36

Auch für Anne begann der Montagmorgen früher als gewöhnlich. Etwas Kaltes berührte ihren Arm, der über die Bettkante hing. Sie zog ihn zurück unter die Decke und drehte sich um. Aber schon im nächsten Augenblick wurde sie von der Seite angestupst.
»Noch nicht!«, knurrte sie mit einem schlaftrunkenen Blick zur Uhr. Daraufhin fuhr ihr eine feuchte, kalte Hundeschnauze über die Wange, eine lange Zunge folgte.
»Schon gut. Schon gut. Hör auf!« Jetzt war Anne wach.
Nach einem schnellen Frühstück ging sie mit Sunny hinaus, um einen ausgiebigen Spaziergang zu machen. Dann nahm sie ihn mit ins Büro, wo er ihr nicht von der Seite wich. Herr Bendix war von ihrer Begleitung alles andere als begeistert.
»Er stört doch niemanden«, versuchte Anne einzuwenden, doch ihr Chef blieb hart und verlangte, dass der Hund aus dem Büro verschwand. So fuhr sie in der Mittagspause nach ein paar Schritten im Park nach Hause und ließ Sunny bis zum Abend dort allein. Sie wusste, dass das für den Hund kein Problem sein würde. Bei Kelly war er oft stundenlang allein zu Hause, und sie selbst hatte ihn sonst auch in der Wohnung gelassen, wenn er bei ihr war. Aber zurzeit hätte sie ihn gern um sich gehabt. Na gut, dann eben nicht. Wenigstens würde sie heute Abend nicht alleine sein.
Sie fuhr zurück ins Büro und erledigte alles, was sie sich für den Nachmittag vorgenommen hatte. Zufrieden machte sie um sieben Uhr Feierabend, besorgte auf dem Weg noch einen Kauknochen für Sunny und freute sich schon auf seine stürmische Begrüßung.
»Sunny!«, rief sie, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte. Kein Laut. Sie stutzte. Selbst wenn der Hund geschlafen hätte, käme er jetzt angerannt. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was es war, sah sie in dem Augenblick, als sie die Tür hinter sich schloss und das Licht im Flur anknipste. Sunny lag auf dem Fußboden und rührte sich nicht. Aus seinem Maul quoll weißer, schleimartiger Schaum. Er hatte die Augen weit offen und bot ein schreckliches Bild.
»Nein!«, rief Anne und ließ sich sofort neben dem Hund nieder. Sie nahm seinen Hals in die Hände und legte ihr Ohr auf seinen Brustkorb, auf der Suche nach einem Lebenszeichen. »Sunny! Nein!« Sie zog den Körper des Tieres zu sich und schüttelte ihn. Als sie sah, wie sein Kopf leblos hin und her schaukelte, schossen ihr die Tränen in die Augen. Immer wieder rief sie: »Nein! Nein!«, bis ihr Rufen nur noch ein Flüstern war. Sie bettete den Kopf des Hundes in ihren Schoß und streichelte ihn. Ihre Tränen tropften unaufhaltsam auf Sunnys Fell. »Wer hat das getan?«, schluchzte sie. »Wer?«
Im nächsten Moment schrillte das Telefon. Erschrocken richtete sie sich auf. Anne legte Sunnys Kopf vorsichtig auf den Boden, wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab und ging ins Wohnzimmer. Langsam nahm sie den Hörer ans Ohr.
»Na, Frau Ingenieurin«, sagte eine deutlich verstellte, metallisch klingende Stimme. »Ich wollte mal hören, ob er schon tot ist?« Anne lief es eiskalt den Rücken herunter.
»Du Schwein!« Sie sagte es fast flüsternd, und Tränen der Wut liefen ihr die Wangen hinunter.
»Nein!« Die Person sprach ganz ruhig. »Da verwechselst du was. Das Schwein bist du. Das weißt du ganz genau.«
Anne brachte kein Wort über die Lippen, lauschte nur der kalten Stimme.
»Hat es dir die Sprache verschlagen? Ich weiß schon, du fühlst dich schuldig. Du hast auch allen Grund dazu. Ich hatte dir doch geschrieben, dass du die Briefe niemandem zeigen sollst. Und was tust du? Du gehst zur Polizei. Ich habe das Gefühl, du nimmst mich nicht ernst, und das macht mich ganz schön böse.« Die Stimme hörte sich an, als würde sie mit einem begriffsstutzigen Kind sprechen. »Ich hoffe, du hast jetzt endlich verstanden. Falls du eine Anzeige gemacht hast, rate ich dir, sie zurückzuziehen.«
»Du Mistkerl!«, schrie Anne in den Hörer.
