32

Den ganzen Tag über hatte sich Anne wohlgefühlt. Sie war nach einer erholsamen Nacht mehr denn je davon überzeugt, dass die Trennung von Mark richtig war. Als sie abends nach Hause kam, hatte sie bereits beim Betreten der Wohnung das Gefühl, als sei nicht alles so wie sonst. Sie griff wie gewohnt zum Fischfutter, öffnete den Deckel und hielt erschrocken inne. Alle Fische schwammen oben. Tot!
»O nein!«, entfuhr es ihr. »Das kann doch nicht sein. Gestern wart ihr doch noch putzmunter. Ihr armen Dinger.«
Die Fische waren empfindlich, und irgendeine eingeschleppte Krankheit raffte hin und wieder einen von ihnen dahin.
Sie fischte die toten Tiere mit dem Kescher heraus und bestattete sie ohne viel Aufwand in der Toilette. Anschließend goss sie das offensichtlich verseuchte Wasser weg.
Anne beschloss, keine neuen Fische zu kaufen. Immerhin würde sie dann das Aquarium nie wieder säubern müssen. Einmal in der Woche hatte sie die Algen von den Scheiben gekratzt. Keine besonders angenehme Arbeit. Jetzt reinigte sie das Aquarium ein letztes Mal sorgfältig und schleppte es in den Keller. Der kleine Tisch, auf dem es gestanden hatte, stand etwas verloren im Wohnzimmer. So konnte das nicht bleiben. Sie kramte eine goldene Organzadecke heraus und ging ins Schlafzimmer, um nach Dekomaterial zu suchen. Als ihr Blick auf das Bett fiel, erstarrte sie. Dort lag eine langstielige rote Rose zusammen mit einem Umschlag auf ihrem Kopfkissen. Ihr erster Gedanke galt Mark, aber das konnte nicht sein, denn er hatte keinen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Langsam ging sie auf ihr Bett zu, legte die Rose zur Seite und griff nach dem Umschlag. Eine Gänsehaut kroch ihr den Rücken hinauf, als sie Wörter aus zusammengeklebten Buchstaben vor sich sah. Sie begann zu lesen:
Mein letzter Brief war sicher noch nicht deutlich genug. Entschuldigung! Aber ich wusste nicht, dass Schlampen nicht nur primitiv, sondern auch blöd sind. Um etwas mehr Klarheit in die Sache zu bringen, habe ich mich mit deinen Fischen beschäftigt. Wenn du nicht aufpasst, ergeht es dir genauso wie ihnen.
Ein dorniger Blumengruß von deinem ganz speziellen Freund.
Schlaf gut!
Ihr Herz begann zu rasen, und sie fühlte, wie ihr der Schweiß auf der Stirn ausbrach. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Die Worte wirbelten in ihrem Kopf herum. Plötzlich erfasste sie die Vorstellung, dass der Einbrecher vielleicht noch in der Wohnung sei. Ängstlich blickte sie sich nach einem Gegenstand um, der sich zur Verteidigung eignete. Sie dachte an die Messer in der Küche und griff auf dem Weg dorthin nach einem metallenen Kerzenständer.
Langsam ging sie den Flur entlang. Sie überlegte, ob sie nicht einfach zur Wohnungstür hinausrennen sollte. Aber was, wenn der Einbrecher draußen auf sie warten würde? Sie war unschlüssig. Nein! Sie befand, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als zumindest bis ins Wohnzimmer zu gehen, um das Telefon zu erreichen. Leise setzte sie Fuß vor Fuß. Abrupt blieb sie stehen, als sie ein Geräusch hörte. Es kam eindeutig aus dem Wohnzimmer, und hörte sich an wie das Rascheln von Stoff. Sie kannte das Geräusch. Sie selbst verursachte es manchmal, wenn sie im Vorübergehen ihre Gardine streifte.
