Daran, dass sich Menschen – nicht anders als Tiere – seit jeher betätigen mussten, um ihr Überleben zu sichern, kann kein Zweifel bestehen. Die Ernährung unserer evolutionären Vorfahren beruhte bis zum Beginn der Sesshaftigkeit des Menschen bekanntlich ausschließlich auf dem Sammeln vegetarischer Nahrungsmittel, dem Fischfang und der Jagd299. Bevorzugte Rückzugs- und Ruheorte der Sammler und Jäger waren Höhlen. Zu den notwendigen Tätigkeiten, die das Überleben sicherten, gehörte seit Jahrhunderttausenden die Herstellung von Werkzeugen. Sie wurden für die Erschließung vegetarischer Lebensmittel (z. B. für das Ausgraben von Knollen und Wurzeln oder für das Öffnen von Nüssen), für den Fischfang, für die Jagd, für die Bearbeitung von Tierprodukten (z. B. für die Präparation von Fleisch und die Herstellung von Fellen) und für die Aufbereitung von Unterkünften benötigt. Ein weiterer Verwendungszweck von Werkzeugen war die Herstellung von künstlerischen Produkten. Davon zeugen jahrzehntausendealte Höhlenmalereien und kleine Figuren, wie sie in einer als »Statuettenhorizont« bezeichneten, von der Iberischen Halbinsel bis nach Osteuropa reichenden Zone gefunden wurden. Wer darauf bestehen würde, die vielfältigen Beschäftigungen unserer Jäger- und Sammlervorfahren als »Arbeit« zu bezeichnen, dem könnte man vermutlich nur schwer widersprechen.
Da der Übergang von Tätigkeiten, die Menschen vor und nach Beginn der Sesshaftigkeit ausübten, ganz offensichtlich ein fließender war, muss jeder Versuch, den evolutionären oder historischen Beginn der menschlichen Arbeit zu kartieren, willkürlich bleiben. Den globalen Anfang der menschlichen Sesshaftigkeit machten, soweit derzeit bekannt, Menschen, die vor rund 12 000 Jahren in einem Geländebogen lebten, der vom Jordantal nach Nordosten bis ins obermesopotamische Bergland reichte. Die Würm-Eiszeit, die Europa über mehrere Zehntausend Jahre in einen Eisschrank mit weit ins Flachland reichenden Gletschern verwandelt hatte, neigte sich damals gerade langsam ihrem Ende zu. Während in Europa noch Eiszeit herrschte, ließ es sich in den südlicheren Regionen des Nahen und Mittleren Ostens teilweise sehr angenehm leben. Die Bergzonen am Oberlauf von Euphrat und Tigris waren damals ein bewaldetes, vegetarisch ergiebiges und wildreiches Gebiet, für Menschen ein ideales, geradezu paradiesisches Biotop. Hier, in einer Gegend, die heute den äußersten, südöstlichen Bereich der Türkei bildet, wurden unter maßgeblicher Beteiligung deutscher Archäologen in den letzten Jahren die ältesten Spuren menschlicher Sesshaftigkeit gefunden.
Einer der derzeit ältesten »Spots« in diesem Gebiet ist das vom Berliner Archäologen Klaus Schmidt entdeckte und in den letzten Jahren – zusammen mit seinem Team – ausgegrabene Göbekli Tepe300. Schmidt datiert die ältesten Schichten von Göbekli Tepe auf 9600 bis 8800 v. Chr.