»Beschimpfungen regen meine Fantasie ungemein an.« Anne hörte ein eiskaltes Lachen. »Ich weiß auch schon, was ich als nächstes mit dir mache, wenn du nicht endlich lieb bist. Und glaub mir, es wird dir nicht gefallen. Schlaf gut!«
Ehe Anne noch etwas sagen konnte, hörte sie ein Klicken in der Leitung. Sofort ließ sie den Hörer fallen, als klebte der Ekel, den sie empfand, noch daran. Dabei fiel ihr Blick auf einen Zettel neben dem Telefon. »Carsten Westphal«, las sie und starrte die Zahlen durch einen Tränenschleier an. Spontan tippte sie seine Nummer, während sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten und ein Schluchzen zu unterdrücken.
»Westphal!«, meldete er sich schon nach dem zweiten Läuten.
»Hier ist Anne Degener. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Ich bin –«
»Natürlich weiß ich, wer Sie sind«, unterbrach er sie. »Wie könnte ich Sie vergessen?«
Anne hörte sein Lachen, und erneut schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie musste tief Luft holen, um weitersprechen zu können. »Sie sagten, ich könnte anrufen.«
Er hörte die Aufregung in ihrer Stimme und wusste, dass etwas passiert war. »Was ist los?«, fragte er ohne Umschweife.
»Der Hund meiner Freundin. Er liegt hier. Er ist tot.« Anne sprach stockend, immer wieder unterbrochen von Schluchzern.
»Sind Sie allein?«
»Ja.«
»Beruhigen Sie sich. Ich komme zu Ihnen. Wo wohnen Sie?«
Erneut holte sie tief Luft. »Eichenwaldstraße 3.«
»Bin gleich da.«
Während Carsten zum Wagen lief ging Anne zurück in den Flur. Beim Anblick des Hundes krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie lehnte sich gegen die Wand und rutschte an ihr herunter, bis sie auf dem Boden saß. Sie zog ihre Knie eng an den Körper und starrte das tote Tier an. Sie rührte sich nicht, bis es an der Haustür klingelte. Über die Sprechanlage hörte sie, dass es Carsten war. Sie öffnete und blickte in sein aufmerksames Gesicht.
»Ich wusste nicht, wen ich –«
»Ist schon gut. Es war keine Floskel, als ich sagte, dass Sie anrufen können.«
Er schob sie zurück in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Ihrem Blick folgend, sah er den Hund liegen. Er ging darauf zu und befühlte das Tier. Dann schaute er zu Anne hinüber, die wie ein Häufchen Elend immer noch da stand, wo er sie hingeschoben hatte. Langsam ging er auf sie zu und fasste sie bei den Schultern.
»Können Sie mir sagen, was passiert ist?« Seine Stimme war warm und einfühlsam.
»Ich bin nach Hause gekommen, und da lag er schon tot hier, mit all dem Schaum vorm Maul und …« Wieder flossen ihr Tränen über die Wangen.
»Ist ja gut!« Er nahm sie in die Arme und hielt sie eine ganze Weile fest, bis er merkte, dass sie sich langsam beruhigte. »Kommen Sie«, forderte er sie auf und führte sie ins Wohnzimmer. Dort drückte er sie in den Sessel. Suchend blickte er sich um und fand eine Flasche Whisky und ein Glas auf dem Schrank. Er schenkte ein. »Hier, trinken Sie!«
Sie tat, was er ihr sagte. Die Wärme, die der Alkohol in ihrem Bauch verbreitete, und Carstens Anwesenheit beruhigten sie zusehends. Er nahm neben ihr Platz, beugte sich zu ihr vor und nahm ihre Hand in die Seine. Liebevoll blickte er sie an und wartete, bis sie bereit war zu sprechen.
»Ich habe Sunny zur Pflege. Er ist der Hund meiner besten Freundin. Sie ist gerade im Urlaub in Südafrika. Und ich war so froh, ihn um mich zu haben. Ich habe mich etwas sicherer gefühlt mit ihm.«
Verständnisvoll nickte er.
