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Es war kurz nach vier Uhr, als Kommissar Martin Sandor am Tatort erschien. Ein Polizist hob das Absperrband hoch, damit er den Hinterhof des sechsgeschossigen Wohnblocks betreten konnte. Martin blickte sich kurz um. Er sah, wie in einiger Entfernung das Blitzlicht des Polizeifotografen aufleuchtete, wie die Kollegen von der Spurensuche ihre Arbeit taten und sich Notizen machten. Und er sah seinen Assistenten Paul Fischer, der mit einem kleinen, dicken Mann sprach, der aufgeregt mit den Armen gestikulierte. Martin ging auf die beiden zu und hörte, wie Paul sagte: »Beruhigen Sie sich und tun Sie jetzt, was ich Ihnen gesagt habe.« Der Kleine nickte und verschwand im Haus.
»Hallo, Chef!«, sagte Paul, als er Martin bemerkte. Der nickte nur kurz zur Begrüßung.
»Was haben wir?«, forderte er ihn auf zu berichten.
»Die Tote ist eine Frau, etwa Ende zwanzig.«
»Weiß man schon, wer sie ist?«
»Der Hausmeister hat sie als Marita Janz identifiziert. Sie hat hier im sechsten Stock gewohnt. Soll eine eher unauffällige Person gewesen sein.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Eine Frau Kling aus dem dritten Stock hat sie entdeckt und uns verständigt. Ob jemand was gesehen oder gehört hat, weiß ich noch nicht. Ich musste erst mal eine Menge aufgeregter Hausbewohner zurück in ihre Wohnungen schicken. Die Kollegen nehmen jetzt die Personalien auf. Vorm Haus steht eine Streife. Niemand kommt rein oder raus.« Paul machte ein zufriedenes Ich-habe-alles-unter-Kontrolle-Gesicht und fügte hinzu: »Der Mann von eben ist der Hausmeister, Udo Langner. Er hat uns die Wohnung aufgemacht.«
»Gut!« Martin blickte an der Fassade hinauf. Mehrere Fenster waren hell erleuchtet. Hinter einigen sah er Gesichter, die das polizeiliche Treiben im Hof verfolgten. Er entdeckte auch das Fenster, das offensichtlich zur Wohnung der Toten gehörte. Kollegen von der Spurensuche nahmen gerade Fingerabdrücke am Fensterrahmen. »Ich sehe sie mir mal an«, sagte Martin und wies mit dem Kinn auf die mittlerweile abgedeckte Leiche. Paul nickte und verschwand im Haus.
Einen Blick auf ihr Opfer warf auch die Frau, nachdem sie von ihrem nächtlichen Ausflug nach Hause zurückgekehrt war. Mit Genugtuung versah sie die Fotos von Marita Janz mit einem roten Haken.
Sie lächelte zufrieden vor sich hin, während sie die Toten an der grünen Wand im Dunkeln hinter dem Bild verschwinden ließ.
»Hallo, Dr. Stieber.« Martin trat zu dem Arzt der Mordkommission, der neben der abgedeckten Leiche hockte und sich Notizen auf einen Block machte.
»Abend, Sandor!« Er richtete sich auf, streifte die Einmalhandschuhe von den Fingern und reichte Martin die Hand.
»Was denken Sie?«
»Ich denke, dass die Verbrecher ihre Aktivitäten auf den Tag verlegen sollten, damit wir in der Nacht schlafen können.«
»Wäre mir auch lieber«, nickte der Kommissar. »Haben Sie schon einen Blick auf unser Opfer geworfen?«
»Hab’ ich!« Erneut ging Dr. Stieber in die Hocke und Martin tat es ihm gleich. Der Arzt zog die schwarze Folie ein Stück zurück, sodass beide das bleiche Gesicht der Toten sehen konnten.
Der Anblick eines toten Opfers löste bei Martin immer wieder Mitleid und Wut aus. Offenbar würde er sich niemals wirklich daran gewöhnen können, auch wenn er schon mehr entstellte Körper, Leichenteile oder ähnlich grauenhafte Dinge zu Gesicht bekommen hatte, als er sich je hätte vorstellen können. Er war dem Arzt für seine nüchterne Bestandsaufnahme dankbar.
