Das »klassische« Stresssystem

Wenn keinerlei konkrete Aufgaben anstehen und zudem nichts zu überwachen ist, dann befindet sich der menschliche Körper in einem Ruhe- oder Gleichgewichtszustand, den Mediziner als »Homöostase« bezeichnen: Atmung, Herzschlag und Blutdruck befinden sich im Ruhezustand. Sobald wir uns jedoch einer plötzlichen, klar definierten Herausforderung gegenübersehen, ist die »Homöostase« beendet. Nun springt das »klassische« Stresssystem an, der Körper wechselt in die sogenannte »Allostase«.

Herausforderungen, welche das Stresssystem aktivieren und »Allostase« verursachen, kannten bereits unsere evolutionären Vorfahren. Um einem Raubtier zu entkommen, um ein Beutetier zu jagen, einen Baum zu erklimmen, einen Fluss zu überqueren oder ein Kind zu retten, musste der Körper sehr schnell in einen leistungsbereiten Zustand gebracht werden. Gefordert sind in solchen Stresssituationen vor allem Atmung, Kreislauf, Gehirn und Bewegungsapparat. Notfalls innerhalb weniger Minuten müssen Herzschlagfrequenz, Blutdruck und die Bereitstellung des Energielieferanten Glucose massiv erhöht werden.

Weder die Flucht vor wilden Tieren noch die Jagd mit Pfeil und Bogen gehören zum Anforderungsprofil des modernen Menschen. Doch obwohl sich die Aufgabenstellungen fundamental gewandelt haben, reagiert das »klassische« Stresssystem auch beim modernen Menschen. Es wird immer dann aktiv, wenn konkrete Leistungen oder Erledigungen gefordert sind, seien sie körperlicher oder geistiger Art.

Hohe Schwierigkeitsgrade der zu erledigenden Aufgabe, große Arbeitsmengen und Zeitdruck erzeugen Situationen, die von unserem Körper genauso wahrgenommen werden wie eine gefährliche Flucht- oder Jagdsituation zur Zeit unserer evolutionären Vorfahren. Auch beim modernen Menschen wechselt der Körper dann von der Homöostase zur Allostase. Die Steuerung bei diesem Wechsel übernimmt das Gehirn, wobei im Stresszentrum des Gehirns ein Stressgen aktiviert wird, was zur Folge hat, dass es im Körper innerhalb weniger Minuten zu einem Anstieg des Stressbotenstoffes Cortisol kommt67. Gleichzeitig wird das sogenannte »sympathische Nervensystem« aktiviert, welches mit seinem Botenstoff Adrenalin die Atmung, das Herz und den Kreislauf in Fahrt bringt (zusätzlich wird im Hirnstamm der Schwesterbotenstoff Noradrenalin freigesetzt).

Wie bereits eingangs festgestellt, ist »Stress« an sich nichts Schlechtes, im Gegenteil. Die durch konkrete Aufgaben angeworfene Stressreaktion dient dem Zweck, die eigenen Leistungsreserven zu aktivieren. Ein aktivierter Kreislauf, ein mit Glucose versorgtes Gehirn und ein gut mit Sauerstoff versorgter Organismus verbessern die Chance, eine Aufgabe zu bewältigen bzw. zu beherrschen. Und genau hier, bei der Beherrschbarkeit einer gestellten Aufgabe, liegt der Unterschied zwischen »gutem Stress« (sogenanntem »Eustress«) und »schlechtem Stress« (sogenanntem »Distress«). Guter, also beherrschbarer Stress (englisch: »escapable stress«) bringt eine nur begrenzte, gesundheitsdienliche Dosis von »Allostase« mit sich. Die »allostatische Last« (»allostatic load«), welcher der Körper ausgesetzt wird, bleibt begrenzt68.

Schlechter, also nicht beherrschbarer Stress (»inescapable stress«) erhöht die »allostatische Last«. Anstatt nach erfolgreicher Bewältigung des Problems bzw. nach Erledigung der Aufgabe ein Ende zu finden, bleibt die Stressreaktion beim schlechten Stress angeschaltet, sie kann nicht »herunterreguliert« werden. Die Folge ist nun entweder ein Zustand von Dauerstress oder irgendwann eine vollkommene Erschöpfung des Stresssystems. Die Erschöpfung des biologischen Stresssystems ist in der Regel das Ergebnis einer vorangegangenen Phase mit lang anhaltendem schlechtem, also nicht beherrschbarem Stress69.