Sie presste sich eng an die Wand und lauschte. Nichts. Das einzige, was sie hörte, war ihr Herz, das wie wild hämmerte. Jeder Schlag dröhnte ihr in den Ohren, und sie war sich sicher, dass es in der ganzen Wohnung zu hören sein musste. Ganz langsam schlich sie weiter. Ihre Beine schienen vor Angst bleischwer zu sein, jeder Schritt kostete sie Überwindung. Vorsichtig spähte sie ins Wohnzimmer, konnte aber niemanden sehen. Etwas mutiger schritt sie den Raum ab und stellte fest, dass es hier praktisch kein Versteck gab. Dafür fand sie die Ursache für das Stoffrascheln, denn die Organzadecke war von dem kleinen Tisch gerutscht und zu Boden gefallen. Sie hatte sich selbst erschreckt. Zur Sicherheit suchte sie noch die anderen Räume ab, aber sie war allein. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, stieg langsam Wut in ihr hoch. Dieser Mistkerl war in ihrer Wohnung gewesen, hatte ihre Fische umgebracht, und es schien ihr, als wartete er nur darauf, dass sie sich wieder mit Mark treffen würde, um auch sie endlich umbringen zu können. Wer zum Teufel war dieses Schwein? Und wie war er in die Wohnung gekommen? Sie sprang auf und lief zur Wohnungstür. Am Schloss war nicht der kleinste Kratzer. Sie lief von Fenster zu Fenster. Alle waren verschlossen.
Mit einem Mal wusste sie, was passiert sein musste. Es gab nur eine Person, die ohne Schwierigkeiten in die Wohnung kommen konnte, da sie einen Schlüssel hatte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und lief aus der Wohnung. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Sie hämmerte mit beiden Fäusten an die Tür ihrer Nachbarin. »Komm raus, du Schwein!«, schrie sie.
Die völlig verdutzte Daniela Böhmer erschien in der Tür. Noch ehe sie etwas sagen konnte, hatte Anne sie am T-Shirt gepackt und zog sie zu sich heran. »Wie kommst du dazu, dich in mein Leben einzumischen?« Aus zusammengekniffenen Augen blickte sie die Nachbarin bedrohlich an.
»Ich wollt’ dir doch nur einen Gefallen tun«, jammerte sie. Anne wunderte sich eine Sekunde lang, dass Daniela sofort alles zugab. »Es sollte doch eine Überraschung sein.«
»Eine Überraschung?« Annes Stimme überschlug sich. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. »Du bist doch total durchgeknallt. Ich sollte die Polizei rufen.«
»Nein, Anne, bitte! Ich mach das auch nie wieder.«
»Das wirst du auch nicht können.« Sie schrie noch immer. »Die Fische sind ja bereits tot.«
Völlig verwirrt sah Daniela ihr in die vor Wut glänzenden Augen. »Wieso die Fische?«
»Wieso? Weil du sie vergiftet hast. Hast du das schon vergessen?« Anne schüttelte Daniela hin und her. »Und jetzt gib mir sofort meinen Schlüssel!« Sie ließ sie los und schubste sie von sich.
»Natürlich«, murmelte Daniela kleinlaut, drehte sich zur Seite und griff hinüber zum Schlüsselbrett. »Hier!«
Anne riss ihr den Schlüssel aus der Hand und stopfte ihn in ihre Hosentasche, ohne Daniela dabei aus den Augen zu lassen. »Ich habe alle drei Briefe drüben liegen und werde dich höchstwahrscheinlich anzeigen. Mit so einer Psychopathin will ich nicht unter einem Dach wohnen. Du gehörst eingesperrt.«
»Welche Briefe?«, fragte Daniela konfus. »Ich versteh’ nicht.«
»Bist du so dämlich oder tust du nur so! Die Briefe, die du mir in meinen Briefkasten und aufs Kopfkissen gelegt hast!«
»Ich weiß nur von dem Brief auf dem Kopfkissen, und der ist nicht von mir. Ich hab’ dir keine Briefe geschrieben.«
»Ja, das stimmt wohl«, sagte Anne höhnisch, um sie gleich darauf wieder anzuschreien. »Du hast sie ja sorgfältig zusammengeklebt!«
»Sag mal, von was redest du überhaupt? Ich versteh’ nur Bahnhof.« Auch Daniela wurde lauter.