»Die Todesursache ist möglicherweise Genickbruch. Jedenfalls weist sie keine schwerwiegenden äußerlichen Verletzungen auf. Nach ihrer Lage zu urteilen, könnte sie aus dem Fenster gefallen sein. Dann haben wir noch eine Schnittwunde am Oberkörper, die zwar nicht zum Tode führte, die Sie aber sicher sehr interessieren wird.«
Dr. Stieber zog die Folie vollständig zur Seite und Maritas schlanker Körper kam zum Vorschein. Er lag verdreht auf dem Asphalt. Martins Blick fiel auf die von Dr. Stieber erwähnte Schnittwunde und ihn überlief ein eiskalter Schauer. Diese Art von Schnitt kannte er. Er hatte ihn bereits vor einem halben Jahr schon einmal bei einer weiblichen Leiche gesehen. Damals war der Verdacht, dass es sich bei dem Täter um einen Serienmörder handeln könnte, aufgekommen, denn es gab eine Parallele zu einem weiteren Mordfall, der etwa ein Jahr zurücklag. Das erste Opfer war ebenfalls eine Frau. Ihr Name war Veronika Schnitzler. Ihr hatte man das Zeichen mit Blut auf die Brust geschmiert. Aber außer diesem Zeichen gab es keine Gemeinsamkeiten. In beiden Fällen tappten sie bis jetzt absolut im Dunkeln.
»Kommt Ihnen das bekannt vor?«, fragte Dr. Stieber, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Allerdings!« Martin fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Sieht so aus, als hätten wir es mit einem Wahnsinnigen zu tun.«
»So sehe ich das auch. Vielleicht hat er ja diesmal des Rätsels Lösung beigefügt. Wir werden sehen, welche Geschichte mir der Körper der jungen Dame bei der Obduktion erzählt.«
»Wie lange liegt sie schon hier?«, wollte Martin wissen, während sich Dr. Stieber erhob.
»Ich schätze …«, er wiegte nachdenklich den Kopf hin und her, »ungefähr zwei Stunden.«
»Danke, Doktor! Wir sehen uns!«
»Ganz sicher!«
Martin blickte dem Rechtsmediziner hinterher und war froh, dass er der leichenschauende Arzt in diesem Fall war. Er hielt Jochen Stieber für den Kompetentesten seines Fachs, der oftmals »hellseherische Fähigkeiten« an den Tag legte, wie Martin es nannte. Er machte den Job schon ziemlich lange. Martin schätzte ihn auf etwas über fünfzig. Und er fragte sich, wie ein Mensch diese Arbeit nur so lange aushalten konnte. Er konnte nur vermuten, dass Stieber ähnliche Abwehrmechanismen entwickelt hatte wie er selbst, denn auch er machte seinen Job nun schon seit über zwanzig Jahren. Man tat so, als würde es einem nichts ausmachen. Man versuchte sich abzulenken, indem man das Schreckliche mit Humor herunterspielte. Manchmal kam es Martin so vor, als wäre es langsam an der Zeit aufzuhören. Hatte er nicht genug Leichen gesehen, genug Mörder hinter Gitter gebracht? Er zog die Folie wieder über den leblosen Körper und dachte an die Angehörigen der Frau. Dass er ihnen die Todesnachricht überbringen musste, daran hatte er sich längst gewöhnt. Aber daran, dass er einen Mörder für sein Verbrechen möglicherweise nicht zur Rechenschaft ziehen konnte, daran würde er sich wohl nie gewöhnen. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum er den Job immer noch machte.
Paul kam ihm entgegen. »In dem Haus gibt es insgesamt zehn Mietwohnungen. In sieben davon waren die Leute zu Hause. Allerdings haben die meisten von ihnen schon geschlafen und nichts mitbekommen. Nur ein älterer Herr, der direkt neben unserem Opfer wohnt, hat das Läuten an Frau Janz’ Tür und mehrfach Schritte im Treppenhaus gehört. Aber das ist auch schon alles.«
»Was ist mit denen, die nicht zu Hause sind?«
»Ein Mann hat Nachtschicht, eine andere Mieterin ist übers Wochenende weggefahren und wo sich das Pärchen aus dem ersten Stock zur Zeit aufhält, weiß niemand. Wir haben die Personalien von allen aufgenommen und sie für morgen ins Präsidium bestellt, soweit es möglich war. Im Moment sieht es so aus, als hätte niemand etwas gesehen, was uns weiterhilft.«
»Die Tote ist mutmaßlich Opfer eines Serienmörders. Erinnerst du dich an die Fälle Schnitzler und Benning? Beide Frauen hatten das gleiche Zeichen auf der Brust. Beim ersten Mord war es noch mit Blut aufgemalt, beim zweiten mit dem Messer eingeritzt. Den Schnitt hat auch unser neues Opfer hier.«
»Heilige Scheiße!«, entfuhr es Paul. Auch er konnte sich gut an die Fälle erinnern. Schließlich waren es die ersten, an denen er in der Mordkommission mitgearbeitet hatte. Zwei hübsche junge Frauen, ging es ihm durch den Kopf. Von ihrem Mörder keine Spur. Sie waren beide in ihren Wohnungen überfallen und ermordet worden. Veronika Schnitzler, die erste Tote dieser Serie, wurde mit dem Telefonkabel erdrosselt. Silke Benning, das zweite Opfer, fand man mit durchschnittener Kehle. Dieser Anblick hatte den fünfundzwanzigjährigen Paul so mitgenommen, dass er sich anschließend gefragt hatte, ob Kriminalist bei der Mordkommission tatsächlich die richtige Berufswahl gewesen war. Aber er war ein engagierter Polizeibeamter, der die furchtbaren Bilder und Gerüche verdrängte, indem er sich in die Arbeit kniete. Bei den Kollegen war er gern gesehen, denn er war sich für nichts zu schade. Martin Sandor war sein großes Vorbild, und er war stolz darauf, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er bewunderte die Akribie und Leidenschaft des Kommissars und versuchte, so viel wie möglich von ihm zu lernen.
