14

Messer

 

 

Eva Klein saß mit Christian Bauer währenddessen in einer Pizzeria. Sie strahlte ihn dankbar an. »Du warst so gut heute. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.«

»Wahrscheinlich für den Rest deines süßen Lebens hinter schwedischen Gardinen gesessen. Aber das wäre wirklich zu schade.«

»Ich werde dir das nie vergessen.«

»Das hoffe ich. So habe ich wenigstens auch ein Alibi gut, wenn ich mal eins brauche.«

Sie prosteten sich zu und tranken auf die Lüge, die ihr Leben verändert hatte.

 

Die Theatervorstellung war für Martin genau die richtige Ablenkung gewesen. Für drei Stunden hatte er seinen Job vollkommen vergessen können und war mit Karla in eine andere Welt eingetaucht. Leider währte diese Ruhe nur kurz. Sie waren gerade dabei, die Parkgebühr am Automaten zu zahlen, als Karla mit dem Finger zur Decke deutete.

»Sieh mal, Schatz. Eine Kamera. Bitte lächeln!« Übertrieben grinste sie erst Martin, dann die Kamera an. Martin lachte, bis ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss: Jedes Parkhaus hatte Überwachungskameras, die alle Besucher und ihre Wagen aufzeichneten. In der Nähe der Wellritzstraße gab es seines Wissens nach drei Parkhäuser. Was, wenn dieser Ulf während seiner Besuche bei Marita dort geparkt hatte? Er müsste auf den Bändern zu sehen sein. Es war eine Chance.

Martin küsste seine Frau. »Wenn ich dich nicht hätte«, strahlte er sie an. »Du holst das Beste aus mir raus, mein Schatz!«

Fragend blickte sie ihn an, und er erklärte ihr, auf welche Idee sie ihn gerade gebracht hatte.

 

Früher als gewöhnlich saß er am nächsten Morgen im Büro und informierte seine Leute.

»Vielleicht haben wir Glück, und finden Ulf auf diesem Weg.«

»Wenn er überhaupt mit dem Auto gekommen ist«, gab Dieter zu bedenken.

»Ja, aber es ist immerhin eine Chance.« Paul war wie Martin voller Tatendrang.

»Von den umliegenden Parkhäusern, die infrage kommen, liegt eins in der Helenenstraße und zwei sind an der Schwalbacherstraße«, erklärte Martin. »Alle praktisch um die Ecke der Wohnung Janz.« Martin griff nach seiner Jacke. »Ich fahre los und hole Frau Festner. Die darf sich heute einen schönen Tag vor dem Fernseher machen. Und ihr besorgt bitte die Videobänder. Ich würde sagen, erst mal die der letzten vier Wochen vor dem Todestag.«

Im Hinausgehen wählte er die Nummer von Jasmin Festner auf seinem Handy, um sie über die Änderung ihres heutigen Tagesablaufs zu informieren.

Bis die Zeugin sowie die Videobänder dort waren, wo Martin sie haben wollte, dauerte es eine ganze Weile. Erst kurz nach neun begann Frau Festner mit der Durchsicht der Aufzeichnungen. Zunächst beschränkten sie sich auf die Bänder von montags und freitags, jeweils ab sechzehn Uhr. Ein Techniker blieb bei ihr, während Martin und seine Leute zurück ins Büro gingen.

Dort wartete bereits Frau Hansen. Martin hatte sie total vergessen.

»Bitte entschuldigen Sie die Verspätung.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Uns ist etwas Wichtiges dazwischengekommen. Normalerweise lasse ich Frauen nicht warten.«

»Normalerweise«, wiederholte sie ernst und brachte damit ihr Missfallen deutlich zum Ausdruck. Pünktlichkeit war ihr sehr wichtig.