»Du bist eine eifersüchtige Irre.«
»He! Jetzt mach aber mal halblang.« Sie machte einen Schritt auf Anne zu und stützte die Arme in die Hüften. »Nur weil ich für einen deiner Lover die Tür aufmach’, damit du eine Überraschung kriegst, brauchst du mich hier nicht so runterzuputzen. Ich hab’s nur gut gemeint.«
Anne war perplex. »Wie, meinem Lover die Tür aufmachen? Was erfindest du jetzt für einen Scheiß?«
»Ich erfinde nichts. Frag ihn doch selbst.«
Anne verstand überhaupt nichts mehr. Wenn Daniela nicht log und ihr Lover, sprich Mark, heute in ihrer Wohnung war, dann … Das machte doch alles keinen Sinn. »Daniela, lüg mich nicht an.«
»Ich lüg’ nicht! Der Typ kam zu mir, und er wusste, dass ich die Schlüssel zu allen Wohnungen habe. Er wollte, dass ich dir einen Willkommensgruß aufs Bett lege.«
»Du hast für ihn …?«
»Ja, die Rose und den Brief aufs Kissen gelegt. Was ist schon dabei?«
»Und die Fische hast du netterweise auch gleich gefüttert?«
»Fische? Quatsch. Ich hab’ nur den Brief hingelegt und sofort wieder abgeschlossen. Der Typ ist dann abgeschwirrt.«
»Du lügst doch! Jemand hat meine Fische vergiftet, und wenn nur du in der Wohnung warst, wer soll es bitteschön dann gewesen sein?«
»Ich war das jedenfalls nicht. Ich war nur im Schlafzimmer, und der Kerl hat im Flur gewartet.«
»Wie sah der Typ aus?«
»Was weiß ich.« Daniela war sichtlich genervt.
»War es der, mit dem du mich neulich gesehen hast? Der, mit dem du mal spät abends an der Tür gesprochen hast?«
»Nee! War wohl dein anderer Lover«, sagte Daniela abfällig. »Hast ja scheinbar mehrere.«
»Ich hab’ nicht mehrere.« Am liebsten hätte Anne ihr ins Gesicht geschlagen. »Und jetzt sag endlich: Wie sah der Mann aus?«
»Dunkelhaarig, schlank und nicht so groß wie der von neulich. So’n ausländischer Typ mit ’nem Bart.«
Anne war skeptisch. Wenn Daniela log, machte sie das gut. Und dass sie log, war ziemlich sicher, denn Anne kannte niemanden, der so aussah wie der Mann, den Daniela beschrieben hatte.
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging zurück in ihre Wohnung. Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte keine Ahnung. Sie war verwirrt, wütend und ängstlich zugleich. Sie ließ sich in den Sessel fallen und fühlte, wie ihr Herz immer noch hämmerte. Versuche dich auf das Wesentliche zu konzentrieren, sagte sie sich. Offenbar musste der Briefeschreiber gesehen haben, dass Mark gestern bei ihr gewesen war, und hatte sofort reagiert. Da sie Mark jedoch in Zukunft nicht mehr wiedersehen würde, sollte dieser anonyme Verfolger sie bald wieder in Ruhe lassen. Dieser Gedanke beruhigte Anne etwas.
Sie ging immer noch davon aus, dass Daniela hinter allem steckte, aber von ihr ging eigentlich keine ernsthafte Gefahr aus. Oder doch? Wie gut kannte sie sie überhaupt? Und war es nicht so, dass man Psychopathen nicht unbedingt als solche erkannte? Bislang hatte sie sich ihr überlegen gefühlt. Sie war selbstbewusster als Daniela und konnte sie in Grund und Boden reden. Aber würde ihr das helfen, immer mit ihr fertig zu werden? Sie war sich nicht sicher. Und was, wenn es diesen unbekannten Typ doch gab, von dem sie gesprochen hatte?
Als sie so zusammengekauert dasaß, wurde Anne schmerzlich bewusst, wie einsam sie sich fühlte. Da war niemand, an den sie sich anlehnen, mit dem sie reden konnte. Bis in die frühen Morgenstunden saß sie im Wohnzimmer und merkte nicht, wie die Zeit verging. Erst als sie draußen eine Autotür zuschlagen hörte, sah sie auf die Uhr und stöhnte. Schon vier Uhr. Es blieben ihr gerade noch drei Stunden, ehe Kelly ihren Hund bringen würde und sie sich fürs Büro fertig machen musste.
