18

Messer

 

 

Die Frau lief nervös in ihrem Wohnzimmer hin und her. Es war anders gelaufen, als sie sich das gedacht hatte. Im Radio war es heute Morgen auch schon gesendet worden. Dieser Kommissar hatte doch tatsächlich einen neuen Tatverdächtigen verhaftet. Sie wusste, es war Nils Breitner. Warum war der Idiot in der Mordnacht auch noch mal zurückgekommen? Jetzt hatte er kein Alibi, und seine Ehe war wohl auch verloren. Es sei denn, sie würde etwas unternehmen und zwar schnell.

 

Eva Klein trat auf die Straße vor der Judoschule und sah auf ihre Uhr. Schon fünf nach elf. Sie hatte in aller Ruhe geduscht und ihren Schreibkram erledigt. Jetzt war sie für heute die Letzte und schloss die Haupttür ab. Endlich Feierabend. Auf dem Weg zu ihrem Wagen lächelte sie vor sich hin. Fast wäre das mit den Bullen in die Hose gegangen. Wie gut, dass sie Freunde wie Christian hatte. Sie fühlte sich unverwundbar.

Im dem Augenblick, in dem sie sich auf den Fahrersitz ihres Autos fallenließ, wurde auf der anderen Seite die Tür aufgerissen, und eine Frau setzte sich mit vorgehaltener Pistole neben sie.

»Nimm die Flossen hoch und komm nicht auf die Idee, deine Judokünste an mir auszuprobieren. Ich habe keine Hemmungen, dich abzuknallen.«

Eva nahm verdattert die Hände nach oben und blickte die Frau mit den schwarzen Haaren an. »Ich kenn dich doch«, sagte sie, während sie die Fremde im Halbdunkel musterte. Nur eine entfernt stehende Laterne warf ein wenig Licht ins Wageninnere.

»Natürlich kennst du mich. Und jetzt wirst du mich noch viel besser kennenlernen. Augen zu!«, befahl sie. »Du sollst die Augen zu machen«, schrie sie Eva an, als die nicht sofort gehorchte, und drückte ihr den Lauf der Pistole an die Schläfe.

»Warum?«, schrie Eva zurück. »Darf ich die Kugel nicht kommen sehen?«

Ohne Vorwarnung schlug die Frau ihr mit der Handkante gegen die Gurgel. Eva ließ die Arme fallen und griff sich an den Hals. Sie japste mit weit aufgerissenen Augen nach Luft. Die Frau ließ die Pistole achtlos fallen und holte ein Paar Handschellen aus der Jackentasche. Schnell griff sie nach Evas Händen und hatte leichtes Spiel, sie ans Lenkrad zu fesseln.

»Du hast mit Drogen gedealt. Das war nicht gut.« Die Frau sprach ganz ruhig. Eva sah zu ihr hinüber und blickte in kalte Augen, die ihr sagten, dass das hier noch nicht das Ende war. Ganz allmählich bekam sie wieder etwas besser Luft, und ihr war klar, dass sie sich wehren musste. Jetzt sofort. Blitzschnell versuchte sie ihre Beine zum Einsatz zu bringen. Doch die Frau hob sofort die Hand und schlug ihr erneut gegen die Kehle. Schmerzverzerrt krümmte sich Eva nach vorne und glaubte zu ersticken.

»Versuch’s erst gar nicht!«, flüsterte die Frau nah an ihrem Ohr und zog Evas Kopf brutal zurück. Erneut griff sie in ihre Tasche, zog einen Draht hervor und legte ihn ihrem Opfer um den Hals. Während sie ihn an der Nackenstütze befestigte, fühlte Eva, wie ihr der Draht in die Haut schnitt. Sie rang nach Luft. Würde die Frau sie erwürgen? Eva stöhnte, während Tränen der Wut und des Schmerzes aus ihren Augen quollen.

»Du hast es gleich geschafft«, sagte die Frau, die nun ein glänzendes Messer hervorholte.