Versöhnlich bat Martin sie: »Wenn Sie uns etwas zu unserem speziellen Fall sagen können, dann haben Sie jetzt unsere volle Aufmerksamkeit.« Eigentlich legte er keinen großen Wert mehr auf ihre Ausführungen, und ihm wäre es am liebsten, sie würde gehen. Andererseits hatten sie jede Hilfe nötig. Vielleicht sogar die einer Psychologin. Also fuhr er fort: »Und wenn Sie sogar ein Täterprofil erstellen könnten, dann wäre das sogar ausgesprochen hilfreich, denn leider mussten wir unsere Hauptverdächtige aufgrund ihres Alibis gehen lassen.«

»Was?« Ungläubig blickte Barbara Hansen von einem zum anderen. »Aber ihre Fingerabdrücke waren doch überall. Sind das keine ausreichenden Indizien?«

»Sie sind nichts gegen ein Alibi.«

»Ein Alibi kann sich doch jeder besorgen.«

»Aber wir können nicht beweisen, dass es ein ›besorgtes Alibi‹ ist.«

»Schade!«

Es dauerte eine Weile, ehe sie weitersprach.

»Ich hatte gehofft, dass der Spuk jetzt vorbei ist. Als Frau konnte man sich in Wiesbaden ja nicht mehr sicher fühlen. Das heißt, das kann man ja jetzt immer noch nicht.«

»Wir versuchen alles, um den Täter zu kriegen.«

»Nun gut«, entgegnete sie mit fester Stimme, »dann will ich Ihnen mal helfen. Zum Täterprofil gibt es Folgendes zu sagen.« Sie suchte den Blickkontakt mit allen vier Anwesenden, die sich inzwischen um Martins Schreibtisch platziert hatten. »Der Täter hat sich territorial festgelegt.«

»Das haben wir auch schon bemerkt«, konnte sich Martin nicht verkneifen zu sagen, woraufhin er ein unterkühltes Lächeln erntete.

»So können Sie ziemlich sicher sein«, fuhr sie fort, »dass der Mörder in dieser Umgebung weiter morden wird.«

»Sie gehen also davon aus, dass er weiter morden wird?«, fragte Dieter.

»Davon gehe ich aus. Er war ja bisher sehr erfolgreich. Wir sprachen schon letztes Mal über den Wiederholungseffekt des erfolgreichen Täters«, erinnerte sie. »Zwischen den Morden liegt immer einige Zeit, eine Ruheperiode, wenn man so will. Auch ein Mörder braucht Pausen.«

»Die bisher immer ziemlich genau ein halbes Jahr dauerten.«

»Die Ruhephase ist bei jedem unterschiedlich, aber hier sieht es tatsächlich nach einer Art Rhythmus aus. Nach einer gewissen Zeit flammt die Kraft, von der der Mörder getrieben wird, immer wieder auf. Sie ist stärker als er selbst. Gespeist wird sie daraus, dass er sich als Opfer einer Aggression fühlt und damit zur Vergeltung berechtigt ist. Nach dem Motto: Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

»Wie würden Sie einen solchen Menschen beschreiben?«, wollte Martin wissen.

»Normalerweise kommen solche Täter eher aus einer mittleren oder unteren Gesellschaftsschicht. Sie haben ein geringes kulturelles Niveau, eine niedrige Schulbildung, einen niedrigen IQ, also eine unterdurchschnittliche Intelligenz.«

»Was heißt ›normalerweise‹?«

»Je nach Fall braucht der Täter eine gewisse Intelligenz. So wie in Ihrem Fall, denn es ist ihm offensichtlich bisher gelungen, keine relevanten Spuren zu hinterlassen.«

»Also«, folgerte Michael, »ein Idiot kann da nicht am Werk gewesen sein.«

Barbara Hansen belächelte seine Ausdrucksweise und fuhr fort. »Der Täter benutzte jedes Mal ein Messer, zumindest bei den beiden letzten Morden. Eine solche Waffe ermöglicht den direkten Kontakt mit dem Opfer. Und durch das Einritzen des Hakens in die Brust beweist sich der Mörder eine absolute Überlegenheit über die Frauen.«

»Aber wie passt der erste Mord da rein? Da war kein Messer im Spiel.«

»Wenn man davon ausgeht, dass es sich um denselben Mörder handelt, würde ich sagen, dass er sich von Mord zu Mord steigert, seine Methode verbessert. Der erste Mord war dann sozusagen ein Übungsstück.«

»Meinen Sie, die Aggression nimmt immer mehr zu?«, fragte Martin nun.

