57

In der Eichenwaldstraße passierten sie den gesuchten roten Opel Vectra, der am Straßenrand parkte. Vor dem Haus, in dem sich Annes Wohnung befand, standen zwei Kollegen neben ihrem Streifenwagen. Der Anblick ließ Martin frösteln.
Carsten war sofort aus dem Auto gesprungen und auf die Beamten zugelaufen. Martin beeilte sich hinterherzukommen.
»Die Leiche ist da im Wagen«, hörte er den Beamten gerade noch sagen und auf ein in einiger Entfernung parkendes Fahrzeug deuten.
»Du bleibst hier stehen!«, sagte Martin zu Carsten in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Er selbst ging mit Dieter langsam auf den Wagen zu und blickte hinein.
»O nein!«, rief Dieter, als er erkannte, wer da am Steuer saß. Er drehte sich um, schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
Auch Martin erkannte die Frau, der offensichtlich jemand die Kehle durchgeschnitten hatte. Es war Tanja Lindner, die Kollegin, die zur Observation von Annes Wohnung eingeteilt worden war. Er wandte sich zu Carsten um, der ihm bereits kreidebleich entgegenkam.
»Es ist nicht Anne! Es ist Tanja Lindner.« Martin fuhr sich durch die Haare und stöhnte. »Die Arme!«
»Das bedeutet, dass die Hansen hier war«, sagte Carsten.
»Und dass sie Tanja umgebracht hat, weil die Anne gesehen hat. Sonst wäre das nicht nötig gewesen«, folgerte Martin, der sich bemühte, seine Gedanken zu ordnen.
»Ja, oder dass sie sie gar nicht erst sehen sollte.« Auch Carsten gewann seine Fassung wieder.
»Dann muss sie noch irgendwo hier sein.«
»Davon können wir ausgehen, denke ich.«
»Der gemietete rote Opel steht ja auch noch da vorn.«
Carsten lief auf Annes Haus zu. Martin folgte ihm, winkte seine Männer heran und instruierte die beiden Beamten am Streifenwagen. Dann zog er seine Waffe. Während sie den Hausflur betraten, bedeutete er ihnen mit dem Finger auf den Lippen, dass sie leise sein sollten. Vorsichtig schloss Martin die Wohnungstür auf. Lautlos verständigten sie sich, wer welches Zimmer sichern sollte. Es dauerte nicht lange, bis sie festgestellt hatten, dass sich keine der beiden Frauen hier befand.
»Verflucht!«, rief Carsten. »Wo ist sie nur?« So verzweifelt hatte Martin seinen Freund noch nie gesehen.
»Sie muss in der Nähe sein.« Martin war sich ganz sicher. »Wir müssen Verstärkung anfordern und das ganze Gebiet durchsuchen.« Mit einem Kopfnicken gab er Dieter zu verstehen, dass er das erledigen sollte. »Wir finden sie«, versuchte Martin Carsten zu trösten.
»Ja, früher oder später. Lebendig oder tot.«
Martin sah den feuchten Schimmer in den Augen des Freundes, und seine Verzweiflung berührte ihn zutiefst.
»Vielleicht hat die Hansen das Handy von Frau Milster noch bei sich«, sagte Paul plötzlich. »Dann könnten wir sie womöglich orten.«
»Das ist eine Idee. Los!«
Als die drei Männer die Haustür hinter sich schließen wollten, blieb Martin abrupt stehen.
»Was ist?«, wollte Carsten wissen.
»Sch!« Martin lauschte in die Stille. »Hört ihr das auch?«
»Was?« Paul schüttelte den Kopf.
»Da rauscht was«, sagte Carsten.
»Genau!«
»Vielleicht die Heizung im Keller?«, mutmaßte Paul.
»Nein, nein. Das Geräusch kommt nicht aus dem Keller.« Martin ging einige Schritte zurück in den Hausflur. »Es kommt aus dieser Wohnung.« Er legte sein Ohr an das Türblatt zu Daniela Böhmers Wohnung und lauschte. Carsten tat es ihm gleich.
»Aber die ist doch leer«, sagte Paul.
»Eben!«
»Was ist das also für ein Geräusch?«
»Hört sich an wie Wasserrauschen.«
»Vielleicht gibt’s einen unbemerkten Rohrbruch.« Paul versuchte immer noch, eine ganz logische Erklärung zu finden.
»Nein!«, flüsterte Carsten. »Hast du das gehört, Martin? Das klang wie ein kräftiges, unregelmäßiges Plätschern.«
Die beiden Männer sahen sich an und verstanden sich ohne Worte. Sie traten einen Schritt von der Tür weg und Martin zog zum zweiten Mal an diesem Tag seine Pistole.
»Langsam reicht’s mir mit der Rumknallerei«, murmelte er.