»War der Hund heute allein in der Wohnung?«
»Ja, seit heute Mittag. Mein Chef wollte nicht, dass ich ihn ins Büro mitbringe.«
»Haben Sie schon nachgesehen, ob er irgendetwas angefressen hat?«
»Angefressen?«, wiederholte sie verwirrt.
»Es könnte doch sein, dass er irgendetwas gefressen hat, was hier herumstand. Ich bin kein Fachmann, aber es sieht nach einer Vergiftung aus. Vielleicht eine Chemikalie?«
»Der Hund ist absichtlich vergiftet worden!«, sagte sie fest.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich wurde eben angerufen. Jemand hat sich erkundigt, ob der Hund schon tot sei.«
»Was?«
Anne gab den genauen Wortlaut des Telefonats wieder.
»Kam Ihnen die Stimme bekannt vor?« Sein Ton wurde plötzlich dienstlich.
»Nein. Sie war total verzerrt.«
»Haben Sie inzwischen ihr Schloss ausgetauscht?«
Sie nickte.
»Gut!« Sie sah, wie er überlegte. »Hören Sie, ich fände es nicht sehr gut, wenn Sie heute Nacht allein sind. Haben Sie jemanden, zu dem Sie gehen könnten?«
»Nein.«
»Wenn Sie wollen, können Sie bei mir übernachten. Ich habe ein Sofa, das ich Ihnen anbieten kann.«
»Danke, das ist lieb gemeint, aber ich möchte lieber hierbleiben.«
»Sind Sie sicher?« Forschend sah er ihr ins Gesicht.
Nein, wollte sie sagen, aber sie musste sich doch zusammenreißen. Selbst wenn sie heute Nacht nicht allein wäre, die folgenden Nächte wäre sie es. Da würde sie wohl auch diese eine Nacht überstehen. Sie nickte, vermied es aber ihn anzusehen.
»Sie wollen tapfer sein, nicht wahr?« Er suchte den Augenkontakt. »Das ist zwar ehrenwert, aber heute müssen Sie das nicht.«
»Aber ich werde in allen zukünftigen Nächten auch allein sein. Was macht da eine einzelne Nacht aus?«
»Es ist die Nacht nach einem schrecklichen Erlebnis und eine, in der Sie sicher mehr Angst haben als sonst.«
»Ja«, sagte sie leise. »Ich habe Angst. Würden Sie … ich meine, könnten Sie …?« Sie konnte ihn doch nicht fragen, ob er heute Nacht bei ihr in der Wohnung bliebe. Schließlich kannte sie ihn eigentlich gar nicht. »Vergessen Sie es.«
»Was wollten Sie fragen?«
»Nichts! Ist schon gut. Ich möchte hierbleiben. Ich komme schon klar.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. Sie versuchte so stark zu sein. »Würde es Ihnen helfen, wenn ich bei Ihnen bleibe?«
Die Antwort war in ihren Augen abzulesen, die ihn erleichtert ansahen.
»Das ist kein Problem«, versicherte er. »Ich tausche gern mal mein Bett gegen ein Sofa. Bringt ein bisschen Abwechslung in mein Nachtleben.« Er lächelte sie verschmitzt an.
»Ich weiß wirklich nicht, ob ich das annehmen kann. Ich will niemandem zur Last fallen.«
»Hören Sie auf. Sie fallen mir nicht zur Last. Im Gegenteil. Ich tue das gern für Sie.« Er meinte es ehrlich, das konnte man seiner Stimme anhören.
»Danke! Ich hole Ihnen Kissen und Decke.« Als sie aufstand, fiel ihr Sunny wieder ein. »Was machen wir mit dem Hund?«
»Ich kümmere mich darum. Haben Sie vielleicht eine alte Decke?«
»Im Wagen liegt seine Hundedecke.«
»Gut, geben Sie mir die Schlüssel. Ich hol sie und bringe ihn dann in mein Auto.«
»Was wollen Sie mit ihm machen?«
»Wir werden sehen. Gehen Sie mir schon mal Bettzeug holen.« Er wollte sie nicht im Flur haben, damit sie nicht sehen musste, wie er den Hund in die Decke wickelte und nach draußen brachte.
Als sie mit Kissen und Decke aus dem Schlafzimmer kam, sah sie, dass Carsten sich ihre Tür genauer betrachtete.