Um Viertel vor sieben wurde sie durch das Klingeln der Türglocke geweckt. Erschrocken fuhr sie hoch und blickte auf die Uhr. Sie hatte vergessen, den Wecker zu stellen. Sie lief zur Tür und öffnete. Kelly kam ihr strahlend entgegen, Sunny schwanzwedelnd an ihrer Seite. Anne lächelte die beiden müde an. Dabei freute sie sich ehrlich, den Hund nun bei sich zu haben. Er würde ihr ein Gefühl der Sicherheit geben. Bereitwillig kraulte sie ihm den Rücken.
»Komm, Sunny«, forderte Anne den Hund auf. Sie folgte der Freundin, die bereits zwei Taschen mit Sunnys Utensilien in der Küche abstellte. »Schön, dass du da bist, Kelly«, sagte sie und nahm sie in die Arme.
»Sag mal, wie siehst du denn aus?« Mit sorgenvoller Miene betrachtete Kelly die vollkommen übernächtigte Freundin.
»Ich hatte eine kurze Nacht.«
»Warum? War Mark da?« In ihrem Ton schwang deutliche Missbilligung mit.
»Nein. Aber die Post!«
»Welche Post?«
»Das ist eine längere Geschichte.«
»Ich habe noch Zeit, und du musst erst mal frühstücken, um richtig wach zu werden. Dabei kannst du mir alles erzählen.« Eindringlich ruhte Kellys Blick auf ihr.
»Okay. Dann gehe ich heute mal etwas später ins Büro.«
»Lobenswert!«
Anne berichtete jedes Detail des gestrigen Abends. Nach den ersten Sätzen hatte Kelly aufgehört die Brötchen zu belegen und sich zu ihr gesetzt. Sie unterbrach die Freundin nicht, bis sie geendet hatte. Dann nahm sie sie in die Arme und hielt sie einen langen Augenblick fest. »Du musst zur Polizei gehen!«, sagte sie ernst.
»Ich weiß nicht.«
»Aber ich. Das war jetzt eindeutig zu viel. Was soll noch alles passieren?«
»Jetzt wird nichts mehr passieren. Mark kommt ja nicht mehr.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Selbst wenn, musst du dieser Irren das Handwerk legen. So eine darf doch nicht ungestraft durch die Gegend laufen.«
»Wahrscheinlich wäre es tatsächlich nicht schlecht, wenn jemand Daniela mal unter die Lupe nimmt. Ich denke wirklich, dass sie es war.«
»Ja, das liegt nahe. Auch wenn du sie als harmlose Spinnerin bezeichnest, finde ich, dass man besessen von etwas sein muss, wenn man sich zu solchen Aktionen hinreißen lässt. Und deshalb kannst du ganz und gar nicht sicher sein, dass Ruhe ist. Neid und Eifersucht haben schon so manchen in den Wahnsinn getrieben.«
»Ja«, nachdenklich rührte Anne in der Kaffeetasse herum, die Kelly ihr inzwischen in die Hand gedrückt hatte, »ich werde zur Polizei gehen.«
»Gut! Zu blöd, dass ich ausgerechnet jetzt wegfahre. Ich würde lieber hierbleiben.«
»Wozu? Um auf mich aufzupassen?«
»Zumindest, um in deiner Nähe zu sein. Ich habe kein gutes Gefühl. Du solltest um Personenschutz bitten.«
»Kelly, jetzt übertreib mal nicht. Ich habe doch einen Beschützer hier.« Damit blickte sie zu Sunny hinunter, der auf ihren Füßen lag. Als hätte er verstanden, dass die Rede von ihm war, hob er den Kopf und blickte Anne erwartungsvoll an. »Nicht wahr?«, sagte sie. »Du wirst mich bewachen?«
Sunny bellte, stand auf und legte seinen Kopf in ihren Schoß.
»Na, siehst du?«, wandte sich Anne an Kelly. »Ein Mann, ein Wort!«
Die Frauen lachten. Als sie sich wenig später voneinander verabschiedeten, sagte Kelly eindringlich: »Wenn irgendetwas ist, rufst du mich an. Du hast alle Telefonnummern, die du brauchst.«
»Es wird nichts sein«, versuchte Anne die Freundin zu beruhigen. »Genieße deine Zeit in Südafrika und bring mir was Schickes für mein Bad mit.«
»Versprochen!« Dann drückte sie Anne und streichelte Sunny ein letztes Mal. »Du wirst mir fehlen, mein Junge. Pass schön auf Anne auf.«