7

Ganz anders erging es Anne. Freudige Erregung hatte sie schon den ganzen Tag erfüllt. Sie hatte sich schlecht auf ihre Arbeit konzentrieren können und war froh, als sie um neunzehn Uhr endlich das Büro verlassen konnte. Schnell fuhr sie nach Hause und zog sich um. Schon am Morgen hatte sie die Sachen für den heutigen Abend zurechtgelegt. Sie wollte nicht zu chic, aber auch nicht zu leger bei Mark erscheinen. Also hatte sie sich für eine enge, verwaschene Jeans und ein ebenso enges gelbes T-Shirt mit Carmen-Ausschnitt entschieden. Ihre Haare ließ sie hochgesteckt und zupfte nur einige Strähnen heraus. Das Make-up wurde dezent erneuert, und dann ging’s los. Kurz darauf stand sie mit dem Buch in der Hand vor Marks Haustür und klingelte entschlossen.
Mark öffnete die Tür nur zwei Sekunden später, als hätte er direkt dahinter gestanden. Er trug eine Lederjacke und hatte einen Helm in der Hand. Enttäuschung machte sich in Anne breit, aber sie ließ sich nichts anmerken.
»Hallo, Mark. Du wunderst dich bestimmt, dass ich heute schon wieder vor der Tür stehe.«
»Allerdings, ich bin etwas überrascht.«
»Ich wollte Saskia ein Buch zurückbringen.«
»Sie ist im Augenblick nicht da.«
»Schade. Wann kommt sie denn?«
»Das wird spät. Dienstags hat sie ihren Sportabend. Schwimmen und Sauna. Vor zwölf ist sie meist nicht zurück. Aber du kannst das Buch trotzdem hierlassen.« Mark lachte sie an.
»Ja, sicher.« Anne reichte es ihm. »Wolltest du gerade los?«, fragte sie, mit einem Nicken des Kopfes auf seinen Helm deutend.
»Nein, ich bin gerade gekommen.« Mit der Hand fuhr Mark sich durch die kurzen Haare, die in alle Richtungen abstanden.
»Ich wusste gar nicht, dass du Motorrad fährst.«
»Nur im Sommer. Da fahre ich abends oft eine Runde. Aber willst du nicht reinkommen?«, fragte er und trat zur Seite.
»Nur, wenn ich dich nicht störe.«
»Keine Spur.«
Sie ging an ihm vorbei ins Haus. Er legte seine Motorradjacke ab und wandte sich ihr zu. Anne musterte ihn von oben bis unten. Sein weißes T-Shirt lag eng am Körper, sodass vor allem die unglaublich muskulösen Arme nicht zu übersehen waren.
»Was schaust du mich so an? Ist was nicht in Ordnung?«, fragte er amüsiert.
»Doch, doch. Ich habe dich nur noch nie in Freizeitkleidung gesehen. Ich kenne dich nur im feinen Anzug.«
»Und?« Er drehte sich langsam vor ihr. »Wie ist dein Eindruck?«
Sie lachte. »Gut! Gefällt mir.«
»Da habe ich ja noch mal Glück gehabt«, sagte er gespielt erleichtert. »Möchtest du was trinken?«
»Gern. Wie wär’s mit Sex on the beach? Daran habe ich die besten Erinnerungen.«
»Bedaure. Aber ich habe keine Ahnung, was in den Drink reingehört. Das ist wohl Paolos Geheimnis.«
»Kein Problem«, winkte sie ab. »Ist wahrscheinlich sowieso keine gute Idee. Ich komme gerade von der Arbeit und hab’ noch nichts gegessen. Was ohne Alkohol wär’ sicher besser.«
»Ich hab’ Eistee da.«
»Okay.«
»Setz dich doch inzwischen«, forderte er sie auf und verschwand in der Küche.
Anne ließ sich in das riesige Wohlfühl-Sofa fallen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
»Müde?«, drang Marks Stimme kurz darauf an ihr Ohr. Er war hinter dem Sofa in die Hocke gegangen. Als sie sich umdrehte, blickte sie direkt in seine unglaublich grünen Augen.
»Entschuldige. Ich bin wirklich etwas müde. Es war ein anstrengender Tag und dieses Sofa hier ist einfach kuschelig.«
»Ganz meiner Meinung.« Er richtete sich auf, kam um das Sofa herum, ließ sich in die Polster fallen und legte einen Arm auf der Lehne hinter ihr ab. Sie tranken schweigend den Eistee.
»Hast du Hunger?«, wollte er wissen.
»Warum?«
»Antwortest du immer mit einer Gegenfrage?« Er schien belustigt.
»Nur manchmal.«
»Na, dann besteht ja noch Hoffnung. Also, Hunger oder nicht?«
»Eigentlich schon, aber ich will dir nicht den Kühlschrank plündern.«
»Nur keine falsche Bescheidenheit. Außerdem droht dem Kühlschrank keine Gefahr. Ich bestelle uns eine Pizza, wenn du Lust hast.«
»Gut, aber ich bezahle.«
»Emanzipation ist ja ganz schön, aber in diesem Falle unangebracht. Du bist eingeladen.« Der Ton duldete keinen Widerspruch, was Anne lächelnd zur Kenntnis nahm.
Keine halbe Stunde später saßen sie auf der Terrasse, aßen und tranken Rotwein.
»Fühlt ihr euch hier nicht immer wie im Urlaub?«, fragte Anne kauend.
»Es ist schon schön hier, klar. Aber es ist wie mit allem: Man gewöhnt sich daran und irgendwann ist es nichts Besonderes mehr.«
»Tatsächlich mit allem? Dann wäre deine Ehe zum Beispiel ja auch schon nichts Besonderes mehr.« Neugierig sah Anne Mark an, und er begann zu lachen.
»Wir sind jetzt seit fünf Jahren verheiratet, und sagen wir mal so: Es ist immer noch okay.«
Hörte sich das nach Ehe-Ermüdungserscheinungen an? Anne fragte weiter: »Ist das nicht ein bisschen wenig: okay?«
»Ich bin glücklich mit Saskia. Für mich gibt’s keine andere Frau, denn im Grunde habe ich alles, was ich brauche. Ich würde mit niemandem tauschen wollen.«
»Das hört sich schon besser an.«
Jetzt hieß es erstmal damit zu beginnen, ein Bedürfnis zu schaffen, um sich später als verlockendes Angebot zu präsentieren.
»Bei euch hat man den Eindruck, ihr führt eine Super-Ehe. Ihr seid sozusagen ein Vorbild. Das lässt auch mich hoffen.«
»Hört sich an, als hältst du nicht allzu viel von der Ehe?«
»Einerseits finde ich es toll, sich für das ganze Leben zu binden, andererseits ist diese Einrichtung wider die Natur des Menschen. Man muss sich eigentlich nicht wundern, dass so viele Beziehungen nach ein paar Jahren auseinander gehen oder die Partner woanders Abwechslung suchen.«
»Es ist alles eine Frage der Einstellung.«
»Was macht ihr, damit es nicht langweilig wird?« Sie beobachtete, wie er überlegte.
»Weißt du, wenn man eine Weile zusammen ist, ist man nicht mehr so aufmerksam wie am Anfang. Aber wenn man sich dessen bewusst wird, kann man was dagegen tun. Das Geheimnis einer guten Beziehung besteht darin, den anderen glücklich zu machen, und das ist meist gar nicht so schwer, wie man denkt. Man darf das nur nicht vergessen.«
»Ist das nicht manchmal anstrengend, immer auf die Bedürfnisse des anderen zu achten oder Rücksicht zu nehmen?«
»Alles Übung. Außerdem haben wir beide unsere Freiheiten und Auszeiten.«
»So wie heute Abend?« Anne neigte leicht den Kopf und lächelte verführerisch.
»So wie heute Abend«, bestätigte Mark.
Anne lag es auf der Zunge zu fragen, ob die Freiheiten auch kleine Seitensprünge beinhalteten. Doch würde er ihr wohl kaum die Wahrheit sagen. Sie leerte ihr Glas, und während er ihr nachschenkte, rieb sie sich den Nacken.
»Verspannt?«, fragte er.
»Ja, mein Dauerzustand. Du sitzt doch auch den ganzen Tag am Schreibtisch. Bist du nicht verspannt?«
»Nein, nicht das ich wüsste.«
»Wahrscheinlich treibst du wie wahnsinnig Sport.«
»Wie wahnsinnig«, bestätigte er nickend. »Ich hänge auf der Couch rum und sehe fern, ich fahre Motorrad, ich liege auf der Terrasse und trinke Alkohol oder ich füttere hungrige Gäste mit Pizza. Solche Sportarten eben.« Er blickte sie verschmitzt an und schob ihr ein Stück Pizza in den Mund. Beide lachten, als es an der Tür klingelte.
»Sekunde«, entschuldigte sich Mark und verschwand.
Kurz darauf erschien seine Schwiegermutter auf der Terrasse, Mark im Schlepptau.
»Guten Abend, Frau Degener«, begrüßte sie Anne erstaunt. »Das ist ja eine Überraschung. Was machen Sie hier?«
Helgas kritischer Blick auf die Pizzateller enthob Anne einer Antwort. Mark war gleich um die Hausecke verschwunden und kam nun mit einem Spaten zurück, den er seiner Schwiegermutter in die Hand drückte. Helga verabschiedete sich etwas frostig von Anne und zog dann Mark mit sich zurück ins Haus.
Während die beiden sich entfernten, hörte Anne Helga noch sagen: »Wenn ihr aufgegessen habt, könntest du noch rüberkommen und mir mit dem Pflanzloch helfen.«
»Heute bestimmt nicht mehr. Erstens hab’ ich Besuch und zweitens eilt das doch nicht.«
Fünf Minuten später kam Mark mit einem »Entschuldige bitte!« wieder zurück.