»Der Täter hatte es ziemlich leicht«, erklärte er, als er sie bemerkte. »Durch diesen Briefschlitz konnte er ohne Probleme etwas zu dem Hund hineinschieben.«
»Der Briefschlitz war schon immer in der Tür, obwohl er eigentlich gar keinen Nutzen hat. Unsere Briefkästen hängen ja im Treppenhaus.«
»Der Täter hat ihn sich jetzt zunutze gemacht.«
Dass eine solche Tür auch nicht besonders einbruchsicher war, sagte er ihr jetzt nicht, sondern nahm ihr die Bettwäsche ab und ging voraus ins Wohnzimmer. Während er alles auf dem Sofa ablegte, starrte Anne ins Leere.
»Was habe ich nur angerichtet?«, sagte sie. »Wie soll ich das bloß Kelly sagen.«
»Versuchen Sie, sich darüber jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen.«
»Ich kann ihr doch nie wieder unter die Augen treten.«
»Sie sagten doch, dass sie Ihre beste Freundin ist. Sie wird Ihnen keinen Vorwurf machen.«
»Aber ich habe ihren Hund umgebracht.«
»Nein. Das haben Sie nicht. Das war dieser Irre.«
»Aber indirekt schon. Hätte ich nicht mit ihr gewettet, hätte ich dieses ganze Chaos nicht ausgelöst. Wie kann man nur so dumm sein? Und hätte ich mich gegen meinen Chef behauptet und Sunny im Büro behalten, würde er jetzt noch leben.«
Carsten kam auf sie zu, fasste sie bei den Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Hören Sie auf, sich diese selbstzerstörerischen Vorwürfe zu machen. Dieser Verrückte ist offensichtlich sehr zielgesteuert und ehrgeizig. Er hätte einen Weg gefunden, wenn nicht heute, dann morgen oder an einem anderen Tag. Sie haben keine Schuld! Das wird auch Ihre Freundin so sehen.«
Anne schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht zur Polizei gehen sollen, dann würde er noch leben. Das war sowieso eine blödsinnige Idee. Es wird doch sowieso erst etwas unternommen, wenn mir was passiert ist. Ich hätte das wissen müssen.« Anne war aufgebracht und konnte Carsten nicht in die Augen sehen.
»He!« Er hob ihr Kinn mit seinem Daumen an, dass sie ihn ansehen musste. »Beruhige dich. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Alles wird gut.« Sein beruhigender Ton verfehlte seine Wirkung nicht, und sie ließ ihn ihren Kopf an seine Schulter drücken. Ewig hätte sie so stehen können mit dem Gefühl, dass jemand die Last von ihren Schultern nahm und die Angst aus ihrem Kopf vertrieb.
Nach einer Weile schob er sie sanft von sich. »Sie sollten jetzt versuchen zu schlafen.«
»Ja!« Sie lächelte ihn schwach an. »Aber Sie brauchen jetzt nicht wieder ›Sie‹ zu sagen.«
Erst jetzt merkte er, dass er sie eben geduzt hatte. Er nickte. »Gut. Und ich bin Carsten.«
»Ich zeige dir noch den Rest der Wohnung, damit du dich heute Nacht zurechtfindest.«
Er folgte ihr und bestaunte jeden Raum. »Deine Wohnung ist sehr geschmackvoll eingerichtet. Ich habe noch nie eine Wohnung gesehen, in der jeder Raum völlig anders gestaltet ist. Das gefällt mir gut. Du hast Fantasie.«
Bevor sie sich gute Nacht sagten, stellte Anne ihm noch eine Flasche Wasser neben das Sofa.
Erst gegen Morgen war sie eingeschlafen und hörte nicht, wie Carsten aufstand und Frühstück machte. Als sie endlich erwachte, erschrak sie und setzte sich ruckartig im Bett auf. Kaffeeduft zog durch die Wohnung, und sie hörte jemanden sprechen. Dann erinnerte sie sich. Carsten war da. Er schien zu telefonieren. Anne sprang aus dem Bett und warf sich ihren Bademantel über. Die Stimme verstummte, und im Flur kam er ihr entgegen.
»Guten Morgen! Geht’s ein bisschen besser?«
Sie nickte. »Ja, ich denke schon.«
»Ich habe Kaffee gekocht.«
»Das habe ich gerochen, und unter anderen Umständen wäre das eine mehr als angenehme Art aufzuwachen.«