34

Anne hatte beschlossen, gleich am Nachmittag zur Polizei zu gehen. Je eher sie das hinter sich brachte, umso besser.
Gegen drei Uhr verließ sie trotz der Proteste ihres Chefs das Büro. Zunächst lief sie mit Sunny ein Stück durch den nahegelegenen Park. Für Mitte Oktober war es schon ziemlich kühl. Die Blätter fegten über die Wege, und der Hund jagte ihnen über die Wiese nach. Anne hingegen wurde mit jedem Schritt unruhiger, und so brachte sie Sunny nach Hause und wollte die anonymen Briefe einstecken. Aber sie fand lediglich den letzten. Das war doch nicht möglich. Sie wusste genau, dass sie die beiden anderen auf der Ablage unter dem kleinen Tisch vom Aquarium gelassen hatte. Natürlich! Daniela musste sie an sich genommen haben, als sie in ihrer Wohnung war. Ärgerlich! Warum hatte sie sie nicht besser weggelegt? Jetzt hatte sie nur den einen Brief in der Hand. Was soll’s, sie musste los. Sie würde der Polizei ja genau sagen können, was in den anderen gestanden hatte.
Auf dem Weg sah sie immer wieder in den Rückspiegel, um irgendeinen Verfolger ausmachen zu können. Obwohl ihr nichts Verdächtiges auffiel, fuhr sie mehrere Umwege, bis sie sicher glaubte, unbeobachtet zu sein.
Am Eingang der Polizeistation fragte sie nach dem zuständigen Beamten.
»Zimmer 304, Herr Dauscher«, hieß es.
Sie nahm den Aufzug und klopfte kurz darauf an die angegebene Tür.
Eine dunkle Stimme rief: »Herein!«
»Guten Tag!« Anne trat ein und schloss die Tür hinter sich. Das Zimmer war klein, und es roch nach abgestandenem Zigarettenqualm. Ein wuchtiger Mann, Anfang fünfzig, saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem sich Akten und Papiere stapelten.
»Mein Name ist Anne Degener. Ich möchte eine Anzeige machen«, sagte sie fest.
»Setzen Sie sich. Worum geht es?«
»Ich habe in der letzten Zeit drei anonyme Briefe bekommen.«
»Wo sind sie?« Dauscher streckte die Hand aus und Anne reichte ihm den dritten Brief.
»Die beiden ersten sind verschwunden.«
Herr Dauscher krauste die Stirn, und Anne berichtete von dem Inhalt der beiden ersten Briefe, dem Einbruch, den vergifteten Fischen und von Daniela.
»Junge Dame«, sagte er, nachdem sie geendet hatte, und lehnte sich zurück. »Das ist ja alles schön und gut, aber was soll ich da tun?«
»Sie sollten meine Nachbarin überprüfen, denke ich. Aber eigentlich sollten Sie doch wissen, was in so einem Fall zu tun ist.«
»Sie erzählen mir von Briefen, die Sie nicht haben, von einer Nachbarin, der Sie selbst einen Schlüssel gegeben haben und die für einen anderen einen Brief abgelegt hat. Sie reden von Fischvergiftung und haben sämtliche Spuren, sofern es welche gegeben hätte, bereits gründlich beseitigt. Die Fische könnten doch tatsächlich an einer Krankheit gestorben sein.«
Sie unterbrach ihn. »Haben Sie den dritten Brief nicht gelesen? Da steht doch deutlich, dass er sich mit den Fischen beschäftigt hat, um mich zu schocken.«
»Das kann man auslegen, wie man will. Lassen Sie mich Ihnen einen guten Rat geben. Vergessen Sie die Sache. Wenn Sie, wie Sie sagen, den Herrn nicht mehr treffen, werden ja auch diese Briefe aufhören.«
»Dieser Jemand weiß aber vielleicht nicht, dass ich die Beziehung beendet habe. Was, wenn etwas Schlimmeres passiert?«
»Dann werden wir weitersehen.« Für ihn war der Fall offensichtlich erledigt, denn er wandte den Blick ab.
Anne sprang auf und stützte sich mit den Fäusten auf der Schreibtischkante ab. »Das kann ja wohl nicht wahr sein. Verstehen Sie denn nicht, was bei mir passiert? Ich werde offensichtlich beobachtet. Man dringt in meine Wohnung ein, schreibt mir Drohbriefe. Mit einem bisschen guten Willen könnten Sie sich vielleicht in meine Lage versetzen. Ich habe Angst.« Sie starrte ihn zornig an.