Nachdem er die Waffe abgefeuert hatte, warf er sich gegen die Tür und stürmte in die Wohnung, dicht gefolgt von Carsten und Paul. Im Flur lauschten sie in die Stille. Das Rauschen war verstummt. Wieder verteilten sich die Männer und sicherten nacheinander alle Zimmer. Carsten hatte das Gefühl, sich kaum bewegen zu können. Seine Beine waren schwer wie Blei. Er hatte Angst vor dem, was er unter Umständen gleich zu sehen bekommen würde. Es kam ihm vor, als hätte er noch nie im Leben so große Angst gehabt.
Martin stand inzwischen vor der Badezimmertür. Sie war nur angelehnt. Martin trat sie auf und blickte im selben Moment auf Barbara Hansen. Sie kniete vor der Badewanne, die randvoll mit Wasser gefüllt war und in der ihr nacktes Opfer lag. Mit der einen Hand hielt sie Annes Kopf über Wasser, mit der anderen eine Pistole an ihre Schläfe. Auf dem Wannenrand lag ein Messer griffbereit.
»Da sind Sie ja, Herr Kommissar.« Ihr eiskaltes Lächeln traf ihn. »Gerade noch rechtzeitig, um diesem Ereignis beizuwohnen. Ich habe mich schon gefragt, wo Sie bleiben.«
Carsten und Paul erschienen im Türrahmen. Carsten blieb wie angewurzelt stehen und blickte auf Anne, die ihn angsterfüllt ansah. Ihr Mund war mit Klebeband verschlossen. Auch die Hände und Füße waren damit gefesselt. Sie so zu sehen, zerriss ihm fast das Herz.
»Oh! Sie haben Gäste mitgebracht.«
»Lassen Sie Anne los!«, befahl Martin in ruhigem Ton. Er zielte mit seiner Pistole auf die Psychologin. Dabei versuchte er, die Situation einzuschätzen. Hätte Barbara noch genug Zeit ihre Waffe abzufeuern, wenn er schießen würde?
»Wenn ich sie loslasse, ertrinkt sie. Außerdem wissen Sie doch, dass ich erst zufrieden bin, wenn ich Dinge erledigt habe. Und das hier ist noch nicht erledigt.« Sie funkelte ihn an. »Also, Waffen runter, sonst spritzt hier gleich Gehirnmasse auf die Fliesen. Schieben Sie die Dinger auf dem Boden zu mir rüber. Aber hübsch langsam und nacheinander.«
»Barbara, legen Sie die Waffe weg. Sie haben keine Chance. Es ist zu Ende.«
»Sagen Sie mir nicht, wann es zu Ende ist!«, schrie sie ihn hysterisch an, sodass er befürchtete, sie könne Anne jeden Moment umbringen.
»Schon gut, schon gut«, sagte Martin beschwichtigend, legte seine Waffe auf den Boden und gab ihr einen Schubs, sodass sie bis zu ihr hinüberrutschte.
Bevor Carsten seine Waffe ablegte, wagte auch er noch einen Versuch. »Warum wollen Sie Anne umbringen? Sie ist mit mir zusammen und hat niemandem etwas getan.«
»Niemandem etwas getan«, wiederholte sie höhnisch lachend. »Das ich nicht lache. Haben Sie vergessen, dass die Schlampe einen verheirateten Mann verführt hat und ihn wochenlang benutzt hat? Und warum? Nur wegen eines anständigen Ficks! Fast wäre seine Ehe daran zerbrochen.«
»Ist sie aber nicht. Und Anne hat das Verhältnis beendet, weil sie wusste, dass es nicht richtig war.«
»Ja«, nickte Barbara eifrig. »Aber erst, nachdem ich ihr mehrfach gedroht hatte. Nach jedem Brief hat sie sich sofort wieder mit ihm getroffen. Das habe ich als äußerst provozierend empfunden. Und dann ist sie noch zur Polizei gelaufen, obwohl ich es ihr verboten hatte. Das war ein bisschen zu viel des Guten, mein Lieber. Jetzt wird sie dafür bezahlen.«
Carsten zögerte immer noch, seine Waffe abzulegen.
»Vergiss es!«, sagte Barbara, seine Gedanken erahnend. »Denk nicht mal daran.«
Carsten reagierte nicht.
»Ich zähle bis drei. Liegt deine Knarre dann nicht am Boden, ist deine Herzallerliebste tot.«
»Du willst sie doch sowieso umbringen, also warum sollte ich dir meine Waffe geben? Wenn Anne stirbt, stirbst du auch.«
Carsten ignorierte einen Blick von Martin, der ihn zur Mäßigung mahnen wollte.
»Das Risiko gehe ich ein. Eins … zwei …«
Erst im letzten Moment legte Carsten seine Waffe ab und schob sie zu ihr rüber. Er ballte die Fäuste, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Es musste doch noch eine andere Möglichkeit geben, diese Frau aufzuhalten. Wo, zum Henker, blieben denn die Kollegen, die vor der Tür warteten? Hatten sie den Schuss nicht gehört?
»Jetzt du«, forderte Barbara Paul auf, der sofort folgte.