Die Folgen einer »allostatischen Überladung« durch Dauerstress beschränken sich nicht auf die Psyche, sondern schlagen mit voller Wucht auf den Körper durch: Die organmedizinischen Folgen von dauerhaftem Überforderungsstress sind erhöhter Blutdruck, erhöhte Blutfettwerte, erhöhtes Diabetesrisiko und – als Folge dieser Veränderungen – ein erhöhtes Risiko für Arteriosklerose, koronare Herzerkrankung und Herzinfarkt70. Langfristige Folgen von Dauerstress können sich sogar schädigend auf die Nervenzellen des Gehirns auswirken und die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen71.

Die Bedeutung der individuellen Bewertung von Stress

Wie bereits erwähnt, wird das klassische Stresssystem immer dann aktiv, wenn konkrete Leistungen gefordert sind, und es bleibt aktiv, solange die jeweilige Herausforderung nicht bewältigt wurde. Doch wie erklärt sich die durch die Stressforschung bestätigte Beobachtung, dass vergleichbare äußere Situationen bei einem Teil der betroffenen Menschen starke Stressreaktionen auslösen, von einem anderen Teil dagegen als wenig dramatisch empfunden werden? Wodurch wird entschieden, ob eine konkrete Herausforderung für einen bestimmten Menschen beherrschbar (»escapable«), für einen anderen Menschen aber nicht (»inescapable«) ist? Und wer oder was entscheidet darüber, ob eine Aufgabe, nachdem bestimmte Anstrengungen unternommen wurden, als hinreichend bewältigt angesehen werden darf oder nicht?

Wir alle kennen Menschen, denen anstehende Erledigungen oder Aufgaben schon im Voraus den Schlaf rauben, während andere in der gleichen Situation die Ruhe selbst zu sein scheinen. Wenn derart unterschiedliche Menschen in einem Team zusammenarbeiten – oder gar in einer Partnerschaft zusammenleben –, können sich Konflikte ergeben. Auch ob eine Aufgabe, in die man Arbeit investiert hat, anschließend als hinreichend erledigt angesehen werden kann oder nicht, wird oft sehr unterschiedlich beurteilt. Eher zur Perfektion neigende Menschen (bei denen das Stresssystem hochgestellt bleibt) und entspannte »Laissez faire«-Persönlichkeiten (die ihren Stress schon wieder herunterreguliert haben) können sich hier am Arbeitsplatz heftig in die Haare geraten.

Menschen antworten auf eine gegebene Anforderungssituation mit unterschiedlichen biologischen Stressreaktionen. Äußere Anforderungen sind daher nicht gleichzusetzen mit der Belastung, die ein Mensch biologisch und psychisch erlebt.72 Wie sensibel oder resistent das Stresssystem eines einzelnen Menschen auf eine gegebene Situation reagiert, hängt einerseits von den bisherigen Lebenserfahrungen der betreffenden Person ab und andrerseits davon, wie viel soziale Unterstützung einem Menschen aktuell zur Verfügung steht. Biografische Erfahrungen von Überforderung oder großer Hilflosigkeit haben – vor allem wenn sie in die Zeit der Kindheit fallen – in der Regel zur Folge, dass ein Erwachsener später in einer gegebenen aktuellen Situation stärkeren Stress verspürt als andere. Andrerseits wird das Wissen, von Kollegen oder Vorgesetzten im Bedarfsfall unterstützt zu werden, die Stressreaktion eines Menschen reduzieren.

Wenn Mitarbeiter eine bestimmte Arbeitssituation als stark belastend oder gar unzumutbar erleben, dann ist es daher sinnlos, darauf hinzuweisen, dass irgendjemand anderes mit dieser Situation (angeblich) gut zurechtkam. Es sind immer die konkreten einzelnen Menschen, welche die Arbeit bewältigen müssen. Die Arbeit muss an den Menschen angepasst sein, nicht umgekehrt. Sinnvoll ist es stattdessen, das Selbstvertrauen von Mitarbeitern in ihre eigenen Fähigkeiten zu stärken und ihnen Unterstützung zuzusagen und bereitwillig zu geben, falls sie diese für die Erledigung ihrer Aufgabe brauchen.