»Ich bin Polizist und nehme meine Arbeit sehr ernst. Denken Sie etwa, Sie sind hier der einzige Fall? Ihre Sache ist eher eine Lappalie, glauben Sie mir.«
»Sie spielen sich hier ganz schön auf. Von wegen: die Polizei, dein Freund und Helfer. Sie interessiert es doch kein bisschen. Sie haben ja nicht mal nach Einzelheiten gefragt. Sie sind das Paradebeispiel eines faulen Beamten.«
»Jetzt passen Sie aber auf, was Sie sagen«, warnte er. »Sie ahnen ja nicht, was für Geschichten ich täglich zu hören bekomme. Da werden unbedeutende Kleinigkeiten zu riesenhaften Problemen hochstilisiert. Ich kann Ihnen nur raten, sich mit etwas Positivem zu beschäftigen. Das ist das beste Mittel gegen Angst.« Er verzog den Mund zu einem schmallippigen Lächeln und sah sie geringschätzig an.
»Sie werden also nichts unternehmen!« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Anne warf ihm einen letzten vernichtenden Blick zu, griff nach ihrem Brief und wandte sich ab. Mit lautem Türknallen verließ sie den Raum. Fluchend lief sie den Flur entlang, an den Aufzügen vorüber. Sie wollte nur noch weg hier, bloß nicht stehenbleiben.
»Mistkerl!«, rief sie laut, bevor sie schwungvoll um die Ecke schoss, hinter der die Treppen waren. Im nächsten Augenblick stieß sie mit einem Mann zusammen, der einen Kaffeebecher balancierte. Die Akten, die er unter dem Arm trug, knallten auf den Boden, einzelne Blätter flogen durch die Luft, und sein Kaffee schwappte auf seine Hand und sein Hemd. Auch Anne ließ ihren Brief fallen und stolperte rückwärts, kam aber ebenfalls nicht ganz fleckenfrei davon.
»Scheiße, ist das heiß!«, fluchte der Mann und ließ den Plastikbecher fallen. Der Rest des Getränks ergoss sich über die Unterlagen.
»Können Sie nicht aufpassen?«, fuhr Anne ihn wütend an. »Müssen Sie hier so herumschleichen? Fast hätten Sie mich verbrüht.« Sie besah sich ihren Blazer. »Sehen Sie sich die Schweinerei an. Meine Jacke ist total bespritzt.«
»Augenblick mal!«, sagte der Mann kopfschüttelnd. »Erstens bin ich hier nicht herumgeschlichen, vielmehr haben Sie mich Mistkerl genannt, sind um die Ecke geschossen und haben mich über den Haufen gerannt. Zweitens haben Sie mich verbrüht und nicht ich Sie.«
»Der ›Mistkerl‹ galt nicht Ihnen. Und dass Sie sich verbrüht haben, dafür kann ich doch nichts. Sie müssen ja keinen Kaffee durch die Gegend tragen. Typisch Beamter! Das passt hervorragend in mein Bild, das ich gerade von Ihrem Laden bekommen habe.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Kaffeetrinkende, aktenherumschleppende Beamte, die die Zeit totschlagen. Und alles auf Kosten der Bürger.«
»Wow! Tolles Statement!« Er nickte anerkennend und betrachtete Anne. Ihre braunen Augen blitzten ihn an, und er begann zu lächeln.
»Sie scheinen das Ganze ja sehr amüsant zu finden.«
»Im Grunde nicht. Ich dachte nur gerade, dass Ihnen wohl eine ganz dicke Laus über die Leber gelaufen sein muss, wenn Sie mich so angiften.«
»Nein! Keine dicke Laus, eher ein dicker Kollege von Ihnen. Aber das kommt so ziemlich aufs Gleiche raus.«
Carsten Westphal grinste. »Lassen Sie mich raten. Sie kamen von da hinten.« Er blickte den Flur entlang. »Dann ist die dicke Laus sicher Ludwig Dauscher, stimmt’s?«
»Exakt!« Anne machte einen großen Bogen um die verstreuten Unterlagen und wollte gehen.
»He! Moment mal! Wollen Sie mich mit dem ganzen Chaos hier allein lassen?«
»Ja, das will ich.« Damit lief sie die Treppen hinunter.
Carsten blickte ihr hinterher. Schade, dachte er, so eine hübsche Person, aber so was von zickig. Er machte sich daran, die Papiere aufzusammeln. Plötzlich hielt er Annes Brief in den Händen. Er las und sah nachdenklich in die Richtung, in die sie verschwunden war. Dann warf er den Becher in den Mülleimer, ging in sein Büro und legte die Akten ab. Annes Brief faltete er zusammen und steckte ihn vorerst in seine Hosentasche. Anschließend lief er zum Ausgang. Dort sagte er der Zentrale, dass er kurz nach Hause müsse, um sich umzuziehen.
