loben, ebenso wenig wie man ihnen nicht täglich mit Kritik auf die Pelle rücken sollte. Jeder Mitarbeiter sollte aber – ohne großes Zeremoniell – in angemessenen Abständen hören, ob seine Arbeit Wertschätzung findet oder ob Mängel zu beanstanden sind, die behoben werden sollten. »Klare Führung« bedeutet, Mitarbeiter wissen zu lassen, was man von ihnen verlangt, transparent zu machen, nach welchen Regeln Leistungen bewertet werden, und Kritik mutig, aber fair und sachlich zu äußern. Bloßstellungen und Beschämungen Einzelner vor versammelter Mannschaft sind ein schwerer Fehler434. Wenn jemand deutlich und hart kritisiert werden muss, dann sollte dies möglichst im Beisein des Stellvertreters des Vorgesetzten im kleinen Rahmen geschehen.
Vorgesetzte können, ohne auf die Forderung nach Leistung verzichten zu müssen, viel für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter tun, wenn sie die Balancen beachten, die bei der Burn-out-Prophylaxe eine Rolle spielen. Von zentraler Bedeutung sind die drei Balancen zwischen Leistungsanforderungen im Verhältnis zur Anerkennung (»Effort versus Reward«), zum Entscheidungsspielraum (»Demand versus Control«) und zu den Ressourcen (»Demand versus Resources«). Die wichtigste Formen der »Anerkennung« sind nicht nur der faire Lohn, sondern auch die Wertschätzung der erbrachten Leistung, die Sicherheit des Arbeitsplatzes und berufliche Entwicklungschancen. »Entscheidungsspielraum« ist gegeben, wenn Beschäftigte bis zu einem gewissen Grad selbst entscheiden können, wie und in welcher Zeit sie ihre Arbeit erledigen wollen. In der Art und Weise, wie sie Arbeit erledigen, sollten Mitarbeiter nicht unnötig durch bis ins Detail gehende Vorschriften eingeengt werden.
Die Arbeitsmenge und der Rhythmus (Arbeit pro Zeiteinheit) müssen der Leistungsfähigkeit angepasst sein und dürfen diese nicht übersteigen. Es hat keinen Sinn, die Leistungsstandards am obersten Rand des Leistbaren zu definieren in der Hoffnung, aus den Mitarbeitern damit »alles herauszuholen«. Genau das Gegenteil wird der Fall sein.
Von überragender Wichtigkeit sind regelmäßige, tatsächlich eingehaltene Pausen. Mitarbeiter sollten zur Halbzeit ihres Tagespensums in Ruhe und abseits des Arbeitsplatzes – und keinesfalls neben der Arbeit her – essen können435. Wenn Vorgesetzte nicht nur auf Leistung, sondern auch darauf achten, dass eine gesundheitsförderliche Arbeitskultur herrscht, dann stärken sie die Ressourcen und damit auch die Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter.