35

Messer

 

 

Am Wochenende passierte gar nichts, und das machte Martin ganz verrückt. Er fieberte dem Montagmorgen regelrecht entgegen, an dem verschiedene Untersuchungsergebnisse vorliegen sollten. Früher als sonst saß er an seinem Schreibtisch. Bis zum Mittag wusste er, dass von den überprüften kriminellen, religiösen Fanatikern keiner als Täter in Betracht kam. Die Kollegen in den verschiedenen Präsidien hatten schnelle und gute Arbeit geleistet.

Von den Privatdetekteien gab es nur negative Antworten; in keinem ihrer Fälle tauchten eines der Opfer oder die dazugehörigen Liebhaber, sofern sie bekannt waren, auf. Dennoch bat er die Privatdetektive darum, auch weiterhin die Augen offenzuhalten, insbesondere bei Fällen, in denen es um Ehebruch ging. Womöglich würde der Mörder diese Branche doch einmal für seine Zwecke nutzen. Nichts durfte unversucht bleiben.

Was den Einbruch anbelangte, hatte man die Marke des Lippenstiftes festgestellt. Es handelte sich um einen relativ teuren Estée-Lauder-Lippenstift, der, wie Martin fand, den passenden Namen »True Lipstick« trug. Gerade als er mit seinen Leuten die Untersuchungsergebnisse besprechen wollte, klingelte das Telefon, und Barbara Hansen meldete sich.

»Ich war gestern Nachmittag bei Ihrem Chef zum Kaffeetrinken eingeladen«, berichtete sie. »Er fragte mich, was ich Ihnen zum Einbruch gesagt hätte.«

»War er sehr enttäuscht, dass ich Sie deswegen noch nicht kontaktiert habe?«

»Ein wenig schon.«

»Ich hatte viel um die Ohren.«

»Sie brauchen sich bei mir nicht zu entschuldigen.«

»Bei Ihnen nicht, höchstens bei meinem Chef. Aber wo ich Sie schon mal an der Strippe habe, darf ich Sie was fragen?«

»Jederzeit.«

Er erzählte ihr das, was er vom Einbruch wusste, und fragte dann: »Kann man etwas Psychologisches in die Benutzung dieses teuren Lippenstiftes hineininterpretieren oder daraus schließen, dass der Mörder eine Frau ist?«

Martin hörte sie lachen. »Dass ihr Täter eine Frau ist, ist natürlich möglich. Ich halte es sogar für ziemlich wahrscheinlich.«

»Warum?«, fragte er gespannt.

»Eben weil dieser Haken am Spiegel mit einem teuren Lippenstift geschrieben wurde. Das deutet für mich auf eine Person mit einem gewissen Stil hin.«

»Aber es wäre doch auch denkbar, dass der Täter, wenn er ein Mann ist, sich einen gerade greifbaren Lippenstift von einer weiblichen Person leiht.«

»Oder sich tatsächlich das teure Ding kauft, um damit zum Ausdruck zu bringen, wie viel ihm seine, nennen wir es mal ›Arbeit‹, wert ist. Aber ein Mann hätte vielleicht etwas anderes benutzt. Zahncreme, Ketchup, was weiß ich.«

»Interessant. Glauben Sie, der Täter hat sich bei dem Namen ›True Lipstick‹ etwas gedacht?«

»Wenn er oder sie raffiniert ist, dann schon.«

»Zuzutrauen ist es ihm wohl. Sie sagten ja schon mal, dass da kein Idiot am Werk ist.«

»Richtig!«

»Und was denken Sie über den Messerklau?«

»Ich denke, dass das vorauszusehen war.«

»Vorauszusehen?«, wiederholte Martin ungläubig. »Wohl kaum. Wer würde denn das Risiko eingehen, bei so einem Einbruch geschnappt zu werden, nur um an ein Messer zu kommen. Außerdem konnte er sechs Wochen nach dem Mord nicht einmal sicher sein, dass die Wohnung noch nicht geräumt war.« Er machte eine kurze Pause, um dann nachdenklich hinzuzufügen: »Es sei denn, er wusste, dass noch alles da war.«

»Herr Sandor, der Täter scheint ja ein guter Beobachter zu sein. Also ist es für ihn nicht weiter schwierig, auch das herauszubekommen. Selbst wenn er es nicht gewusst hat, kam es ihm offensichtlich auf einen Versuch an. Er arbeitet doch nach einem Muster. Und wenn er immer ein Messer vom vorigen Opfer für seine Taten benutzt, warum sollte das beim nächsten Mal anders sein? Dieser Mensch legt Wert auf solche Kleinigkeiten. Das gehört wohl in gewisser Weise auch zu seinem Stil.«

»Es ist wohl weniger Stil als vielmehr Spiel. Er oder sie geht immer wieder Risiken ein, die nicht sein müssten. Und ich hoffe inständig, dass ihm das irgendwann das Genick bricht. Manchmal scheint es fast so, als legte er es darauf an, erwischt zu werden.«

»Da könnten Sie nicht ganz Unrecht haben. Solche Täter wollen im Grunde, dass man weiß, wer sie sind.«

»Ganz schön irre! Einerseits wollen sie das, andererseits wollen sie natürlich nicht gefasst werden. Nennt man das gespaltene Persönlichkeit?«

»Nein«, Barbara Hansen lachte, »nicht unbedingt. Das ist noch ein bisschen was anderes. Soll ich es Ihnen erklären?«

»Nein, vielen Dank. Im Augenblick nicht.«

Kurz darauf beendeten sie das Gespräch, und Martin setzte sich mit seinem Team zusammen. Nachdem er seine Gedanken und die neuesten Erkenntnisse dargelegt hatte, berichtete er auch von dem Gespräch mit der Psychologin.

»Eine Täterin?« Paul runzelte die Stirn.

»Warum nicht?« Michael schien der Gedanke nicht abwegig. »Solche Taten sind doch nicht geschlechtsspezifisch.«

»Da gebe ich dir recht«, mischte sich Dieter ein. »Auch wenn fast alle Serienmörder Männer sind. Vielleicht findet auch in dieser Branche die Emanzipation ihren Einzug.«

»Da kommt mir doch gleich wieder die Kling in den Sinn«, sagte Michael.

»Nein!« Martin schüttelte langsam den Kopf. »Überlegt doch mal. Zwischen den Toten gibt es keinerlei Zusammenhang. Zwar gibt es die Verbindung durch die Kling zwischen Janz und Klein, aber das reicht mir nicht.«

»Es wäre doch aber möglich, dass der Mörder zwischendurch ein privates Problem, sprich irgendeinen Streit mit Janz und Klein, auf diese Weise aus dem Weg räumt.« Michael ließ sich nicht so schnell von seinem Gedankengang abbringen. »Das würde auch erklären, warum die Klein außerplanmäßig sterben musste.«

»Ob das außerplanmäßig war, wissen wir nicht. Es lässt sich nur vermuten. Und gegen die Kling haben wir nicht genug in der Hand. Ich glaube eher, dass wir es mit einem ganz fremden Menschen zu tun haben, der weder zum Freundes- noch Familien- oder Bekanntenkreis eines der Opfer gehört.« Martin hatte am Wochenende noch einmal lange über alle Aspekte des Falls nachgedacht und war schließlich zu der Einsicht gelangt, dass es keine andere Lösung geben konnte.

»Da ist was dran«, bestätigte Dieter. »Serienmorde werden im Gegensatz zu normalen Morden eher von Personen ausgeübt, die den Opfern fremd sind. Obwohl wir das wussten, haben wir unser Augenmerk immer wieder auf die bekannten Personen gelenkt.«

»Wir hatten ja auch keine andere Chance.«

Paul meldete sich zu Wort. »Wäre es nicht sinnvoll, einen Aufruf in der Presse zu veröffentlichen, dass sich alle, die anonyme Drohbriefe bekommen und ein Verhältnis mit einer verheirateten Person haben, melden sollen?«

»Schlag das mal Milster vor. Der wird dich in der Luft zerreißen und dich fragen, ob du ganz Wiesbaden noch mehr ängstigen und den Mörder auf besondere Weise provozieren willst.« Michael lachte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Und die Ehebrecher werden wohl kaum angelaufen kommen und rufen: Hallo, ich betrüge meinen Mann oder meine Frau.«

»Ehrlich gesagt«, gestand Martin »weiß ich nicht, was wir jetzt weiter unternehmen sollen. Wir kennen zwar das Motiv, wissen aber sonst nichts, was uns wirklich weiterbringt.«

»Ich nehme an, die Fingerabdrücke vom Einbruch haben auch kein Ergebnis gebracht?«, fragte Dieter.

»Nein.« Martin richtete sich in seinem Stuhl auf. »Aber irgendwas müssen wir tun. Also werden wir noch mal alle, die mit der Klein und der Benning in Kontakt standen, befragen. Augenmerk auf ein unbekanntes Verhältnis. Jemand muss doch was wissen.«

Sie nahmen sich die Akten vor und teilten die zu erledigenden Befragungen auf.

Abgehakt
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