Die Sicht auf die Arbeit in Zeiten der Industrialisierung: Hegel, Ricardo und Marx
Die im 19. Jahrhundert mit voller Wucht einsetzende Industrialisierung ließ rasch deutlich werden, dass die von den Gründervätern des Liberalismus, insbesondere von Adam Smith entworfene Vision einer Bündnissituation zwischen Unternehmer- und Arbeiterschaft nicht den Realitäten entsprach. Zwar bestätigte sich die von John Locke, David Hume und Adam Smith erkannte Tatsache, dass es die Arbeit sei, die Produkten ihren Wert verleihe, uneingeschränkt. Nicht erfüllen sollte sich jedoch die von Adam Smith explizit formulierte Erwartung, dies werde zu allseitigem Wohlstand führen. Der Grund hierfür war, dass die Arbeit selbst zu einer (allerdings billigen) Ware wurde, was nicht ohne Folgen für ihren Preis – das heißt für die Höhe des Lohnes – bleiben konnte.
Der britische Ökonom David Ricardo (1772–1823), der als ein Vordenker des nur wenige Jahre später geborenen Marx angesehen wird, war der Erste, der zwischen einem »natürlichen Preis« und einem variablen »Marktpreis« von Waren unterschied362. Entsprechend stellte er bei den Löhnen einem »natürlichen Lohn« einen »Marktlohn« gegenüber363. Dass durch Macht- und Marktmechanismen niedergehaltene, ausbeuterische Löhne einen systematischen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit erzeugen, formulierte jedoch erst der deutsche Ökonom und Philosoph Karl Marx (1818–1883).
Ausbeuterische Löhne waren nicht die einzige Ursache dafür, dass die Arbeit für Millionen von Menschen in den Industriebetrieben des 19. Jahrhunderts zu einer Jahrzehnte andauernden Qual wurde. Eine vergleichbare Bedeutung für das in der Arbeit erlebte Elend hatte eine teilweise ins Extrem getriebene Arbeitsteilung und der auf breiter Front stattfindende Einsatz von Menschen an Maschinen364.
Karl Marx war nicht der Erste, der die Monotonie und Sinnentleerung beklagte, die sich aus der Mechanisierung der Arbeit ergab. Bereits der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) bemerkte, die Arbeit an der Maschine mache den Menschen »mechanischer, abgestumpfter, geistloser«. »Fabriken«, so der schwäbische, in Berlin lehrende Philosoph, »gründen auf das Elend einer Klasse ihr Bestehen«365. Karl Marx beklagte die Entmenschlichung der Arbeit durch Mechanisierung und Monotonie als »Entfremdung«. Der US-amerikanische Ingenieur Frederick Taylor (1856 bis 1915) verfolgte, wie schon erwähnt, das Ziel, Arbeiter für ihren Dienst an der Maschine durch genaue Vorgaben der Bewegungsabläufe und der dafür zur Verfügung stehenden Sekunden sozusagen zu optimieren366. Das Konzept des »Taylorismus«, welches in vielen Fabriken des 19. und 20. Jahrhunderts eingeführt wurde und derzeit in einigen Branchen eine Wiedergeburt erlebt367, macht den Menschen selbst zu einer Maschine.
Karl Marx sah die Notwendigkeit, die Bedingungen, unter denen Menschen im 19. Jahrhundert arbeiten mussten, grundlegend zu verändern. Er wollte sich allerdings nicht mit Hegels Erwartung zufriedengeben, ein »Werden des Geistes« werde letztlich aus dieser Misere herausführen368. Als das eigentliche Grundübel erkannte Marx die krassen, ungerechten Eigentums- und Machtverhältnisse seiner Zeit, welche die Arbeiterschaft in den Industrieländern von jeglicher Partizipation abschnitten. Seine strategischen Empfehlungen, wie dieser unhaltbare, weil menschenunwürdige Zustand zu beenden sei369, wurden zum theoretischen Fundus sozialdemokratischer, sozialistischer und kommunistischer Parteien.