Zusammen mit anderen Neurowissenschaftlern, Philosophen und einem internationalen Archäologenteam war ich im Herbst 2012 zu einem von der Templeton Foundation organisierten Workshop in die Osttürkei eingeladen. Unsere Gruppe hatte die Aufgabe, sich Göbekli Tepe vom Ausgrabungsleiter Klaus Schmidt ausführlich zeigen zu lassen und zusammen mit ihm mehrere Tage darüber nachzudenken, welche Bedeutung die dort freigelegte Anlage für diejenigen gehabt haben könnte, die sie einst erbaut hatten. Göbekli Tepe ist ein ausgedehntes, auf der plateauartigen Anhöhe eines Berges liegendes, aus mehreren kreisrunden Anlagen bestehendes Areal. Jede der Anlagen wird von einer runden, nicht sehr hohen Mauer begrenzt, die vermutlich einst als Fundament eines heute nicht mehr erhaltenen Holzdaches diente. An der Innenseite der Mauer einer solchen Anlage befindet sich eine kreisrunde Steinbank. In die Mauer integriert sind mehrere einzeln stehende, übermannsgroße Steinstelen, welche die Steinmauer unterbrechen und offensichtlich anonyme, der Mitte des Kreises zugewandt, stehende menschenartige Figuren darstellen. In der Mitte des Kreises befinden sich zwei weitere, frei nebeneinanderstehende Stelen, welche ebenfalls erkennbar Menschengestalt haben, ihre im Kreis stehenden »Kollegen« aber deutlich an Höhe überragen. Sie werden von diesen sozusagen umringt und angeblickt (dies ist metaphorisch zu verstehen, denn keine der imposanten Steinfiguren weist Gesichtszüge oder gar Augen auf).
Was hat Göbekli Tepe, eine der ältesten Spuren menschlicher Sesshaftigkeit, mit dem Thema Arbeit zu tun? Da die tonnenschweren Steinstelen nicht nur behauen und künstlerisch bearbeitet, sondern erkennbar erst an den Ort ihrer Aufstellung transportiert worden waren, stellte sich den Archäologen die Frage, woher sie stammten. Die Antwort fand sich unweit der Anlage: Einige Hundert Meter entfernt erkennt man eine Art Steinbruch, wo die Erbauer der Anlage große, tonnenschwere Steinfragmente aus einem Boden gelöst und – vermutlich auf Rollen, die sie aus Holzstämmen hergestellt hatten – zur Anlage transportiert hatten (wo sie die Steine dann aufstellten). Der großflächige Steinbruch zeigt noch heute eindeutige Spuren, die erkennen lassen, dass unsere neolithischen Vorfahren offenbar mithilfe starker Stangen große Platten aus dem Boden herausgehebelt hatten. Der Bau der gesamten Anlage erforderte eine sich über einen längeren Zeitraum erstreckende, kontinuierliche Zusammenarbeit von mindestens ein- bis zweihundert Personen. Was hier – womöglich erstmals in der Geschichte der Menschheit – gefordert war, war Arbeit im Sinne dessen, was wir heute darunter verstehen. Daher ist Klaus Schmidt zuzustimmen, wenn er Göbekli Tepe als einen möglichen Ort der »Erfindung der Arbeit« bezeichnet301.
Was waren die Vorstellungen, welche die Erbauer einer Anlage wie Göbekli Tepe veranlasst haben, die enormen, für die Errichtung erforderlichen Arbeitsanstrengungen auf sich zu nehmen? Interessant ist, dass die stilisierten, große menschliche Gestalten darstellenden Stelen allesamt männlichen Geschlechts sind. Ihre Oberflächen sind mit der Darstellung zahlreicher, überwiegend gefährlicher Tiere verziert. Soweit es die Möglichkeiten der Darstellung zuließen, sind alle Tiere männlichen Geschlechts, ihre Genitalien sind überdeutlich herausgearbeitet. Da die Anlage keine Elemente enthält, die dafür sprechen, dass sie dauerhaft bewohnt wurde302, wird angenommen, dass sie ein zentraler Versammlungsort für sesshafte Gruppen im Umkreis von bis zu etwa 50 Kilometern war. Die in den ausschließlich männlichen Figuren und Tieren zum Ausdruck kommende Testosteronlastigkeit der Anlage lässt vermuten, dass es sich um einen Versammlungsort von Männern handelte303. Dafür spricht auch ein in die bereits erwähnte Sitzbank eingeritztes, despektierliches, eine nackte Frau darstellendes Graffito (womöglich die weltweit älteste Pornodarstellung). Der »innere Plan«, der die Arbeit an dieser Anlage vorangetrieben haben könnte, war möglicherweise der Wunsch nach einer kraftprotzenden Selbstdarstellung männlicher Leistungspotenziale304.