Die Lebensverhältnisse arbeitender Menschen im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Die Lebensverhältnisse der neu entstandenen, bereits Mitte des 19. Jahrhunderts viele Hunderttausende umfassenden und wenig später in die Millionen gehenden Arbeiterschaft waren miserabel. In den Städten lebten vielköpfige Familien in Ein-Zimmer-Wohnungen mit Etagenklo, die Löhne deckten kaum das Existenzminimum. Frauen arbeiteten, verdienten aber nur die Hälfte dessen, was Männer ausbezahlt bekamen.
In ganz Deutschland verbreitet war zudem die Kinderarbeit. Dass ein Erlass, der 1939 in Preußen die Arbeit für Kinder unter neun Jahren verbot, als Fortschritt angesehen wurde, verdeutlicht die seinerzeitigen Standards. Tägliche Arbeitszeiten zwischen zwölf und 16 Stunden sowie Wochenarbeitszeiten von bis zu über 80 Stunden waren bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die Norm. Wiederholte, überwiegend durch Missernten verursachte Agrarkrisen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verursachten Hungersnöte. Eine schwere Agrarkrise 1846/1847 war einer der Auslöser für die als Deutsche Revolution in die Geschichte eingegangenen Aufstände von 1848/1849. Konjunkturkrisen – zwischen 1857 und 1859 kam es zur ersten Weltwirtschaftskrise der Neuzeit – führten jeweils zu vermehrter Arbeitslosigkeit und verschärften die Not.
Die Folge unter den einfachen Erwerbstätigen des 19. Jahrhunderts waren Auswanderung in Millionenstärke, Aufstände, Streiks und eine immer mächtiger werdende Arbeiterbewegung. Die von Adel, Bürger- und Unternehmertum gestellten Regierungen der deutschen Länder reagierten ausschließlich mit militärischer und polizeilicher Härte. Später wurde – unter dem Einfluss Bismarcks – eine Doppelstrategie aus Repression und sozialpolitischen Minimalmaßnahmen eingeschlagen. Einerseits versuchte Preußen, mit den 1878 erlassenen Sozialistengesetzen die Arbeiterbewegung zu stoppen. Andrerseits wurde im Deutschen Reich 1883 erstmals eine allgemeine Krankenversicherung, 1884 eine Unfallversicherung und wenig später die Rentenversicherung eingeführt. Letztere betraf damals nur die wenigen Menschen, die das Rentenalter tatsächlich erreichten283. Erst ab etwa 1870 begann sich die Situation der einfachen Erwerbstätigen – vor allem unter dem Druck der Arbeiterbewegungen – etwas zu bessern. Die täglichen bzw. wöchentlichen Arbeitszeiten wurden zurückgeführt, Anfang des 20. Jahrhunderts betrugen die wöchentliche Arbeitszeit etwa 55 Stunden. Erst der Zusammenbruch des Kaiserreichs am Ende des verlorenen Ersten Weltkrieges ermöglichte den Übergang Deutschlands in eine erste, wenn auch instabile und nur kurz währende demokratische Phase.