»Kein Problem!« Anne nippte an ihrem Glas. »Sie schien sehr erstaunt, mich hier zu sehen.«
»Nicht erstaunter als ich es war. Aber sie ist immer überrascht, wenn Besuch da ist. Zumindest tut sie so. Wahrscheinlich fragt sie sich gerade, warum wir nicht angerufen haben, um sie auch zur Pizza einzuladen.«
»Ich schätze, sie fragt sich eher, warum ihr böser Schwiegersohn nicht mitgekommen ist, um ihr zu helfen.«
»Das kann auch sein.«
»Lass dich von mir bitte nicht abhalten. Ich bin ohnehin schon lange genug hier.«
»So weit kommt’s noch. Du bleibst. Ab und zu muss man Helga mal spüren lassen, dass ich nicht immer zu ihrer uneingeschränkten Verfügung stehe. Wir helfen uns zwar gegenseitig, aber wenn’s nach ihr ginge, wäre das täglich. Das ist mir zu viel. Außerdem lasse ich mir meinen Besuch nicht mies machen, schon gar nicht so einen netten.«
»Danke für das Kompliment«, ein verführerisches Lächeln unterstrich ihre Worte.
»Nutzt ihr den Pool eigentlich?«, nahm Anne nach einer kleinen Pause das Gespräch wieder auf.
»Saskia schwimmt jeden Morgen eine Runde, und ich schwimme hin und wieder, wenn ich abends nach Hause komme.«
»Hab’ ich dich vorhin davon abgehalten?«
»Nein, hast du nicht. Würdest du denn gerne schwimmen?«
»Ehrlich gesagt, es reizt mich schon.«
»Aber?«
»Ich kann doch jetzt hier nicht schwimmen gehen.«
»Warum nicht? Es ist nur einen Sprung entfernt.« Mit einer Handbewegung wies er auf den ovalen Pool, dessen Wasser einladend in der Abendsonne glitzerte.
»Ich hab’ keine Badesachen dabei.«
»Wenn’s weiter nichts ist. Ich gebe dir was von Saskia.«
»Nein, das wäre ihr vielleicht nicht recht und mir auch nicht.«
»Gut, dann geh eben nackt«, sagte er spontan.
Sie legte den Kopf schief und sah ihn bedeutungsvoll an.
»Was siehst du mich so an?«, lachte er. »Glaubst du, ich weiß nicht, wie eine Frau aussieht?« Er ließ seinen Blick langsam an ihr heruntergleiten.
»Ich glaube kaum, dass Saskia es gut findet, wenn eine nackte Frau vor dir in deinem Pool rumhüpfen würde«, konterte Anne.
»Und ich weiß, dass sie nichts dagegen haben würde.«
»So viel Vertrauen?«, fragte sie skeptisch.
»So viel Vertrauen!«
Erneut leerte Anne ihr Weinglas, stand auf und ging zum Pool herüber. Die Oberfläche des Wassers war glatt wie ein Spiegel. Mark folgte ihr. Anne setzte sich an den Beckenrand, streifte ihre Sandalen ab und ließ ihre Füße ins Wasser gleiten.
»Tut gut«, erklärte sie, legte den Kopf in den Nacken und blickte zu ihm hoch.
Mark ging neben ihr in die Hocke und sah sie neugierig an. »Du bist hübsch. Warum hast du keinen Freund?«
»Woher willst du wissen, dass ich keinen habe?«
»Kelly hat’s mir gesagt.«
Sie nickte.
»Ehrlich gesagt, habe ich gar keine Zeit für eine feste Beziehung. Mein Job nimmt mich ziemlich in Anspruch.«
»Aber man braucht doch einen Ausgleich. Kein Wunder, dass du verspannt bist.«
»Dagegen hilft kein Freund, sondern ein Masseur.«
»Oder so was Ähnliches.« Er kniete sich hinter Anne und begann ihren Nacken zu massieren. Wohlig stöhnend schloss sie die Augen.
»Ich sollte wirklich überlegen, mir einen Freund zuzulegen. Er müsste allerdings die gleichen Griffe draufhaben wie du.«
»Das wird sicher schwer«, meinte er ernst.
»Meinst du? Dann komm’ ich eben regelmäßig zu dir«, sagte sie kess.
»Kein Problem.«
Als er sich wieder neben sie setzte, blickte sie ihn dankbar an und legte ihre Hand auf sein Bein. Er ließ es gerne geschehen. Sie plauderten noch eine Weile über Belanglosigkeiten, dann verabschiedete sich Anne von Mark. An der Tür fragte sie sich, wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihn einfach küssen würde, verwarf den Gedanken aber sofort wieder und reichte ihm stattdessen die Hand. Immer langsam, ermahnte sie sich.
»Tschüss und vielen Dank für Eistee, Pizza mit Logenplatz am Pool und Massage. Heute Morgen hätte ich davon noch nicht einmal zu träumen gewagt.«
»Manche Tage haben eben Überraschungen parat.«