Eva versuchte sich zu bewegen, wodurch der Draht noch tiefer ins Fleisch schnitt. Sie achtete nicht darauf, sondern zog erneut die Beine unter dem Lenkrad hervor, um sich irgendwie zu verteidigen. Im selben Augenblick stieß ihr die Frau das Messer tief in die Oberschenkel. Erst in den rechten, dann in den linken. Ein hysterischer Schmerzensschrei entrang sich leise Evas verletzter Kehle.

»Das hättest du dir ersparen können«, hörte sie die Frau sagen, während sie spürte wie Blut an ihren Beinen hinablief. »Aber keine Angst, du wirst nicht weiter leiden. Für das, was du getan hast, wirst du auf wunderbare Weise bestraft.« Sie ritzte ihr das Sweatshirt von oben nach unten auf und legte den Stoff sorgfältig zur Seite. »Du hast viele Menschen dazu gebracht, Drogen zu nehmen, und hast selbst nie das Beste probiert. Das bisschen Koks ist ja nicht der Rede wert.«

Sie setzte ihr das Messer unterhalb der Brust auf. Eva stöhnte, so laut es ihre Stimme zuließ. Mit angsterfüllten, weit aufgerissenen Augen blickte sie die Frau an und wartete darauf, dass die Klinge ihr zwischen die Rippen drang. Dann fühlte sie, wie ihr das Messer die Haut aufschlitzte. Augenblicke später realisierte sie, dass die Frau sie nicht getötet hatte. Sie hatte ihr einen großen Schnitt zugefügt, aus dem nun warmes Blut quoll. Röchelnd fühlte Eva eine Welle der Übelkeit in sich aufsteigen.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass sich die Frau ihren Gürtel aus der Hose zog und ihr um den rechten Oberarm schnallte. Er wurde eng zusammengezogen, und Eva wusste, was das hieß. Noch immer röchelnd versuchte sie Nein zu sagen. Es gelang nur in ihrem Kopf. Ihre Lippen brachten nur ein undeutliches Winseln hervor. Wieder griff die Frau in ihre Tasche und zog etwas hervor, das sie so hielt, dass Eva es sehen konnte. Eine Spritze. Diese Frau würde sie ermorden.

»Deine Schmerzen werden gleich vorüber sein. Ich habe hier ein bisschen Dope. Oder sagt ihr eher ›H‹ oder ›Schnee‹ in der Szene? Das Beste vom Besten jedenfalls.« Die Frau zog die Schutzkappe von der Kanüle, schob sie in die inzwischen gut gestaute Vene und drückte die Flüssigkeit hinein, während sie vollkommen gleichgültig in Evas Gesicht starrte. »Dein erster und letzter Schuss, inklusive Flash. Wenn das kein schöner Tod ist. Genieß ihn!«

Innerhalb von Sekunden war Eva frei von allen Schmerzen. Ein unglaubliches Glücksgefühl erfasste sie für einen kurzen Moment, ehe sie bewusstlos wurde und ihre Atmung versagte.

Die Frau stieg aus, schlug die Autotür zu und verschwand im Dunkel der Nacht.

 

Stundenlang war sie durch die Straßen gelaufen, hatte immer wieder darüber nachgedacht, ob sie das Richtige getan hatte. In der Regel blieb ihr vor ihren nächtlichen Streifzügen, in denen sie für Gerechtigkeit sorgte, genügend Zeit für die Planung. Aber diesmal musste alles so schnell gehen. Mit jedem Schritt überlegte sie, ob sie Spuren hinterlassen hatte, ob man einen Zusammenhang zwischen ihr und Eva finden könnte. Zum ersten Mal spürte sie Unsicherheit und nicht wie sonst Erleichterung nach einer Tat.

Zurück in ihrer Wohnung hatte sie es geschafft, sich selbst zu beruhigen, sich einzureden, dass alles in perfekter Ordnung war. Erst jetzt begann sie Gefallen an dem zu finden, was sie getan hatte. Sie schaltete ihren Computer an und rief eine Datei auf. Auf dem Bildschirm erschien ein Foto von Eva Klein. Die Frau lächelte, druckte das Foto aus und hängte es in die vierte Reihe zu all den anderen Frauen. Auch auf Evas Gesicht zeichnete die Frau genüsslich einen roten Haken. Abgehakt!

Abgehakt
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