Arbeit als Resonanzerfahrung oder Entfremdung

Indem wir arbeiten, begegnen wir der Welt. Zum einen begegnen wir der äußeren Welt, die einst eine noch unberührte Natur war, deren Angesicht sich im Verlauf von zwölftausend Jahren menschlicher Zivilisation jedoch erheblich verändert hat. Eine zweite Art von Weltbegegnung ist die mit uns selbst. Hier erleben wir – in einer spezifischen, durch die Arbeit bedingten Weise – unseren Körper, unsere Sinne, unsere Potenziale, aber auch unsere Grenzen. Auch die selbst erhaltenden, unsere Bedürfnisse befriedigenden Effekte des Arbeitens sind Teil dieser Selbstbegegnung, ebenso der Beitrag, den die durch Arbeit erworbene Erfahrungen und Kompetenzen zu unserer personalen Identität leisten. Schließlich bedeutet die Arbeit aber immer auch eine Begegnung mit anderen, mit unserem sozialen Umfeld. Dies gilt nicht nur dann, wenn wir unmittelbar gemeinschaftlich tätig sind. Auch wer alleine arbeitet, ist mit dem, was er oder sie tut, immer mittelbar oder unmittelbar auf andere bezogen. Indem sie uns unausweichlich in eine Begegnung mit anderen bringt, berührt die menschliche Arbeit also immer auch Fragen der sozialen Zugehörigkeit, sozialer Hierarchien und der Konkurrenz. Zu dieser dritten Art von Weltbegegnung gehört last but not least, dass wir uns nur gemeinsam mit anderen reproduzieren können – sicher nicht das einzige, aber ein fundamentales Motiv dafür, dass Menschen arbeiten.

Die drei genannten Dimensionen der Arbeit sind nicht nur in vielfältiger Weise untereinander verbunden, sie sind alle und jede für sich auch neurobiologisch »geerdet«. Da sie Bezug zu physischen und psychischen Bedürfnissen und Funktionssystemen des menschlichen Organismus haben, können sie uns sowohl gesund erhalten als auch krank werden lassen. Alle drei genannten Dimensionen der Arbeit bergen einerseits kreative (und dann in der Regel zugleich gesund erhaltende) Potenziale, sie können, vor allem wenn sie außer Kontrolle geraten und wenn sich verselbstständigte Prozesse entwickeln, aber auch zerstörerische Auswirkungen hervorbringen (und dann zu Krankheitsrisiken werden).

Das positive Potenzial, das sich aus der Begegnung mit unserer äußeren Welt ergibt, wird dort erkennbar, wo es gelingt, unsere Umwelt zu einem wohnlichen Ort zu machen. Das sich aus der zweiten Dimension, der Selbstbegegnung, ergebende schöpferische Potenzial wird dort sichtbar, wo wir durch Arbeit in uns gewachsene Kompetenzen erleben und die Arbeit zu einem Teil unserer Identität werden konnte. Das Potenzial der dritten, sozialen Dimension zeigt sich dort, wo wir durch die Arbeit Anerkennung, Zugehörigkeit und soziale Teilhabe erleben. Die jeweils destruktiven Gegenpole dazu sind in der ersten Dimension die Naturzerstörung, in der zweiten die Arbeitssucht, körperlicher Verschleiß, Burn-out und Depression, und in der dritten Dimension schließlich der Kampf um Anerkennung, um Ressourcen und die sich daraus ableitende Gewalt.

Wo uns das, was wir durch Arbeit zuwege gebracht haben, gefällt und Freude macht, wo wir uns in dem, was wir tun, in unserer Identität wiedererkennen und wo wir für das von uns Geleistete die Anerkennung und Wertschätzung anderer gewinnen, dort wird Arbeit zu einer Resonanzerfahrung. Die Suche nach Spiegelungs- und Resonanzerfahrungen ist ein neurobiologisch begründetes Grundmotiv menschlichen Lebens9, eine Perspektive, die auch von philosophischer und soziologischer Seite geteilt wird10. Resonanzerfahrungen sind sinnstiftend, sie bedeuten das Erleben von Erfüllung und Glück. Der Ansicht, dass die Arbeit eine sinnstiftende Ressource ist, stimmen in Deutschland 84 Prozent der Beschäftigten zu11. Neurobiologisch werden Resonanzerfahrungen von der Ausschüttung von Gesundheit erhaltenden Botenstoffen begleitet. Wo Resonanzerfahrungen ausbleiben, wird die Arbeit zur Qual.

Arbeitsabläufe, in denen Beschäftigte keine Anerkennung erhalten, in denen sie sich selbst und den Sinn ihres Tuns nicht mehr erkennen können oder die zu Produkten führen, die nicht denen dienen, die diese Produkte erarbeitet haben, erzeugen das, was Karl Marx – in Anlehnung an einen bereits von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geprägten Begriff – als »Entfremdung« bezeichnete12. Entfremdung ist im Arbeitsleben das Gegenstück zur Spiegelung, sie bedeutet das Ausbleiben von Resonanz und die Erfahrung von Sinnlosigkeit.