Als alle Waffen vor ihr lagen, ließ sie Anne los und richtete sich auf. Carsten sah gerade noch, wie Anne unter die Wasseroberfläche sank und wild zu zappeln begann. Sie versuchte sich immer wieder mit den Füßen am Wannenende abzudrücken, um über Wasser zu kommen. Ihr panischer Ausdruck in den Augen und ihr stummer Hilfeschrei fuhren ihm bis ins Mark. Dann richtete Barbara ohne Vorwarnung die Waffe auf Carsten und schoss. Er sank zu Boden.
»Carsten!«, schrie Martin und beugte sich sofort zu ihm hinunter.
»Lassen Sie ihn!«, befahl Barbara mit immer noch erhobener Waffe.
Paul glaubte sich unbeobachtet und machte einen Schritt in Richtung Badewanne. Er konnte Anne nicht so elend sterben lassen.
»Halt! Bleiben Sie, wo Sie sind«, fuhr Barbara ihn an und zielte auf ihn. »Oder die nächste Kugel ist für Sie!«
Paul blieb stehen. »Sie wird ertrinken!«, rief er, ohne den Blick von Anne zu lassen.
»Das ist auch so beabsichtigt. Also, verhalt dich ruhig und versau mir nicht die Party.«
»Wollen Sie uns jetzt alle abknallen?«, brüllte Martin sie an, während er, ungeachtete ihrer Aufforderung, neben Carsten kniete und versuchte, die Blutung zu stillen.
»Nein, nicht alle. Aber die, die den Mund zu voll nehmen. Außerdem kann ich so die Übersicht besser behalten.«
»Sie sind ja total irre!«, rutschte es Martin heraus.
»Irre?« Barbara richtete die Waffe und ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Ihre Augen glitzerten gefährlich.
Paul sah seine Chance gekommen. Er machte einen schnellen Satz nach vorn, trat ihr die Waffe aus der Hand und stürzte sich auf sie. Martin kam ihm sofort zur Hilfe, sodass Barbara trotz ihrer Kampfkünste keine Chance mehr hatte und nach wenigen Augenblicken überwältigt auf dem Bauch am Boden lag. In diesem Augenblick kam Dieter mit einem Kollegen von draußen herein.
»Was ist denn hier los?«, fragte er, sich erschrocken umblickend.
»Frag nicht lange«, entgegnete Martin. »Gebt mir lieber Handschellen«, forderte er die Kollegen auf. »Dann verfrachtet dieses Miststück nach draußen. Aber Vorsicht, sie ist äußerst gefährlich!«
Währenddessen hatte Paul endlich Anne aus dem eiskalten Wasser gehoben. Sie war ziemlich geschwächt und zitterte am ganzen Körper. Als ihr Blick auf Carsten fiel, stöhnte sie und wurde ohnmächtig. Paul legte sie in die stabile Seitenlage und befreite sie von ihren Fesseln.
Martin richtete sich auf. Barbara Hansen. Da lag sie vor ihm. Gefesselt und wehrlos. Die Frau, die so eiskalt war wie der Fliesenboden unter ihr. Die Frau, die Martin so lange in Atem gehalten hatte. Die Frau, die fünf Menschen das Leben genommen hatte, seine Nerven strapaziert und ihn an seinen Fähigkeiten hatte zweifeln lassen. Martin half ihr aufzustehen. Sie lächelte ihn überlegen an. Eine Mörderin ohne Schuldbewusstsein und Reue, dachte er. Eine, der es scheinbar egal zu sein schien, dass sie nun gefasst war und ins Gefängnis kommen würde. Er erinnerte sich, was sie ihm über den Serienmörder, über sich, gesagt hatte: »Solche Täter wollen eigentlich, dass man weiß, wer sie sind.« Sicher war sie stolz auf ihre Taten.
»Sie glauben, Sie haben gewonnen?«, fragte sie und schüttelte den Kopf. »Haben Sie nicht. Sie konnten, außer dieser kleinen Schlampe da«, sie nickte in Annes Richtung, »keine der anderen Frauen retten. Und die da hat auch ihre Strafe bekommen, wenn ich mir ihren Freund so ansehe.«
Martin ließ seine Augen zu Carsten hinüberwandern. Dann schlug er Barbara Hansen mit der Faust mitten ins Gesicht. Der Schlag traf sie völlig unvorbereitet, sodass sie taumelte, erneut zu Boden ging und ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Ungläubigkeit ansah.
»Bringt das Psychomonster raus«, forderte er die Kollegen auf. Dann griff er zum Handy und rief endlich zwei Krankenwagen.
»Ist sie verletzt?«, fragte er Paul, der Anne in ein großes Handtuch wickelte, dass er aus einem Regal genommen hatte.
»Nein, auf den ersten Blick nicht, aber sie ist total unterkühlt. Ich hole Decken.«
Martin nickte und kniete sich neben Carsten, der nur noch schwach atmete. Die Kugel war auf der rechten Seite in seinen Brustkorb eingedrungen. Martin bettete Carstens Kopf in seinen Schoß und drückte seine Hand auf die Wunde.
Er fühlte sich absolut hilflos, als Carsten das Bewusstsein verlor, und Tränen der Trauer und der Wut bahnten sich ihren Weg.