Auf dem Parkplatz sah Carsten Anne gegen einen Wagen gelehnt stehen. Sie starrte vor sich hin. Carsten ging langsam auf sie zu. Erst als er direkt vor ihr stand, bemerkte sie ihn und richtete sich erschrocken auf. Er sah den feuchten Schimmer in ihren Augen.
»Geht es Ihnen gut?« Seine warme, sonore Stimme klang freundlich.
»Ja. Ich brauchte nur ein bisschen frische Luft, bevor ich zur Arbeit zurückgehe.« Sie wandte sich ab und öffnete die Autotür, um einzusteigen.
»Moment mal, laufen Sie doch nicht immer weg.«
Anne blickte ihn über die Schulter hinweg an. »Wollen Sie mich in Handschellen legen und mich dann zum Kaffeewischen und Aufräumen schleifen?«, fragte sie spöttisch.
»Nein! Ich wollte Ihnen nur etwas wiedergeben, das Sie bei unserem Zusammenstoß verloren haben. Es gehört doch Ihnen?« Er zog den Brief heraus und hielt ihn ihr hin.
»Ja.« Sie wandte sich ihm zu. »Das ist meiner, aber ich brauche ihn nicht mehr. Sie können ihn gern in den Mülleimer werfen.«
»Kein Problem. Ich habe ja jetzt Erfahrung im Beseitigen von Schweinereien. Also, schaffe ich das auch noch.« Er drehte sich zum Gehen um.
»Warten Sie!«, rief Anne. »Ich war eben ganz schön eklig zu Ihnen. Ich habe meine ganze Wut an Ihnen ausgelassen.«
»Ich liebe es, auf Klischees reduziert zu werden. Also, ist schon okay.«
»Nein, ist es nicht.« Sie sah zu ihm auf. Er war mindestens einen halben Kopf größer.
»Stimmt. Sie haben meinen ganzen Tagesablauf durcheinandergebracht. Meinen Beamtenkaffee haben meine Akten und mein Hemd aufgesaugt, und ich weiß nicht, wie ich ohne ihn weiter Unterlagen spazierentragen kann.«
Anne erwiderte sein Lächeln. »Kann ich das irgendwie wiedergutmachen? Vielleicht kann ich Ihnen die Reinigung des Hemds bezahlen.«
»Nein, aber Sie könnten mich zum Kaffee einladen«, antwortete Carsten ganz spontan.
Anne zögerte einen Moment. Eigentlich müsste sie zurück ins Büro, aber sie fühlte sich der Arbeit noch überhaupt nicht gewachsen. »Gut«, sagte sie deshalb. »Aber nicht aus Plastikbechern. Oder sind Sie das so gewohnt?«
»Nein!« Er lachte. »Tassen sind mir in der Regel lieber.«
»Wollen wir ins Café Lindner gehen? Das ist doch gleich hier vorn auf der Ecke«, schlug sie vor.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mir vorher gern ein frisches Hemd zu Hause holen.«
»Natürlich!« Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.
»In meiner Nähe gibt’s auch ein ganz nettes, kleines Café. Wir könnten mit meinem Wagen fahren, und ich setze Sie anschließend wieder hier ab.«
»Einverstanden!« Sie hielt ihren Autoschlüssel in Richtung Wagen, drückte die Fernbedienung für die Zentralverriegelung und folgte ihm zu seinem schwarzen BMW.
Zwanzig Minuten später saßen sie sich im Café Fobes an einem sehr kleinen Tisch in einer gemütlichen Ecke gegenüber. Während der Fahrt hatten sie sich einander vorgestellt, und Anne hatte ihn interessiert gemustert. Carsten war ein sportlicher, großer Mann, Anfang dreißig, sein dunkelblondes, dichtes Haar trug er kurz geschnitten.
»Sie sind mutig, sich mit mir in einem hellen Hemd an einen Tisch zu setzen.«
»Ich hatte gehofft, dass Sie heute keinen Wutausbruch mehr bekommen, und dachte deshalb, ich könnte es riskieren.«
»Ihre Hoffnung ist wohl berechtigt. Ich glaube, für heute ist mein Wutpotenzial erschöpft.«
Als er Milch in seinen Kaffee rührte, fielen Anne seine großen, schlanken Hände auf. Sie lächelte vor sich hin.
