Von der »Erfindung der Arbeit« zur »New Economy«

Wir müssen neu über Arbeit nachdenken, weil wir in einer Zeit enormer, die Arbeitswelt betreffender Umbrüche leben. Die menschliche Arbeit war seit ihren Anfängen – die »Erfindung« der Arbeit datieren Archäologen auf den Beginn der Sesshaftigkeit vor rund 12 000 Jahren4 – ein ambivalentes, mit gewaltigen Chancen und zugleich abgründigen Gefährdungen verbundenes Projekt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Immer wieder neu sind jedoch die Umstände und Kontexte, in denen sich der Mensch und seine Arbeit begegnen.

Wir leben heute in einer globalisierten Welt, deren Ressourcen – ungeachtet einer weiter wachsenden Weltbevölkerung – letztlich begrenzt sind. Der Wettlauf zwischen den Herausforderungen, die sich aus dem Ressourcenmangel ergeben, und der Erarbeitung immer wieder neuer Problemlösungen verlangt dem Menschen ungeheure Anstrengungen ab. Dabei lässt sich kaum bestreiten, dass der Mensch, evolutionär gesehen, nicht für die Arbeit »gemacht« ist – jedenfalls nicht für jene Art von Arbeit, wie wir sie heute haben. Vielleicht sind es aber gerade Herausforderungen, die uns immer wieder an unsere eigenen Grenzen bringen, für die unsere Spezies »gemacht« ist.

Die Veränderungen, die durch eine globalisierte Weltwirtschaft, durch das internationale Finanzsystem, durch neue Formen der Automatisierung, durch Informationstechnologien, permanenten Strukturwandel und die allgemeine Beschleunigung des Lebens verursacht wurden, haben eine gewaltige Wucht. Viele Menschen haben, selbst wenn sie sich und ihre Angehörigen wirtschaftlich noch einigermaßen gut über Wasser halten können, das Gefühl, auf der Oberfläche einer Art Tsunamiwelle zu schwimmen, von der niemand weiß, wohin sie uns treibt. Wo Flutwellen dabei sind, Menschen und Ressourcen zu beschädigen oder zu zerstören, müssen Dämme gebaut werden. Regulierender Dämme bedarf es heute dringender denn je, an erster Stelle im Bereich des internationalen Finanzsystems, dessen Auswirkungen auf den Arbeitssektor durchschlagend sind5 – doch dieses zügellose System ist nur am Rande Thema dieses Buches. Hier soll es vor allem um jene Dämme gehen, mit denen wir im Nahbereich der Arbeit unser aller Gesundheit schützen müssen. Dieses Buch soll eine Art Kursbuch sein und Orientierung geben, worauf wir – aus Sicht der modernen Hirnforschung und der Medizin – unter den heutigen Bedingungen achten müssen, damit wir an unserer Arbeit Freude haben können, anstatt an ihr krank zu werden.

Wer zum Thema »Gesundheit und Arbeit« Stellung nimmt, kann nicht nur über die Arbeit selbst, sondern muss auch über einige Mechanismen sprechen, nach denen unsere Wirtschaft funktioniert, vor allem über die Art, wie Beschäftigte eingesetzt und von Arbeitgebern und Vorgesetzten behandelt bzw. geführt werden. Nicht nur Banken und große Konzerne, auch Beschäftigte und ihre Gesundheit sind »systemrelevant«. Nicht der Mensch ist an die Arbeit anzupassen – wie es seit den Tagen von Frederick Taylor, dem Erfinder des »Taylorismus«, bis heute immer wieder versucht wird –, sondern umgekehrt. Arbeitsbedingungen, wie sie in zahlreichen Branchen bzw. Berufen heute herrschen, widersprechen dem Grundsatz, dass »in erster Linie die Arbeit für den Menschen da ist und nicht der Mensch für die Arbeit«, wie es der legendäre polnische Papst Johannes Paul II. in einer dem Thema Arbeit gewidmeten Enzyklika ausdrückte6.

Eine Verantwortung für das Gelingen guter Arbeit als Teil guten Lebens haben aber nicht nur Wirtschaft, Arbeitgeber und Vorgesetzte, sondern auch die Beschäftigten selbst. Die entscheidenden Grundlagen für Gesundheit, soziale und berufliche Kompetenz werden in den Jahren des Heranwachsens gelegt. Indem wir Kinder und Jugendliche derzeit weder hinreichend fördern noch fordern, sondern sie einer Wohlstands- und Medienverwahrlosung7 überlassen, leisten wir einen Beitrag dazu, dass viele von ihnen sich später keiner Arbeit gewachsen fühlen werden.

Die Gefahr der gesundheitlichen Beschädigung des Lebens durch die Arbeit ist nicht neu. Die Belastung durch Arbeit betrifft die in den westlichen Ländern Lebenden sehr unterschiedlich. Menschen in Wohlstand und solche, die sich in ökonomischer Not befinden, sind unterschiedlich betroffen, wobei sich die Schere zwischen Wohlhabenden und dem Rest der Bevölkerung – wie entsprechende Zahlen zeigen – in den letzten Jahren weiter geöffnet hat. Doch ganz unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage haben viele Menschen angesichts einer intransparent gewordenen, globalisierten Wirtschaft heute das Gefühl, eine Einflussnahme auf die Arbeitsverhältnisse sei gar nicht mehr möglich. Eine Art kombinierter Wohlstands- und Armutsfatalismus droht sich breitzumachen. Dies darf nicht passieren. Auch wenn die seinerzeitige Situation in den 80er-Jahren im Polen des ehemaligen Ostblocks mit der Lage im heutigen Mitteleuropa nicht vergleichbar ist, täte unserem Lande ein neuer, großer Diskurs über das Thema Arbeit gut. Polens »Solidarno´s´c«-Bewegung war nicht nur eine Arbeiterrevolte gegen ein autoritäres Regime, sie war auch ein zwischen den gesellschaftlichen Gruppen des damaligen Polen geführtes Streitgespräch über die Arbeit – ja mehr noch: sie definierte die »Arbeit als Gespräch«8, das heißt als Forum der Kommunikation.