Paul fragte sich, ob sie auch in diesem Fall wieder im Dunkeln tappen würden, und hoffte, dass es nun endlich eine Spur geben würde.
Doch die Befragung der Mitbewohner am nächsten Morgen ergab so gut wie nichts. Die Erste, die erschien, war Britta Kling. Die Mittvierzigerin erschien recht aufgetakelt im blauen Kostüm und genoss offensichtlich die Aufmerksamkeit, die ihr zumindest für die Dauer der Befragung zuteil wurde.
»Sie haben also Frau Janz im Hof gefunden?«, begann Martin.
»Habe ich. Und jetzt wollen Sie sicher wissen, wann das war?«
»Sie denken mit, Frau Kling. Also wann?«
»Exakt um drei Uhr dreißig.«
»Wie kommt es, dass Sie die Zeit so genau wissen?«
»Herr Kommissar, Sie werden lachen, aber die Frage habe ich erwartet.« Sie verzog die knallroten Lippen zu einem selbstbewussten Lächeln.
»Dann haben Sie sicher auch schon eine Antwort parat?«
»Natürlich. Ich habe mir „Dieter Nuhr live!“ mit seinem Programm „WM Spezial“ angesehen. Ich bin ein großer Comedy-Fan. Leider hatte ich die Sendung am frühen Abend verpasst. Aber es kam ja glücklicherweise eine Wiederholung ab zwei Uhr fünfundvierzig. Als sie um halb vier endete, öffnete ich mein Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Da sah ich die Tote im Hof liegen.«
»Konnten Sie sofort erkennen, dass sie tot war?«
»Ich war nicht sicher.«
»Aber Sie riefen unmittelbar darauf die Polizei an?«
»Herr Kommissar!« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, schlug langsam die Beine übereinander und blickte Martin an, als hätte er ihr eine dumme Frage gestellt. »Was glauben Sie denn? Sollte ich anrufen und sagen: Im Hof liegt vielleicht eine Tote? Ich mache keine halben Sachen.«
»Was bedeutet?«
»Ich ging nach unten, um nachzusehen, ob sie tatsächlich tot ist.«
»Was Sie dann aus nächster Nähe auch feststellten?«
»Das war ja nicht weiter schwierig.«
»Was haben Sie gedacht, was wohl passiert sein könnte?«
»Ich dachte mir, dass sie ermordet wurde, wegen dem Klebeband und so. Na ja … jeder bekommt eben das, was er verdient.« Frau Kling klang überheblich, als wäre ein Mord die natürlichste Sache der Welt.
»Glauben Sie denn, sie hätte es verdient, umgebracht zu werden?« Martin runzelte ungläubig die Stirn.
Frau Kling zuckte nur die Schultern und schwieg lächelnd.
»Niemand, aber auch gar niemand, verdient es, umgebracht zu werden! Verstehen Sie, Frau Kling?« Martin merkte, dass er sich auf eine sinnlose Diskussion einließ. Wenn er sich jetzt nicht beruhigte, könnte dieses Gespräch sehr unerfreulich werden. Also, tief durchatmen.
»Hatten Sie Angst, dass der Mörder vielleicht noch in der Nähe sein könnte?«, versuchte er das Gespräch auf den Fall zurückzulenken.
»Angst? Nein!« Frau Kling lachte laut auf. »Hören Sie, ich bin eine Frau.«
Ja, dachte Martin, und was für eine. Da sie nicht weitersprach, fragte er: »Könnten Sie bitte erklären, was so lächerlich daran wäre, als Frau Angst vor einem Mörder zu haben?«
»Ich dachte mir schon, dass Sie den Zusammenhang nicht verstehen.« Frau Kling lächelte süffisant.