»Es ist schön, Sie lächeln zu sehen. Ihre explosive Seite hat zwar auch ihren Reiz, aber so gefallen Sie mir doch besser.«
»Normalerweise raste ich nicht so aus«, sagte sie entschuldigend.
»Ich sehe das eher positiv. Hätten Sie nicht so reagiert, würden wir jetzt hier nicht zusammensitzen.«
»Ja, das stimmt! Mir gefällt es hier auch viel besser als in meinem Büro.«
Nach einer Weile zog Carsten ein Papier aus seiner Hosentasche. Es war Annes Brief. »War das der Grund für Ihren Besuch beim dicken Ludwig?« Seine klugen, blauen Augen sahen sie neugierig an.
»Ja.«
»Und warum waren Sie so wütend?«
»Weil Ihr Kollege nichts unternehmen wollte.« Sie sprach ganz ruhig. Alle Anspannung und Wut waren verpufft.
»Wollen Sie mir noch einmal erzählen, worum es geht?«
»Das ist aber eine lange Geschichte«, wehrte sie ab.
»Umso länger kann ich hier mit Ihnen sitzen«, gab er scherzhaft zurück, um gleich darauf wieder ernst zu werden. »Erzählen Sie nur, wenn Sie möchten. Ich bin ein guter Zuhörer.«
Das glaubte sie ihm aufs Wort. Sein Gesicht strahlte Ruhe aus, und das bewirkte, dass sie sich in seiner Nähe sicher fühlte. So begann sie, ihm ausführlich alles zu berichten, von Anfang an. Er ließ sie reden und unterbrach sie nur manchmal, um eine Frage zu stellen. Als sie geendet hatte, sah sie nicht sehr glücklich aus.
»Ich wundere mich, dass ich Ihnen das alles so erzählt habe. Ich kenne Sie doch überhaupt nicht.« Unsicher blickte sie ihn an.
»Geht es Ihnen jetzt nicht besser? Es tut doch gut, mal alles loszuwerden.«
»Schon, aber gleichzeitig fühle ich mich ziemlich dumm. Sie müssen doch denken, dass ich verrückt bin, auf so eine Wette einzugehen.« Sie sah zerknirscht aus.
»Nein, Sie sind bestimmt nicht verrückt. Ich denke, dass Sie durch weibliche Neugier in eine Sache geschlittert sind, deren Folgen Sie nicht absehen konnten. Denn die Geschichte ist in der Tat außergewöhnlich.« Er nippte an seinem Kaffee und fragte dann: »Was haben Sie von meinem Kollegen erwartet?«
»Die Frage ist: Was konnte ich erwarten? Was hätten Sie mir an seiner Stelle gesagt?« Erwartungsvoll blickte sie ihn an, mit einem Blick, der ihn fesselte. Am liebsten hätte er geantwortet, dass er froh sei, dass ihr das passiert war, denn sonst hätten sie sich nicht kennengelernt.
»Sie müssen wissen«, sagte er stattdessen, »Herr Dauscher ist ein sehr konservativer Mensch. Wenn er hört, dass eine Frau ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann hat, ist sie bei ihm gleich unten durch.«
»Sollte ein Polizist nicht vorurteilsfrei sein?«
»Sicherlich, aber auch wir sind nur Menschen.«
»Und was sind Sie für ein Mensch?«
»Einer, der Ihnen gern helfen würde, wenn er könnte.«
»Das ist nett!« Sie bedankte sich mit einem Lächeln. »Und was könnte man tun?«
»Leider haben Sie nicht allzu viel vorzuweisen. Man könnte natürlich den Brief auf Fingerabdrücke untersuchen und Ihre Nachbarin befragen. Sie würde uns wahrscheinlich nichts anderes erzählen als Ihnen.«
»Sie klingen nicht so, als hätte das sehr viel Sinn.«
»Das will ich nicht sagen. Man muss im Grunde alles versuchen, aber ob es viel bringt, sei dahingestellt.« Sie sah die Skepsis in seinem Blick und nickte.
»Und ich sollte wohl einfach abwarten?«
»Sie könnten schon etwas tun. Ich würde das Türschloss austauschen. Zwar haben Sie Ihren Schlüssel jetzt wieder, aber wissen Sie, ob es mittlerweile nicht einen Zweitschlüssel gibt? Außerdem wäre es sinnvoll Ihren Freund, wie war noch sein Name … Mark?«, Anne nickte, »also, ihn einzuweihen, um aus seiner Sicht zu klären, wer als Briefeschreiber infrage kommt.«
»Nein, auf keinen Fall! Im Augenblick will ich keinen Kontakt zu ihm aufnehmen. Ich hätte Angst, dass mein Verfolger das mitbekommt, und wer weiß, was dann passieren würde.«
Anne tat Carsten leid. Sein Beschützerinstinkt regte sich, und am liebsten hätte er ihre Hand genommen, griff aber nach seiner Tasse.
