Der Beginn der Burn-out-Forschung: Kurt Lewin

Wenn die Geschichte der Erforschung des Burn-out-Syndroms erzählt wird, fallen zumeist die Namen Herbert Freudenbergers (eines New Yorker Psychologen und Psychoanalytikers) und Christina Maslachs (einer kalifornischen Psychologieprofessorin). Tatsächlich haben diese beiden innerhalb der Burn-out-Forschung eine herausgehobene Bedeutung. Den Anfang einer wissenschaftlichen Erforschung von Störungen der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz machte jedoch der in Deutschland aufgewachsene und 1933 wegen seiner jüdischen Identität vor den Nazis in die USA emigrierte Kurt Lewin (1890–1947). Kurt Lewin hatte seine Gymnasialjahre in Berlin verbracht. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er als Soldat auf deutscher Seite und wurde schwer verwundet. Lewin hatte zunächst in Freiburg im Breisgau ein Medizinstudium begonnen, wechselte dann aber nach München und Berlin, wo er Psychologie und Philosophie studierte. Nach seiner Habilitation lehrte er in den 20er-Jahren an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, wo er eine Reihe von Forschungsvorhaben durchführte, darunter – zusammen mit seiner Doktorandin Anitra Karsten – auch Studien über psychische Reaktionen am Arbeitsplatz205. In zwei Publikationen aus den Jahren 1928 beschreiben Karsten und Lewin ein Phänomen, welches ein Kernbestandteil dessen ist, was fast fünfzig Jahre später als Burn-out-Syndrom bezeichnet werden sollte206.

Was Kurt Lewin und Anitra Karsten beschrieben, ist ein langsamer, kontinuierlicher Übergang, ausgehend von einem Gefühl ungeschmälerter Arbeitsfreude207 hin zu einem Zustand, den sie »psychische Sättigung« bzw. »psychische Übersättigung« nannten. »Psychischen Sättigung« ist von Zuständen wie Ermüdung, Faulheit oder Langeweile abgegrenzt und sollte damit nicht verwechselt werden.

»Wesentlich für die Sättigung«, so Lewin, sei »folgendes: Es handelt sich nicht um eine bloße Erschlaffung, sondern um das Entstehen eines negativen Aufforderungscharakters, der von der Handlung [also von der Arbeit] wegtreibt.« Was Lewin und Karsten beschrieben haben, ist eine unbezwingbare innere Antipathie, die dem Ekel nahezukommen scheint. »Man sieht den Sättigungsprozess durchaus schief, wenn man ihn nur als ein allmähliches Gleichgültig-werden und Erschlaffen auffasst. Vielmehr ist der charakteristische Fall der Sättigung dann gegeben, wenn antagonistische Kräfte sich bemerkbar machen, wenn also trotz einer gewissen Verbundenheit mit der Arbeit die Abneigung gegen die Arbeit allmählich anwächst.«208 Psychische Sättigung hat zur Folge, »dass die Person trotz eines gewissen äußeren Zwanges und trotz guten Willens und großer Anstrengung die Arbeit fortzuführen, diese Arbeit nicht mehr ausführen ›kann‹ und daher abbricht«209 (Kursivierung durch den Autor).

Das »Nicht-mehr-Können« von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, das Kurt Lewin und Anitra Karsten beschrieben haben, tritt nicht aus heiterem Himmel auf. Die beiden Forscher fanden das Phänomen der »psychischen Sättigung« vor allem bei Aufgabenstellungen, die ein Gefühl des »Auf der Stelle Tretens« auslösen, also bei monotonen, auf die Wiederholung immer gleicher Handlungen beschränkten Arbeiten. Interessant war, dass wenn die Arbeit »irgendwie als Weiterkommen erlebt [wird], … die Sättigung ganz ausbleiben oder jedenfalls aufgehalten werden [kann], selbst dann, wenn äußerlich eine Wiederholungshandlung vorliegt«210.

Was die Aversion gegen die Arbeit auslöst, ist also nicht allein eine wiederholte Tätigkeit an sich, sondern, so Lewin, die »Wiederholung im psychologischen Sinne«, das Gefühl des »Auf der Stelle Tretens«.

Lewin und Karsten erkannten ein Ambivalenz-Phänomen, das sich bei fast allen Burn-out-Betroffenen finden lässt: Gegenüber der eigenen Arbeit aufkommende Gefühle der Aversion stehen im inneren Widerstreit zu einem gegenläufigen Wunsch, die aufgetragene Arbeit doch irgendwie zu schaffen, weil ein Scheitern oder Aufgeben »den Charakter eines Unterliegens« hätte211, also als eine persönliche Niederlage empfunden würde. Dies bedeutet: Die in den Betroffenen aufsteigende Abneigung (»Sättigung«) gegenüber ihrer Arbeit entspricht nicht einer Laune, sondern produziert einen inneren Konflikt zwischen Pflichtgefühl und »Nicht mehr Können«.

Dies entspricht der jahrelangen Beobachtung all derer, die sich beruflich tatsächlich mit Burn-out-Betroffenen befasst haben und widerspricht der Auffassung, beim Burn-out-Syndrom handle es sich um eine Laune arbeitsunlustiger Personen ohne Anstrengungsbereitschaft oder kurzerhand um Menschen mit Depression.

Menschen versuchen in der Regel, ihre Arbeit auch unter Stress irgendwie durchzuhalten. So beobachteten Lewin und Karsten bei Personen, die monotone Aufgaben zu erledigen hatten, dass sie versuchten, in Eigeninitiative die Handlungsabläufe etwas zu variieren, um länger durchhalten zu können. Dies half jedoch nur vorübergehend. In einer sich daran anschließenden Phase kam es dann zu einem vermehrten Auftreten von Fehlern. Schließlich versuchten die Betroffenen, »auf irgendeine Weise aus dem Felde zu gehen und die [ihnen durch die Arbeitsanweisung gesetzte] Barriere … zu durchbrechen«, wobei es dann zu »Affektentladungen«212 gekommen sei: Die Betroffenen brachen entweder emotional zusammen oder revoltierten.