»Ja, ganz sicher. Wobei das Morden mit der Frage zu tun hat, welche Gelegenheiten sich dem Täter dafür anbieten. Die Morde scheinen gut geplant zu sein, wenn keine Spuren zu finden sind. Also sucht er sein Opfer nicht aus und bringt es sofort um. Er sucht aus und plant dann. Und hat er erst einmal den Entschluss gefasst, kommt er nicht mehr davon los, bis die Auserwählte tot ist. Abgehakt, im wahrsten Sinn des Wortes.«

»Abgehakt!«, wiederholte Martin langsam.

»Ja, das soll der Haken sicher bedeuten«, bekräftigte Frau Hansen. »Wie gesagt, er stellt so seine Überlegenheit zur Schau.«

»Dann ist der Täter eher ein selbstsicherer, knallharter Typ«, mutmaßte Paul.

»Im Gegenteil. Meistens sind diese Menschen wehleidig. Deswegen wenden sie auch opferorientierte Neutralisierungstechniken zur Rechtfertigung an.« Sie machte eine kleine Pause und genoss die erwartungsvoll auf sie gerichteten Blicke, ehe sie erklärte: »Das heißt, dass der Täter die eigene Verantwortung für die Tat ablehnt. Er macht sich nicht selbst, sondern andere für sein Handeln verantwortlich. Er redet sich ein, Vergeltung zu üben, Rächer zu sein. Das Opfer trägt die Schuld, es verdient sein Schicksal.«

»Was ist mit der Tatsache, dass ein Mord in der Regel ein Beziehungsdelikt ist und die Tatbeteiligten sich schon in siebzig bis achtzig Prozent der Fälle vor der Tat kannten?«, fragte Dieter.

»Ich glaube, auch hier handelt es sich in irgendeiner Weise um ein Beziehungsdelikt. Aber ich glaube nicht, dass die Opfer den Mörder kannten.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Die Akten sprechen für sich. Es gibt nicht die geringste Verbindung zwischen den Opfern. Zumindest bisher nicht. Eine Verbindung besteht sicher nur darin, dass er die Opfer nach einem bestimmten Schema aussucht. Irgendetwas haben sie alle gemeinsam.«

»Wenn wir wüssten, was das ist, wären wir einen Schritt weiter.«

»Ich bin sicher, Sie finden das noch heraus«, sagte sie in aufmunterndem Ton. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

Martin blickte in die Runde, bekam jedoch nur Kopfschütteln zur Antwort.

»Was haben Sie jetzt vor?«, wollte die Psychologin wissen. »Werden Sie diese Tatverdächtige mit Alibi observieren?«

»Nein, aber wir behalten sie im Auge. Zunächst versuchen wir, den Freund der Toten ausfindig zu machen.«

»Der einzige Anhaltspunkt, was?« In ihren braunen Augen war Mitleid zu erkennen. »Na, ich hoffe, Sie haben Glück.« Sie erhob sich und drückte Martin lächelnd die Hand. »Wenn Sie doch noch Fragen haben, rufen Sie mich an.« Sie nickte den anderen zu. »Auf Wiedersehen, die Herren.«

Martin schloss die Tür hinter ihr und wandte sich an seine Kollegen. »Na, seid ihr jetzt schlauer?«

»Schlauer schon«, meinte Paul, »aber ob uns das weiterhilft, weiß ich noch nicht so genau.«

»Interessant, was Frau Hansen erzählt hat und absolut einleuchtend.« Dieter nickte vor sich hin.

»Was wissen wir jetzt?« Michael machte sich an eine Zusammenfassung. »Wir haben es mit einem cleveren Killer zu tun, der eigentlich ein Weichei ist. Deshalb braucht er ab und zu auch eine Pause, in der er die Auswahl des nächsten Opfers nach seinen Kriterien trifft und den unausweichlichen nächsten Mord plant, denn morden wird er weiterhin. Schließlich ist er der abhakende Rächer von Wiesbaden.« Er blickte die Kollegen an und fügte trocken hinzu: »So werden wir auch nicht arbeitslos.«

»Danke für die Aufmunterung«, sagte Martin und griff zum Telefon, um zu erfahren, ob es schon Neuigkeiten bei der Durchsicht der Videos gab.

Das war leider nicht der Fall. Zudem bat Frau Festner nach zwei Stunden um eine Pause, da sie Nachtschicht gehabt hatte. So fuhr sie erst drei Stunden später mit der Durchsicht fort und entdeckte bis zum Abend niemanden, der Ulf ähnlich sah.

Abgehakt
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