»Würden Sie dann bitte die Güte haben, ihn zu erklären?« Martin versuchte den aufsteigenden Ärger zu unterdrücken.
»Jede Frau, die klug genug ist, sollte sich ja wohl durch Selbstverteidigung vor Angreifern schützen können. Meinen Sie nicht?«
»Das wäre wünschenswert, ist aber wohl eher unrealistisch und in unserem Zusammenhang auch irrelevant.« Bevor Frau Kling etwas erwidern konnte, fuhr Martin fort: »Haben Sie die Tote berührt?«
»Nein.«
»Haben Sie jemanden bemerkt?«
»Nein!«
»Können Sie uns etwas zu der Person Marita Janz sagen?«
»Natürlich, ich laufe ja nicht blind durch die Gegend.«
»Also?«
»Sie war ein unverschämtes, junges Ding, das sich nur um sich selbst kümmerte.«
»Sie scheinen sie nicht besonders gemocht zu haben.«
»Nein.« Frau Kling reckte ihr Kinn ein wenig in die Höhe. »Sie war eine absolut unsympathische Person und überhaupt nicht auf meinem Niveau.«
»Wie gut kannten Sie sie denn?« Martin bezwang seinen Ärger angesichts der Arroganz seines Gegenübers.
»Wie man eine Nachbarin eben kennt.«
»Wie oft haben Sie sie denn gesehen?«
»Glauben Sie, ich habe das gezählt?« Frau Kling krauste unwillig die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Wohl kaum, aber vielleicht können Sie trotzdem eine Aussage dazu machen.«
»Mein Gott! Jeden dritten Tag vielleicht.«
»Und wie kamen Sie zu der Einschätzung, dass sie unverschämt und unsympathisch war?«
»Na, hören Sie mal. Das sieht man mit ein wenig Menschenkenntnis doch sofort. Wie die immer rumgelaufen ist. Total aufreizend, regelrecht provozierend. Dann grüßte die nur, wenn sie Lust hatte, wartete nicht mit dem Aufzug und hatte eben keinen Respekt vor anderen.«
»Wissen Sie etwas über ihr Privatleben, ihre Freunde oder Besucher?«
»Nein.«
»Vielen Dank, Frau Kling. Das war’s fürs Erste. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.«
Sie verabschiedete sich mit einem zuvorkommenden Lächeln.
»Manche sind einfach unglaublich«, kommentierte Paul das Gespräch, dem er stumm gelauscht hatte.
»Es gibt nichts, was es nicht gibt. Da heißt es nur, immer schön ruhig bleiben, auch wenn’s schwer fällt, denn ich befürchte, dass wir diese Dame nicht zum letzten Mal gesehen haben.«
Die folgenden Befragungen liefen wesentlich angenehmer ab, wenngleich ebenso erfolglos. Bis auf eine Person waren alle Bewohner erschienen. Doch niemand hatte irgendetwas gesehen oder gehört. In dem Haus lebte man relativ anonym nebeneinander her, die meisten kannten sich nur vom Sehen. Alles in allem schien es so, als hätte Marita Janz ein eher unauffälliges Leben geführt.
Dies bestätigten auch ihr Chef und ihre Kollegen bei der GEFA GmbH, einem deutschen exportorientierten Produktionsunternehmen, bei dem sie als Fremdsprachenkorrespondentin gearbeitet hatte. Auch hier wusste niemand, mit wem die Tote befreundet gewesen war und wie sie ihre Freizeit verbracht hatte. Sie sei eine beliebte, lebensfrohe, junge Frau gewesen, die ihre Arbeit ordentlich erledigt habe. Lediglich eine Kollegin wusste etwas mehr zu sagen. Sie konnte sich erinnern, dass sie Marita einmal nach Hause gebracht hatte, wo ein Mann vor der Tür auf sie gewartet hatte. Marita hatte ihn als »meinen Freund« bezeichnet. Sie konnte eine ungefähre Beschreibung des Mannes abgeben, jedoch keinen Namen nennen.
Die Familie von Marita Janz war schnell befragt, denn es lebte nur noch ihre Mutter. Von ihr erhofften sich die Ermittler ein paar mehr Informationen über das Privatleben der Toten, aber auch sie wusste nichts darüber, da die beiden seit Jahren so gut wie keinen Kontakt mehr hatten.
Die Hoffnung auf weitere Hinweise richtete sich nun vorrangig auf die Autopsie und die Spurenanalyse, deren Ergebnisse allerdings nicht vor Montag zu erwarten waren.