»Der anonyme Schreiber wollte nicht, dass ich diese Briefe irgendjemandem zeige. Und ich hoffe nur, dass er meinen Gang zur Polizei, der noch dazu völlig überflüssig war, nicht gesehen hat.« Anne konnte nicht länger verbergen, dass sie Angst hatte, wenn sie an die Drohbriefe dachte. »Ständig schaue ich in den Rückspiegel, wenn ich Auto fahre, um einen eventuellen Verfolger auszumachen. Bisher ist mir nie einer aufgefallen. Und trotzdem hat dieser Verrückte immer alles mitbekommen.«
»Sie müssen keine Angst haben«, versuchte Carsten sie zu beruhigen. »Nach allem, was Sie erzählt haben, denke ich, dass der Absender Ruhe geben wird, sobald er merkt, dass Sie sich nicht mehr mit Mark treffen. Inzwischen kann ich aber auf jeden Fall den Brief untersuchen lassen, und Sie sollten sich überlegen, ob Sie nicht doch mit Mark darüber sprechen wollen. Sie können ihn ja anrufen.«
»Was, wenn mein Telefon abgehört wird?«
»So einfach ist das alles nicht.«
»Aber immerhin war jemand in meiner Wohnung«, gab sie zu bedenken.
»Ja, das stimmt. Wenn es Sie beruhigt, kann man Ihre Wohnung auf Abhörvorrichtungen untersuchen.«
»Das würden Sie tun?« Ungläubig sah sie ihn an.
»Sicher, wenn Sie möchten.«
»Es würde mich ziemlich beruhigen, denke ich.«
Er nickte verständnisvoll. »Geben Sie mir Ihre Handynummer. Dann kann ich Sie anrufen, um Bescheid zu sagen, wann jemand deswegen kommt.«
Sie kramte einen Zettel aus ihrer Handtasche und notierte die Nummer.
»Haben Sie noch einen Zettel?«, fragte Carsten. »Ich würde Ihnen gern meine Nummer geben, für den Fall, dass Sie Hilfe brauchen.« Sie reichte ihm einen, und er gab ihn ihr kurz darauf mit den Worten »Sie können mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen« zurück.
»Sie sind sehr nett. Danke!«
Schweigend tranken sie ihren Kaffee aus.
»Wir müssen jetzt leider gehen«, sagte er und blickte auf seine Armbanduhr. »Mein Dienst ist noch lange nicht zu Ende, und ich müsste mich mal wieder um meine Drogendealer kümmern.«
Im Wagen hatte er ihr bereits erzählt, dass er Kommissar beim Drogendezernat war. Jetzt auf der Rückfahrt forderte sie ihn auf, über seine Arbeit zu sprechen, was er bereitwillig tat. Und sie merkte, dass er das verkörperte, was sie sich unter einem guten Polizisten vorgestellt hatte. Er schien Ziele zu haben, die seinen Ehrgeiz beflügelten. Er wirkte selbstbewusst, ohne arrogant zu sein, und dass er hilfsbereit war, hatte sie ja selbst schon zu spüren bekommen. Ein ausgesprochen netter Mensch, befand sie und schämte sich noch immer, ihn so beschimpft zu haben.
Er hielt direkt neben ihrem Wagen und ließ sie aussteigen. »Sie hören von mir, wegen des Briefs und der Wohnung.«
»Danke!« Sie hoffte, dass er sich bald melden würde, damit sie sich zu Hause wieder etwas sicherer fühlen konnte.
Bisher war noch keines ihrer Opfer so dreist gewesen, zur Polizei zu gehen. Zwar wusste sie nicht genau, was Anne dort gemacht hatte, aber es stand zu vermuten, dass sie wegen der Briefe dort gewesen war. Das machte sie wütend, wenngleich die Tatsache, dass die Polizei jetzt mit im Spiel war, eine besondere Herausforderung darstellte, die sie nur zu gerne annahm. Ein Gefühl von Überlegenheit stieg in ihr auf. Sie hatte doch die Situation in der Hand, und sie würde Anne zeigen, wie sträflich ihr Handeln war. Anne würde bekommen, was sie verdiente.